# taz.de -- Buch „Pleasure“ von Jovana Reisinger: Die Renaissancewoman | |
> Kolumnistin, Künstlerin, Selbstdarstellerin – Jovana Reisinger kann | |
> vieles. Jetzt hat sie ein Manifest für den Glamour und die Lust | |
> vorgelegt. | |
Bild: Jovana Reisinger: „Ohne meine Outfits wäre ich nicht die scharfe Denke… | |
[1][Die Schriftstellerin Jovana Reisinger] befindet sich eigentlich gerade | |
im Urlaub. In einem Resort auf Sizilien: Hotelzimmer mit Meerblick, nur ein | |
paar Stufen bis zum Strand. Vor zwei Jahren schon hat sie drei Wochen dafür | |
im Kalender markiert. Da war noch nicht klar, was genau dieses Jahr | |
passieren würde. | |
Sie hat es dann durchgezogen, trotz laufender Projekte, aber „es | |
funktioniert natürlich überhaupt nicht“, erklärt sie. Sie arbeite die ganze | |
Zeit, nur immerhin am Strand. Die Idee, zwei oder drei Wochen am Stück | |
Ferien zu machen, passe vorerst nicht mehr in ihr Leben, sagt sie. | |
Besonders genussvoll klingt das nicht. Dabei ist der Genuss doch ihr Thema. | |
Jovana Reisinger hat momentan einen Lauf. In den vergangenen Monaten hat | |
sie unter anderem [2][die Theaterfassung ihres essayistischen Romans „Enjoy | |
Schatz“ an der Berliner Schaubühne] erarbeitet, in der sie selbst erstmals | |
als Schauspielerin auf der Bühne stand und dessen Aufführungen wenige | |
Minuten nach Veröffentlichung des Spielplans ausverkauft waren. | |
Sie hat einen Langfilm abgedreht, ihren Abschlussfilm der HFF München, der | |
sich aktuell im Rohschnitt befindet. Und sie hat ein Buch geschrieben, das | |
„Pleasure“ heißt und bei Park x Ullstein erscheint. | |
## Ciao Bella | |
„Pleasure“ ist nicht ihr Debüt. [3][Ihren ersten Roman „Still halten“ | |
veröffentlichte Reisinger 2017], 2021 folgte ihr zweiter, | |
„Spitzenreiterinnen“. 2022 dann „Enjoy Schatz“. Seit 2020 schreibt sie … | |
Menstruationskolumne namens „Bleeding Love“ und andere Texte für die | |
deutsche Vogue. | |
Im September vor zwei Jahren erschien dort etwa ihr vielbeachteter Essay | |
„Die subversive Kraft der Tussi, oder: In Barbiecore gegen das | |
Patriarchat“. Seit 2023 hat Reisinger eine Single-Kolumne in der FAZ. Und | |
Künstlerin ist sie auch. Die nächste Gruppenausstellung, an der sie | |
beteiligt ist, eröffnet am 31. Oktober in Wien. Jovana Reisinger ist eine | |
Art Renaissancewoman des 21. Jahrhunderts. | |
Normalerweise wird davon abgeraten, der Beschreibung des Äußeren einer | |
Künstlerin in einem Porträt zu viel Platz einzuräumen. Im Fall von | |
Reisinger verhält sich das jedoch anders. Bei einer Frau, die in ihrem | |
neuen Buch Sätze schreibt wie „Ohne meine Outfits wäre ich nicht die | |
scharfe Denkerin, die ich bin“, ist dies sogar eher obligatorisch. | |
Was also trägt die Schriftstellerin zum Interview? Ein Rosa wie aus der | |
Bonbontüte. „Ciao Bella“ steht auf ihrem T-Shirt geschrieben. Wer Reisinger | |
auf Instagram folgt – und das tun derzeit knapp 9.700 Menschen –, weiß, | |
dass sie es sich kürzlich irgendwo in Rom gekauft hat. Ein billiges, | |
lustiges Stück Stoff. So was findet sich in ihrer Garderobe genauso wie | |
Designerfummel, alt oder neu, echt oder gefälscht. Strass, Spitze, Satin, | |
alles, was glitzert und funkelt. Knappe Kleidchen kombiniert mit hohen | |
