# taz.de -- VW in der Krise: Schlicht nicht wettbewerbsfähig | |
> Die Beschäftigten fürchten um ihre Jobs, weil das Management Kürzungen | |
> will. VW sollte zum Vorreiter der Verkehrswende werden, fordert ein | |
> Forscher. | |
Bild: Der VW-Standort Osnabrück Ende Oktober | |
Osnabrück/Berlin taz | Für den Lackierer am VW-Werk in Osnabrück ist es ein | |
abgekartetes Spiel. Er kennt das schon: Die Beschäftigten wollen mehr Geld, | |
die Bosse reagieren mit Druck. „Mit der Androhung, den Standort zu | |
schließen, sollen wir zum Gehaltsverzicht gedrängt werden“, sagt er und | |
steigt von seinem Roller, mit dem er auf den weitläufigen Firmenparkplatz | |
gefahren ist. Seinen Namen möchte er nicht nennen, aus Angst, nach 44 | |
Jahren in dem Werk auf einer Entlassungsliste zu landen. | |
Diese Furcht haben viele, die am Mittwoch in die Osnabrücker Fabrik von VW | |
strömen. [1][Im 200 Kilometer entfernten Wolfsburg beginnt zu dieser Zeit | |
eine weitere Verhandlungsrunde zwischen Betriebsrat und Konzernvorstand]. | |
Es geht um viel: Das Unternehmen will laut Betriebsrat in Deutschland | |
mindestens drei von zehn Werken schließen, zehntausende Stellen abbauen und | |
den Lohn pauschal um 10 Prozent kürzen. Betriebsrat und IG Metall haben | |
Widerstand gegen die herben Einschnitte angekündigt. Sie fordern 7 Prozent | |
mehr Lohn. Bis Anfang Dezember herrscht Friedenspflicht, dann könnte es zu | |
Streiks kommen. | |
Die Kürzungspläne sind eine Hiobsbotschaft für den Lackierer in Osnabrück. | |
Er ist mit dem Werk verbunden, schon sein Vater stand hier am Band, erzählt | |
er. Aktuell werden an dem Standort eine Cabrio-Variante des T-Roc und zwei | |
Porsche-Modelle gefertigt. Damit ist bald Schluss. Stand jetzt gibt es ab | |
Frühjahr 2026 keine weiteren Aufträge für das Werk. Die etwa 3.000 | |
Beschäftigten fürchten um ihre Zukunft. Die Stimmung beschreibt der | |
Lackierer mit einem Wort: „Scheiße. Was denn sonst.“ | |
Volkswagen, das ist in Deutschland mehr als nur ein Autobauer. VW ist für | |
viele das Symbol [2][des westdeutschen Wirtschaftswunders in den 1950er | |
Jahren], für den Aufstieg der Bundesrepublik zu einem führenden | |
Industriestaat. Jetzt ist der Konzern in einer tiefen Krise. Über Jahre hat | |
er das Geschäft mit E-Autos verschlafen, anders als die Konkurrenz hat VW | |
kein günstiges kleines Modell auf den Markt gebracht. Zu teuer und | |
technologisch nicht an der Spitze – der Konzern ist schlicht nicht | |
wettbewerbsfähig. | |
Finanzchef Arno Antlitz sagt, VW erwirtschafte nicht genug, um die | |
anstehenden Ausgaben zu stemmen. 5 Milliarden Euro an Investitionen hält er | |
für nötig. Das Geld soll vor allem durch Kürzungen bei den Beschäftigten | |
beschafft werden. Dabei hat der Konzern zwischen 2021 und 2023 mehr als 22 | |
Milliarden Euro an seine Aktionär*innen ausgeschüttet. Auch der | |
[3][Diesel-Skandal kostete viele Milliarden]. VW hatte Fahrzeuge | |
manipuliert, damit sie bei Prüfungen bessere Abgaswerte als im | |
Normalbetrieb angaben. | |
## Die Macht der Betriebsräte | |
In Deutschland arbeiten bei VW mehr als 120.000 Leute. Die Betriebsräte | |
haben mehr Macht als bei anderen Konzernen. Das hat historische Gründe: Als | |
die Nazis das Unternehmen gründeten, finanzierten sie es mit den Mitteln | |
aus beschlagnahmten Gewerkschaftsvermögen. 1960 wurde das VW-Gesetz | |
erlassen, mit dem der Autobauer privatisiert wurde und den | |
Arbeitsnehmervertreter:innen mehr Rechte zugesichert wurden. Die | |
