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# taz.de -- Musikfilmfestival im Stream: Jedes Geräusch ist ein Wunder
> Statt in der westlichen Welt gerade angesagter Popmusik gibt es beim
> Norient-Filmfestival Dokumentationen über Sound und Musik aus der ganzen
> Welt.
Bild: Hört er den Waldgeist? Szene aus „Curupira, Creature of the woods“
Wer geplant hatte – in einer gefühlt lange zurückliegenden Zeit vor Corona,
an die man sich immer weniger erinnern kann –, zur zehnten Ausgabe des
Norient-Filmfestivals in die Schweiz zu reisen, wird nun wahrscheinlich
betrübt sein. Auch die Schweiz hangelt sich gerade von Lockdown zu
Lockdown, die Kinos sind davon nicht ausgenommen, weshalb beschlossen
wurde, aus der Veranstaltung ein Streamingfestival zu machen.
In den Zeiträumen, in denen sie vom 27. bis zum 31. Januar und vom 19. bis
zum 21. Februar in Bern und Lausanne hätte stattfinden sollen, kann man
sich die Filme nun on Demand (VoD) ansehen.
Wer sich als Berliner keinen Kurztrip in die Schweiz in den Kalender
eingetragen hatte, kann sich indes freuen, wider Erwarten eine
außerordentlich kompetent kuratierte Auswahl an Musikfilmen aus aller Welt
dank Corona für zu Hause auf der Couch serviert zu bekommen. Zumindest die
meisten dieser Filme. Ein paar wenige werden in Deutschland nicht verfügbar
sein.
Darunter leider auch die Doku „Other Music“ über den gleichnamigen New
Yorker Plattenladen, den es inzwischen nicht mehr gibt. Bands wie Animal
Collective oder The National waren hier Stammgäste und erzählen davon, dass
sie ohne den auf randständige Musik spezialisierten Laden nie die geworden
wären, die sie heute sind.
## Musik in grenzenloser Vielfalt
Und auch die ziemlich gelungene Dokumentation „Making Waves“ über Sound und
Musik im Film wird man hierzulande nicht ansehen können. Dafür dutzende
andere besondere, außergewöhnliche, kunstfertige, überraschende Filme, die
irgendetwas mit Klang und Musik zu tun haben.
Das Filmfestival wird von der in der Schweiz und Berlin ansässigen
Online-Plattform Norient veranstaltet. Wer diese nicht kennt: Hier werden
Texte, Bilder, Videos und Filme gesammelt, die Musik in möglichst
grenzenloser Vielfalt dokumentieren. Hip Hop im Senegal, Subkulturelles aus
Indonesien, solche Themen werden hier lieber aufgegriffen, als ein weiteres
Mal in der westlichen Welt gerade angesagte Popmusik zu reflektieren.
Obskur, seltsam, in solchen Kategorien wird hier auch nicht gedacht. Jedes
Geräusch kann wunderbare Musik sein, da ist man ganz John Cage
verpflichtet.
Und so wie die Plattform ist auch ihr nun streambares Filmfestival. Die
Dokus kommen aus dem Libanon, Marokko, Ghana, Portugal, schlichtweg von
überall her. Punk, Fado, Rembetiko, Clubmusik aus Baltimore, alle nur
erdenklichen Stile, Genres und ethnische Volksmusiken werden verhandelt.
Allein das Programm auf der Homepage von Norient durchzuforsten und dabei
profunde Essays zu den jeweiligen Filmen zu lesen, bereitet großes
Vergnügen. Und dann heißt es vor allem: Sich überraschen lassen.
Etwa von Felix Blumes „Curupira, Creature of the woods“, einem
minimalistischen Kunstfilm, der eigentümlich fesselt. Man sieht Bewohner
eines Dorfes, mitten im brasilianischen Amazonas-Gebiet, wie sie
nacheinander den Geräuschen des Regenwaldes lauschen. Es zirpt und
raschelt, wie es in dieser wilden Natur üblich ist. Doch immer wieder
kommen eigentümliche, ständig anders klingende Laute hinzu. Und die
Hörenden sind sich einig: Das ist die Curupira, ein mythisches Wesen, das
hier sein Unwesen treibt.
Die Autochthonen haben auch genaue Vorstellungen von dem Gespenst des
Urwaldes. Beispielsweise locke es Männer zu sich, die dann nie wieder
auftauchen würden. Frauen würden wie Mätressen gehalten: „Blair Witch
Project“ im Regenwald. Dem Alkohol würde die Kreatur übrigens auch gerne
zusprechen, wenn sie an ihn herankommt. Mit Naturgeräuschen und
bewegungslosen Kameraaufnamen schafft es Blume, mit einfachsten Mitteln
eine spannende und auch unheimliche Geschichte zu erzählen.
## Mali nach dem Bürgerekrieg
Noch stärker in die Bereiche des Animismus geht es in „It Must Make Peace“
von Paul Chandler, einer Doku, die über mehrere Jahre hinweg in Mali
entstanden ist. Bereist werden die Dörfer und entlegenen Gebiete eines
Landes, das sich gerade erst von den Folgen des Bürgerkriegs und dem Kampf
gegen die Islamisten vor allem im Norden des Landes erholt hat. Man sieht
Rituale auf Dorfplätzen, bei denen sich die Einwohner als Tiere verkleiden
und bei ihren Kostümen einen erstaunlichen Aufwand betreiben.
Dazu gibt es Musikdarbietungen, die den Jägern helfen sollen, eine gute
Beute zu machen. Oder die Netze der Fischer zu füllen. Überall in Mali gibt
es Musik, auch E-Gitarren-Rock, auch Hip Hop. Und die Menschen erzählen
davon, dass die Islamisten ihnen die Musik und ihre Lebensweise verbieten
wollten. Aber dass sie sich dagegen wehrten. Sie wollten ihre Kultur
erhalten. Und doch ist sie bedroht. So trifft man auch auf einen Virtuosen
der Mandinka Bolon, einem bauchigen Instrument mit drei Saiten.
Der Musiker sagt, es sei das gefährlichste Instrument der Welt. Man könne
es nur spielen, wenn man sich vorher mit bestimmten Zauberkräutern
eingerieben habe, sonst würde man Gefahr laufen, durch den Fluch eines
Menschen getötet zu werden. Bei solchen Grundvoraussetzungen zum Musizieren
mag es zwar kein Wunder sein, aber trotzdem ist es traurig: Der
Mandinka-Bolon-Spieler sagt, er sei der Letzte seiner Art in ganz Mali.
24 Jan 2021
## AUTOREN
Andreas Hartmann
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