Hacken, knallig lackierten langen Nägel, winzigen Handtaschen. | |
## Mode als Sprache | |
„Aufsehenerregende Fashion“, nennt sie es, bezeichnet Mode als ihre | |
Sprache: „Sie zu beherrschen, ermöglicht ein neues Vokabular, eine enorme | |
Bandbreite des Dechiffrierens. Mode vermittelt, verdeutlicht, verheimlicht | |
und verschleiert.“ | |
Um jenes Spiel mit den Codes und Stereotypen, um Distinktion und | |
Selbstdarstellungsmethoden geht es ihr im Leben und in „Pleasure“. Um das | |
pure Vergnügen, mit der Mode bestenfalls immer zu tun hat. Und auch ums | |
Essen – Reisingers zweite große Leidenschaft. | |
Entlang von Kleidung, Essen und Schlaf dekliniert Reisinger im Buch das | |
gute Leben durch, der Schlaf ist dabei „das eigentliche Überthema“. Diese | |
drei Dinge empfindet sie „als die hilfreichsten und dankbarsten Kategorien, | |
dem Klassismus auf die Spur zu kommen, der subkutan unsere egalitäre | |
Gesellschaft bestimmt“. Reisingers Anspruch ist nämlich durchaus ein | |
politischer, „Pleasure“ ist für sie „eine Haltung, die von unten kommt u… | |
die oben entweder als anmaßend, vulgär oder unkritisch wahrgenommen wird“ | |
und daher „eine ästhetisch-weltanschauliche Revolution“. | |
Für sie selbst, für das Buch gab es dabei einen direkten Auslöser. Vorn im | |
Buch beschreibt sie ihn. Schauplatz ist der rote Teppich bei einem | |
Filmfest. Reisinger hört eben dort einen abwertenden Kommentar über sich, | |
über ihr „slutty“ Outfit, über „die Prostituierte auf dem roten Teppich… | |
Nicht getroffen, sondern herausgefordert fühlt sie sich da: „In diesem | |
Moment wusste ich, ich will unbedingt etwas über Kleidung schreiben, über | |
Performance und Selbstdarstellung, in Bezug auf Klassen, die Klasse, aus | |
der man kommt, und die, zu der man möchte“, sagt sie. | |
## Ein einziges Büfett | |
Jovana Reisinger ist 1989 in München geboren. Aufgewachsen ist sie in einem | |
Dorf in Österreich, wo ihre Eltern das Wirtshaus der Großeltern übernahmen, | |
daher stammt zweifellos die Obsession für Essen. „Für mich war dieses | |
Wirtshaus ein einziges Büfett, ist ja klar.“ Der Erfolg blieb jedoch aus, | |
die Eltern gingen pleite und zogen zurück nach Deutschland, in eine | |
bayerische Kleinstadt, wo die Familie in einem „schäbigen und verlebten | |
Sozialbau“ hauste. Ihre Geschichte sei eine des Klassenwechsels, erklärt | |
Reisinger. | |
Es ging hoch und runter, auch bei ihr selbst war der Weg kein geradliniger. | |
Hoffnungslos sei sie oft gewesen, als Kind, als Teenager, auch als junge | |
Erwachsene. „Ich dachte immer, ich werde diese Lücke niemals aufholen | |
können und es niemals schaffen, von meiner Kunst leben zu können.“ | |
Ihr Buch ist ein Manifest, so nennt sie es selbst, „ein Manifest für den | |
Glamour, eine Lanze für das Rumliegen, die Völlerei, den Kitsch“, ein | |
Manifest, das sich an alle richte. An diejenigen, die das, was sie | |
umtreibt, als oberflächlich abtun. | |
Es sei aber auch ein Text für Leute, die so aufgewachsen seien wie sie, | |
auch wenn sie sich dabei ein bisschen schwertue, aus Sorge davor, man könne | |
darin eine Aufsteigerinnengeschichte lesen, der man nacheifern sollte, à la | |