Gewerkschaften verzichteten dafür auf eine Entschädigung. | |
Massenentlassungen gab es bei VW noch nie. Als in den 1990er Jahren ein | |
Stellenabbau zur Diskussion stand, führte VW die Viertagewoche ein, um das | |
zu verhindern. | |
Das Werk in Osnabrück gehörte damals noch nicht zum Konzern. VW übernahm | |
die Geschäfte hier 2009 vom traditionsreichen Autohersteller Karmann, der | |
sich vor allem mit der Fertigung von Cabriolets einen Namen gemacht hatte. | |
Karmann strauchelte, nachdem die Firma kaum noch Aufträge bekam. | |
„Wir hatten bei Karmann ja über Jahre Lohneinbußen von 20 Prozent“, sagt | |
ein ehemaliger Mitarbeiter, der damals von VW übernommen wurde. Auch er | |
will seinen Namen nicht nennen, ist an diesem Mittwoch nur zur | |
Verabschiedung eines ehemaligen Kollegen im Osnabrücker Werk zu Besuch. Die | |
jetzigen Diskussionen erinnern ihn an die Karmann-Pleite. Doch der Mann | |
sieht auch einen großen Unterschied: Die Abwärtsspirale bei Karmann habe | |
sich abgezeichnet, die jetzigen Ankündigungen bei VW kämen dagegen aus | |
heiterem Himmel. Zu Zeiten der Karmann-Pleite hätten sich die Mitarbeiter | |
auf mehrere Nullrunden bei den Tarifverhandlungen eingelassen, um den | |
Betrieb zu erhalten – ohne Erfolg. | |
Das Osnabrücker VW-Werk liegt bis heute in der Karmannstraße, der hohe | |
Fabrikschornstein, auf dem seit 15 Jahren das blau-weiße VW-Logo firmiert, | |
ist schon vom Hauptbahnhof zu sehen. Die Wolfsburger übernahmen nur einen | |
Bruchteil der früher mehr als 7.000 Mitarbeiter am Standort Osnabrück. | |
Die aktuelle Krise bei VW steht stellvertretend für die Lage im Land. Noch | |
sprudeln Gewinne, aber die Stimmung ist schlecht – auch wenn die deutsche | |
Wirtschaft im dritten Quartal überraschend gewachsen ist. Für das | |
Gesamtjahr erwarten Ökonomen eine Rezession, das Bruttoinlandsprodukt wird | |
wahrscheinlich das zweite Jahr in Folge schrumpfen. Die Bundesregierung hat | |
zwar mit ihrer „Wachstumsinitiative“ ein Maßnahmenbündel auf den Weg | |
gebracht, um die Konjunktur anzukurbeln.Aber bevor es in Kraft tritt, | |
überlagert der Streit in der Ampel um einzelne Punkte die mögliche Wirkung. | |
## Der Fluch der Profitrate | |
[4][Wirtschaft ist zu 80 Prozent eine Frage der Psychologie], sagt Marcel | |
Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Er | |
warnt vor zu viel Pessimismus. Doch viele Wirtschaftsvertreter:innen | |
kritisieren, dass es gerade die Ampelregierung sei, die für schlechte | |
Stimmung sorge. Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und | |
Finanzminister Christian Lindner verunsichern mit eigenen Gipfelgesprächen | |
und unabgestimmten Vorschlägen – statt gemeinsam eine Initiative zu | |
ergreifen. | |
Direkt gegenüber vom VW-Werk in Osnabrück liegt die Cabrio-Firma von Jörg | |
Dilge. Er ist 2009 nicht zu Volkswagen gewechselt, sondern hat sich | |
selbstständig gemacht. Sein Unternehmen, das heute etwa 20 | |
Mitarbeiter*innen beschäftigt, übernimmt manchmal auch | |
Sonderanfertigungen für VW. „Ich war fast dreißig Jahre da drüben, heute | |
kommen Kollegen zu mir, um ihr Leid zu klagen“, sagt Dilge. | |
Für ihn sind bei VW zwei Dinge falsch gelaufen. „Das ganze mit der | |
E-Mobilität ist völlig verpennt worden“, daran seien die Manager schuld. | |
Dass die Vorstände Dreck am Stecken haben und viel zu viel Geld bekommen, | |
sei ja klar. Doch Dilge sieht auch die hohen Kosten für Löhne und Energie | |
