| # taz.de -- Spielfilm „Eine Erklärung für alles“: Die Abiprüfung als Pol… | |
| > Der Regisseur Gábor Reisz zeigt im Film „Eine Erklärung für alles“ in | |
| > sehr unmittelbaren Bildern die Zerrissenheit der ungarischen | |
| > Gesellschaft. | |
| Bild: Warum trägt Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh) bei der Abiturprüfung den Ung… | |
| Die ersten Bilder von Gábor Reisz’„Eine Erklärung für alles“ erzählen… | |
| jugendlicher Ausgelassenheit. Es beginnt mit einer polaroidformatigen | |
| Aufblende in Zeitlupe: In dem sehr langsam größer werdenden Bildausschnitt | |
| sind Schülerinnen und Schüler zu sehen. Sie lachen, trinken zusammen, | |
| fahren U-Bahn und tragen Kerzen mit sich herum. | |
| Dreh- und Angelpunkt des Films ist Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh), ein | |
| schlaksiger ruhiger Junge mit Flatterhemd und feinem Schnurrbart. An einem | |
| Montag erkennt er, wie einer der vielen verspielten Zwischentitel in | |
| geschwungener Handschrift erklärt, dass er verliebt ist. Unglücklich, muss | |
| man konkretisieren, denn seine Freundin und Angebetete Janka (Lilla | |
| Kizlinger) ist ihrerseits unglücklich verliebt in ihren gemeinsamen Lehrer | |
| Jakab (András Rusznák). | |
| Mit Ábels mündlicher Abitur-Abschlussprüfung in Geschichte kommt eine | |
| Eskalationsspirale ins Rollen. Als der Junge in der Prüfung kein Wort über | |
| die Lippen bekommt, fragt Jakab, ob er mehr Zeit brauche. Und dann: „Warum | |
| trägst du einen Ungarn-Anstecker?“ Die rot-weiß-grüne Kokarde ziert Ábels | |
| Jackett, das er – das ist eins der nicht unwesentlichen Details in diesem | |
| vielschichtigen Film – beinahe vor dem Prüfungsraum vergessen hätte. | |
| Vater ist Fidesz-Anhänger | |
| Eine Antwort gibt er auch darauf nicht und fällt durch die Prüfung. Was | |
| sein Vater György (István Znamenák), ein Architekt, der Viktor Orbáns | |
| Partei Fidesz wählt, mit den Worten kommentiert, dass selbst Ábels dummer | |
| Cousin das irgendwie geschafft habe. | |
| Brisant ist die Frage des Lehrers, weil die Kokarde in Ungarn am 15. März, | |
| dem Jahrestag der bürgerlichen Revolution von 1848, getragen wird, | |
| ansonsten aber als Zeichen einer rechtsnationalistischen Haltung gilt. Als | |
| der Sohn niedergeschlagen vom Prüfungsverlauf erzählt, ist für György klar: | |
| [1][Jakab ist politisch voreingenommen] und hat seinen Sohn wegen der | |
| Kokarde durch die Prüfung rasseln lassen. | |
| Durch die opportunistische Nachwuchsjournalistin Erika (Rebeka Hatházi), | |
| die für ein rechtsgerichtetes Blatt schreibt, findet das Gerücht eine | |
| mediale Echokammer. | |
| ## Flirrendes Porträt der ungarischen Gesellschaft | |
| Um diese Situation herum orchestriert Reisz nach einem gemeinsam mit Éva | |
| Schulze geschriebenen Drehbuch [2][ein flirrendes Porträt der gegenwärtigen | |
| ungarischen Gesellschaft] – eingefangen in filmischer Unmittelbarkeit mit | |
| Handkamera. Der Film spinnt in multiperspektivischen Schlaglichtern ein | |
| enger werdendes Netz um sein Personal und nimmt sich der Budapester | |
| Freiheitsbrücke, die immer wieder eine Rolle spielt, auch metaphorisch an. | |
| Dem dumpfen populistischen Grundrauschen politischer Grabenkämpfe begegnet | |
| Reisz als Brückenbauer, dem der Humor nicht abhanden gekommen ist. Bei den | |
| Filmfestspielen von Venedig 2023 gewann er den Hauptpreis der Sektion | |
| Orizzonti. | |
| Den rechtskonservativen György lernen wir als liebenden, fordernden Vater | |
| kennen. Beruflich schlägt er sich mit einem übermütigen Kunden herum, der | |
| die bekloppte Idee hat, sich die Villa des Außenministers für kleines Geld | |
| in abgespeckter Version nachbauen zu lassen. Oder mit einem Mitarbeiter, | |
| der sich in der Heimat unwohl fühlt und Richtung Dänemark auswandern will: | |
| „In der Straßenbahn sind lauter Verrückte!“ | |
| ## Patriotismus und linke Besserwisserei | |
| Zugleich ätzt György mit patriotischen Standpauken herum oder pflegt seinen | |
| haarsträubenden Whataboutism. „Die lernen den Holocaust von A bis Z, aber | |
| was ist mit den Opfern des Kommunismus?“ Den linken Geschichtslehrer Jakab | |
| begleiten wir im komplizierten Alltag mit seiner Frau, der von Diskussionen | |
| um die beiden Kinder geprägt ist, oder bei einem Interview mit einem | |
| Augenzeugen des Aufstands von 1956, den er mit seiner Besserwisserei | |
| regelrecht vergrault. | |
| Ohne zu Schablonen zu verkommen, kreisen diese beiden politischen Pole, die | |
| in einer Schlüsselszene aufeinander krachen werden, um Ábel. Newcomer | |
| Adonyi-Walsh spielt ihn mit zurückhaltendem Charme, und auch wenn man ihn | |
| lange nicht versteht – Hatte er wirklich einen Blackout? Warum der | |
| Anstecker? Hat er andere Pläne? –, so bleibt man doch bei ihm: wenn er in | |
| einige wunderbaren Einstellungen mit dem Rennrad durch die Stadt fährt oder | |
| sich Janka anzunähern versucht. | |
| ## Autokratische Mechanismen in Bildung und Presse | |
| Doch so angenehm ambivalent vieles bleibt: Verklärt wird in „Eine Erklärung | |
| für alles“ nichts. Seine Haltung ist dem Film fest eingeschrieben, wenn die | |
| Angst der Schule vor der Politik thematisiert oder die linientreue, | |
| ebenfalls nicht unsympathische Journalistin mit einer Beförderung belohnt | |
| wird. Reisz spielt im Kleinen die großen autokratischen Mechanismen in | |
| Bildung und Presse und die Konfliktlinien in zerrissenen Gesellschaften | |
| parabelhaft durch. Eine finanzielle Unterstützung von der ungarischen | |
| Filmförderung gab es im System Orbán nicht. | |
| Dass auch das Ende der Jugend gehört, darf unbedingt als kinematografischer | |
| Optimismus gelesen werden. Ein Zaun, eine Gruppe, die sich Zugang zu einem | |
| Privatgelände mit Pool verschafft. Die Flucht vor den Besitzern endet mit | |
| einem Lachen im See. | |
| 18 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Balkenborg | |
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