| # taz.de -- Katarina Barley über Rechtspopulismus: „Es gibt keine Brandmauer… | |
| > Durch erstarkte Rechtspopulisten sei die Stimmung im EU-Parlament | |
| > aggressiver geworden, sagt Katarina Barley. Vor allem Frauenrechte hätten | |
| > es schwerer. | |
| Bild: Immer wieder im Fokus von rechten Attacken: Frauenrechte. Internationaler… | |
| taz: Frau Barley, im EU-Parlament sitzen mittlerweile drei | |
| rechtspopulistische und rechtsextreme Fraktionen. Wie hat sich die | |
| Atmosphäre verändert, seit Sie vor fünf Jahren dessen Vizepräsidentin | |
| geworden sind? | |
| Katarina Barley: In der vergangenen Legislatur gab es eine | |
| rechtspopulistische Fraktion und viele rechte Abgeordnete, die vereinzelt | |
| in den hinteren Reihen des Parlaments saßen oder gar nicht erst erschienen | |
| sind. Jetzt sitzen alle drei rechten Fraktionen in einem Block. Die | |
| Atmosphäre ist viel aggressiver geworden. Die Rechten kommen mit einer ganz | |
| neuen Haltung daher, einem völlig neuen Selbstbewusstsein. | |
| taz: Woran zeigt sich das? | |
| Barley: Sie bereiten sich vor, vernetzen sich und versuchen die | |
| parlamentarischen Debatten zu kapern. Sie feuern sich gegenseitig an und | |
| versuchen liberale oder progressive Inhalte lächerlich zu machen und zu | |
| sabotieren. Klar, vereinzelt sind sie verschiedener Meinung. Aber das | |
| Autoritäre, Antidemokratische, Antifeministische teilen alle. Und das | |
| bringen sie mit ganz anderer Wucht ein als zuvor. | |
| taz: Zum Beispiel? | |
| Barley: Wir bereiten im Parlament momentan die Anhörungen der neuen | |
| KommissarInnen vor. Gerade habe ich erfahren, dass im Ausschuss für | |
| Frauenrechte die Frage nach der Position zu sicheren | |
| Schwangerschaftsabbrüchen gestrichen wurde – allein schon die Frage. | |
| Beschlossen wurde das mit den Stimmen der drei rechten Fraktionen und der | |
| Konservativen, die zusammen eine Mehrheit haben. Es gibt hier keine | |
| Brandmauer. | |
| taz: Haben Sie mit dieser Entwicklung gerechnet? | |
| Barley: Natürlich hat es sich abgezeichnet. Wir als Parlament haben im Juni | |
| 2021 zum Beispiel den Matic-Report verabschiedet, der die Mitgliedstaaten | |
| der EU auffordert, den freien und sicheren Zugang zu | |
| Schwangerschaftsabbrüchen zu gewährleisten. Kurz vor der entscheidenden | |
| Abstimmung brach ein Tsunami aus rechtem Lobbying über uns herein. Wir | |
| Abgeordneten hatten tausende fast gleichlautende E-Mails gegen den Report | |
| in unseren Postfächern, Briefe, Anrufe, einen offensichtlich orchestrierten | |
| Shitstorm. Die Konservativen sind damals mehrheitlich eingeknickt. Den | |
| Report haben wir nur mit viel Überzeugungsarbeit und Frauensolidarität | |
| durchgebracht. Mit den aktuellen Kräfteverhältnissen würden wir das nicht | |
| mehr schaffen. Jetzt tritt ein, wovor wir die ganze Zeit gewarnt haben. | |
| taz: Ist das, was Sie beschreiben, der Rechtsruck – oder ist das konkret | |
| Antifeminismus? | |
| Barley: Es gibt keine rechtsextreme Bewegung, die nicht antifeministisch | |
| ist. AntifeministInnen vertreten die These, dass Frauen und Männer nicht | |
| gleichwertig sind, ganz zu schweigen von gleichberechtigt. Deren Weltbild | |
| zufolge führen biologische Unterschiede dazu, dass es auch berufliche und | |
| gesellschaftliche Unterschiede geben muss. Frauen wird das Recht verwehrt, | |
| selbst zu bestimmen, was für ein Leben sie führen möchten. Ähnlich machen | |
| sie auch gegen andere Personengruppen mobil. | |
| taz: Und das ist jetzt im EU-Parlament angekommen? | |