als einen Grund der Krise: „Die IG Metall sollte auch mal von ihrem hohen | |
Ross runterkommen“, sagt er und ist der Meinung, dass die Gewerkschaft für | |
den Erhalt des Standorts kämpfen und sich dafür mit Lohnforderungen | |
zurückhalten soll. Auch die Karmann-Pleite habe gezeigt, dass die Metaller | |
erst zu Lohneinbußen bereit waren, als das Insolvenzverfahren lief. Doch | |
dann sei es bereits zu spät gewesen. | |
Die VW-Manager rechnen damit, 2024 mit 9 Millionen Fahrzeugen 240.000 | |
weniger Autos auszuliefern als im Vorjahr. Der Absatz bricht ein, aber | |
gleichzeitig werden die Gewinnerwartungen hochgeschraubt. „Die Profitrate | |
von VW soll von 3,5 Prozent auf 6,5 Prozent steigen“, sagt der | |
Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer, Professor für sozial-ökologische | |
Transformationsforschung an der Universität Flensburg. Das Management | |
behaupte zwar, es wolle in E-Mobilität investieren. „Aber vor dem | |
Hintergrund des Dieselskandals sind die Behauptungen der VW-Manager mit | |
einer gewissen Skepsis zu betrachten“. Denn die Profitrate ist kurzfristig | |
bei teuren, großen Verbrennerautos höher als bei kleinen E-Autos. | |
Die aktuelle Krise bei VW könnte eine Chance für eine nachhaltige | |
Modernisierung sein, ist Schmelzer überzeugt. VW sei auch Symbol für ein | |
fossiles Geschäftsmodell: Produktion und Export zunehmend hochpreisiger und | |
großer Verbrennerautos. Dieses fossile Geschäftsmodell zu retten hält | |
Schmelzer vor dem Hintergrund der Klimakrise für falsch. „Es darf kein | |
Cent mehr in die fossile Industrie fließen“, sagt er. „Jetzt gibt es die | |
Chance, bei VW einen Kontrapunkt zu setzen.“ | |
## Niedersachsen ist Miteigentümer | |
Der Ökonom plädiert dafür, VW zu einem Verkehrswendeunternehmen umzubauen: | |
Produziert würden dann nur noch kleine E-Autos und Fahrzeuge für den | |
öffentlichen Transport wie Züge, Busse oder Straßenbahnen. Die | |
Arbeitsplätze würden erhalten bleiben. „Das wäre ein positives Beispiel f�… | |
die Modernisierung des Industriestandorts“, ist er überzeugt. „VW könnte | |
ein Leuchtturm werden.“ Vor allem könnten so ökologische und soziale | |
Aspekte verbunden werden. „Heute gibt es in der Bevölkerung viele | |
Ressentiments gegen die klimagerechte Transformation, weil ökologische | |
gegen soziale Fragen gestellt werden“, sagt er. | |
Das Land Niedersachsen als Miteigentümer sollte diesen Prozess anstoßen, | |
fordert der Transformationsforscher. Sollten sich die anderen Anteilseigner | |
wie die Porsche-Piëch-Familie dagegen sträuben, müsse die Politik | |
intervenieren. Eigentum sei auch dem Allgemeinwohl verpflichtet. | |
Der Lackierer, der seit 44 Jahren im Osnabrücker Werk arbeitet, glaubt fest | |
daran, dass es hier weitergeht. „Mein Vater arbeitete hier und mein Enkel | |
wird auch hier arbeiten“, sagt er und lacht. Er zeigt auf die große | |
Fabrikhalle, das Werksgelände und den Schornstein. „Was soll hier schon | |
passieren“, fragt er. Ob die Firma künftig VW oder anders heiße, sei ja | |
auch nicht so wichtig. | |
1 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Tarifverhandlungen-bei-Volkswagen/!6042798 | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-herrmann-deutschland-ein-wirtschaftsm… | |
[3] /Prozess-um-Dieselskandal/!5986232 | |
[4] https://www.ardaudiothek.de/episode/deutschlandfunk-aktuell/wirtschaftskris… | |
## AUTOREN | |
Cem-Odos Güler | |
Anja Krüger | |
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