man brauche nur „Hardwork and dedication“. So laufe es einfach nicht, nicht | |
alle, die sich anstrengten und eine Leidenschaft hätten, erreichten ihre | |
Ziele. | |
## Plädoyer für Hingabe und Völlerei | |
Um neoliberale Leistungsgedanken geht es ihr nicht, im Gegenteil, ihr | |
Plädoyer für Hingabe und Völlerei richtet sich quasi an jeden Geldbeutel – | |
und kommt genau passend, weist doch der Zeitgeist, gerade was | |
Nahrungsaufnahme betrifft, momentan in die entgegengesetzte Richtung. | |
Ozempic ist das Produkt der Stunde, die Abnehmspritze, die es schafft, | |
sämtliche Gelüste einzudampfen. „Pleasure“ lässt sich als radikales | |
Gegenprogramm dazu verstehen. | |
Üppig fällt es auch selbst aus, doch die 317 Seiten lesen sich schnell weg. | |
Reisinger verfällt oft in einen Plauderton, beschreibt seitenlang die | |
Auslage im Berliner Delikatessgeschäft Rogacki oder das Interieur von | |
Hotels. Immer wieder landet sie dann aber unverwandt da, wo es wehtut. Bei | |
sexueller oder anderer Gewalt, die Frauen leider ja oftmals dort ereilt, wo | |
sie sich eigentlich sicher fühlen: im eigenen Zuhause, im eigenen Bett. | |
Reisinger beschönigt nichts, geht überall in die Vollen, selbst da. | |
16 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Erzaehlband-ueber-Sex/!5888974 | |
[2] /Theaterfassung-von-Enjoy-Schatz/!6017846 | |
[3] /Jovana-Reisingers-Debuetroman/!5463254 | |
## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
## TAGS | |
Camp | |
Klasse | |
Begehren | |
Buch | |
Bücher | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Glamour | |
Musik | |
Künstlerin | |
Literatur | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Theater | |
Oberhausen | |
deutsche Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neues Album von Paura Diamante: Das Schwarz des Regenbogens | |
Paura Diamante macht Synth/Wave, aber in Drag. Auf ihrer neuen EP besingt | |
sie den „New Dawn Decay“ und scheut dabei keinerlei Pathos. | |
Die Berliner Künstlerin Olga Hohmann: Ein unendlicher Text | |
Olga Hohmann navigiert zwischen Performance, Fiktion und Autobiografie. | |
Immer geht es ums Sammeln, Verarbeiten und Neuformulieren. | |
Lesung von Podcast-Star Giulia Becker: Das Schreiben ist eins der Härtesten | |
„Wenn ich nicht Urlaub mache, macht es jemand anderes“ heißt Giulia Beckers | |
neues Buch. Am besten funktioniert es auf Tour, von der Autorin gelesen. | |
Clemens Meyer auf der Buchmesse: Welches Modell hätten Sie gern? | |
Clemens Meyer ist ausgerastet, weil er den Deutschen Buchpreis nicht | |
bekommen hat. Die Preisträgerin Martina Hefter ist das Gegenteil: | |
solidarisch. | |
Theaterfassung von „Enjoy Schatz“: Die Perle aus der Metamuschel | |
Authentizität ist kein Stilmittel, sondern Kernelement. Sarah Kohm | |
inszeniert Jovana Reisingers Roman „Enjoy Schatz“ in der Berliner | |
Schaubühne. | |
Zwischenbilanz Kurzfilmtage Oberhausen: Kunst statt Parolen | |
Ernsthafte Debattenfreude, hoher Schauwert, Universalismus: Eindrücke von | |
den Oberhausener Kurzfilmtagen stimmen positiv. | |
Jovana Reisingers Debütroman: Schnell, grell und fatal | |
Frau gegen Natur: „Still halten“ von Jovana Reisinger liest sich wie das | |
Remake eines Horrorfilms im Gewand avantgardistischer Literatur. |