| Barley: Die Strukturen und Organisationen, die an einem | |
| geschlechterpolitischen Rollback arbeiten, existieren seit Jahrzehnten. Die | |
| katholische Kirche spielt eine große Rolle, viele konservative und rechte | |
| Parteien beziehen sich auf deren Inhalte. Schon in der vergangenen | |
| Legislatur haben die Rechten versucht, den Begriff „Gender“ aus jedem | |
| Dokument zu streichen, das sich mit dem Thema beschäftigt. Wörter | |
| verschwinden aus dem politischen Raum. Ich war mir der Dimension des | |
| Problems selbst lange nicht bewusst. Aber wir müssen uns darüber klar | |
| werden, was das für ein Gegner ist. | |
| taz: Von wem kamen denn die E-Mails, mit denen Ihre Postfächer geflutet | |
| wurden? | |
| Barley: Unter anderem von einer spanischen [1][Kampagnenorganisation namens | |
| Citizen Go]. Die haben Unmengen von E-Mail-Adressen, über die sie | |
| Petitionen lancieren. Deren Ansprache leuchtet erst mal ein, es geht zum | |
| Beispiel um Kinderschutz – und wer will den nicht? Aber das ist unglaublich | |
| manipulativ. Kinderschutz wird letztlich dazu genutzt, gegen Abtreibung | |
| mobil zu machen: Hey, wenn du für Kinder bist, dann unterstütze doch die | |
| Petition gegen den Matic-Report! So läuft das. | |
| taz: Woher kommen deren Gelder? | |
| Barley: Citizen Go tarnt sich als Graswurzelbewegung und sammelt | |
| Kleinspenden ein. Andere werden von russischen Oligarchen finanziert. Die | |
| geben generell viel Geld in antifeministische Organisationen und | |
| Strukturen. In den USA kommen viele Gelder von Evangelikalen. [2][Betsy | |
| DeVos, die Bildungsministerin unter Donald Trump], hat eine | |
| millionenschwere Stiftung, mit der sie den Rollback unterstützt. Zudem | |
| ziehen rechte Parteien derzeit einige Großspender an. | |
| taz: Was bedeutet das für klassische Volksparteien wie Ihre? | |
| Barley: Die Situation ist ja nicht ganz neu, die FDP etwa hatte schon immer | |
| mehr Spenden als wir. Aber durch die Rechtsextremen bekommt das eine ganz | |
| neue Schlagseite. Die wollen nicht innerhalb des demokratischen Spektrums | |
| Meinungen beeinflussen – die wollen raus aus dem Spektrum. Nun haben sie | |
| Ressourcen, Leute zu beschäftigen, die bestimmte Spins kreieren wie die | |
| Mobilisierung gegen „Genderwahn“ – oder eben gegen den Matic-Report. Das | |
| frappierendste Beispiel in dieser Hinsicht ist für mich der Begriff „woke“. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Barley: Mein wundervoller, liberaler, fast 90-jähriger Vater benutzt diesen | |
| Begriff und sagt, Wokeness finde er doch irgendwie komisch. Mein Vater ist | |
| Brite, er weiß, dass dieser Begriff ursprünglich positiv besetzt ist, dass | |
| er wach oder aufgeweckt bedeutet. Aber dieser Begriff wurde total verhetzt | |
| – bis ins kleinste Dorf, bis in jede Generation. Dafür bedarf es viel | |
| Aufwand. | |
| taz: Was heißt all das für Frauenrechte in dieser Legislatur? | |
| Barley: Für Sexualaufklärung wird es schwierig, für Abtreibung sowieso. Es | |
| kann sein, dass das Parlament offiziell frauenfeindliche Positionen | |
| einnimmt und in der Gesetzgebung verhandeln muss. Schlimmstenfalls wären | |
| Szenarien denkbar, in denen die EU aus der Istanbul-Konvention gegen | |
| [3][häusliche Gewalt gegen Frauen] aussteigt. Einzelne Länder haben das | |
| schon angekündigt. [4][Vor allem im Osten Europas] wird die Konvention als | |
| Instrument gegen die sogenannte traditionelle Familie aufgefasst, was | |
| völlig absurd ist. | |
| taz: Kann es wirklich so weit kommen, dass die EU aussteigt? | |
| Barley: Giorgia Meloni hat neulich gesagt, private Gewalt sei privat. Sie | |
| sehen, wo das hinführt. | |
| taz: Welche Rolle spielt [5][Ursula von der Leyen], die sich rechts offen | |
| zeigt? | |
| Barley: Sie allein ist nicht die entscheidende Figur. | |
| taz: Ihr Einfluss ist groß. Einen Passus zu Schwangerschaftsabbrüchen hat | |
| sie schon mal unter den Tisch fallen lassen, um die eigene Mehrheit zu | |
| sichern. | |
| Barley: Das stimmt. Dafür zahlt sie einen hohen Preis. Wer das versucht, | |
| macht das Problem nur größer, das haben wir im Fall von Ungarn gesehen. Von | |
| der Leyen hat versucht, Orbán einzufangen, indem sie ihm entgegenkam. Orbán | |
| hat das als Aufforderung verstanden, [6][noch unverschämtere Forderungen] | |
| zu stellen. Daraus hat sie gelernt. Trotzdem: Es geht vor allem um Rat und | |
| Parlament und die Frage, welche konkreten Gesetzesvorschläge kommen und wie | |
| die einzelnen Abgeordneten abstimmen. Die sind im EU-Parlament ja freier | |
| als etwa im deutschen. | |
| taz: Was können Sie tun? | |
| Barley: Das Wichtigste ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was passiert | |
| – inner- und außerhalb des Parlaments. Wir erleben einen Kampf gegen die | |
| Demokratie. Letztlich soll nicht mehr der Staat die Regeln machen, sondern | |
| Familie und Kirche. Das geht damit einher, dass nicht nur Frauenrechte, | |
| sondern generell Menschenrechte eingeschränkt werden. Und es endet bei | |
| Attacken auf freie Presse und unabhängige Justiz. Wenn das so weiter geht, | |
| erleben wir einen massiven Rollback: bei Frauenrechten, im Klimaschutz, bei | |
| Menschenrechten. Der Schutzstandard etwa für trans Personen oder | |
| MigrantInnen in der EU kann sich rapide verschlechtern. | |
| taz: Noch mal: Was tun? | |
| Barley: Parlament und Kommission ergreifen Strafmaßnahmen gegen | |
| Regierungen, die gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen, auch | |
| finanzielle. | |
| taz: Das passiert zum Teil recht zögerlich. | |
| Barley: Die Kommission schöpft ihre Rolle nicht immer in dem Umfang aus, in | |
| dem ich mir das wünschen würde. Aber wir schützen Meinungsvielfalt, stärken | |
| demokratische AkteurInnen, kämpfen gegen Desinformation. Nur: All das | |
| reicht nicht. Ich hoffe, dass sich mehr Menschen die Konsequenzen bewusst | |
| machen. Wenn der Nachbar wieder mit dem „Genderwahn“ anfängt, hoffe ich, | |
| dass eingeschritten wird. Ich möchte alle adressieren, jede und jeden | |
| Einzelnen. Ich weiß, das kann nicht jeder, dafür habe ich Verständnis. Aber | |
| überall, wo menschenverachtendes Gedankengut hochkommt, sei es am | |
| Arbeitsplatz, in der Familie, im Verein, braucht es einen mutigen Menschen, | |
| der sagt: Hörst du dich eigentlich reden? Was für einen Unsinn erzählst du | |
| da? | |
| taz: Das kann doch nicht nur die Zivilgesellschaft leisten, das muss doch | |
| Aufgabe von Politik sein. | |
| Barley: Es ist genuine Aufgabe von Politik, für unsere demokratischen Werte | |
| zu kämpfen. Ich mache das seit Jahrzehnten, beruflich wie politisch. Aber | |
| wir schaffen das nicht mehr alleine. Diese antidemokratischen Strömungen | |
| sind tief eingesickert in die Gesellschaft. AntidemokratInnen diskutieren | |
| nicht mehr mit uns. Aber genau das müssen wir tun: das Gespräch suchen, im | |
| Gespräch bleiben. Wir müssen als Gesellschaft wieder miteinander reden. | |
| 12 Oct 2024 | |
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