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# taz.de -- Die Berliner Künstlerin Olga Hohmann: Ein unendlicher Text
> Olga Hohmann navigiert zwischen Performance, Fiktion und Autobiografie.
> Immer geht es ums Sammeln, Verarbeiten und Neuformulieren.
Bild: Lebt zwischen Büchern: Olga Hohmann in ihrer Berliner Wohnung
Olga Hohmann liest vor. Olga Hohmann produziert Inhalt. Olga Hohmann singt.
Olga Hohmann hostet – Dinner, Performances, Ausstellungen. Olga Hohmann
versucht Zaubertricks. Versucht eine Orange schweben zu lassen. Versucht
etwas zum ersten Mal. Steckt ihren Kopf in einen Betonmischer. Macht sich
Notizen. Fällt auf den Kopf. Will nichts vergessen. Olga Hohmann schreibt.
„Schreiben, aber in der bildenden Kunst“, wie sie sagt.
In ihrer neuesten Veröffentlichung „Stressed/Desserts“, die sie vor wenigen
Wochen gemeinsam mit der Künstlerin, Regisseurin und Autorin Chiara
Marcassa bei windpark books publizierte und im Roten Salon der Volksbühne
vorstellte, klingt das zum Beispiel so: „Ich denke, im Traum: Leaving no
traces means to stop moving. Und dann: The past is never dead, it hasn’t
even passed yet. Und dann: The only way out of it is through it.“
Der einzige Weg raus ist durch – Olga Hohmann ist mittendrin. 1992 geboren,
in Berlin und Weimar aufgewachsen, Studium der Theaterregie an der Berliner
Ernst Busch und der Bildenden Kunst in Rotterdam, lebt und arbeitet sie
mittlerweile wieder in der Kreuzberger Kindheitswohnung.
„Hohmann“ steht in zackigen, ein bisschen verhext anmutenden
handgeschriebenen Versalien auf der Klingel, die man drücken muss, will man
sie dort besuchen. Eine Altbaudurchfahrt. Ein Hinterhof. Fahrräder,
Taubendreck, vier Stockwerke unregelmäßige Treppenstufen, wie es sie nur in
Berliner Hinterhäusern gibt. Ganz oben steht die Künstlerin in der Tür.
Lächelt breit, so breit wie die Stille, die sich plötzlich ausbreitet. Das
Gewimmel der Hauptstraße, das Rauschen der Autos auf dem regennassen
Asphalt, alles ist hier verschwunden.
Der Einfluss Berlins
Hohmanns Mutter zog hier noch in den 1980er Jahren ein. Eine Zeit, die
Hohmann wie so viele Berliner Kinder als einflussreich für sich und ihr
Leben begreift: „Die Zeit vor meiner Geburt ist sehr präsent. Weil das Haus
so präsent ist und meinen naiven, fast provinziellen Blick auf die Stadt
geprägt hat.“
Wenn Hohmann vom Teetrinken in der Änderungsschneiderei, ihren Samstagen im
Copy-Shop und beim Juwelier erzählt, ist sofort klar, wie sie das meint:
„Ich empfinde gerade starken Weltschmerz aus vielen Gründen, die
übersteigen, was man erfassen oder wozu man sich positionieren kann. Was
tröstet einen, wenn man traurig ist? Mich tröstet immer die Stadt. Mich zu
vergewissern, wie viele Dinge, wie viele Leben gleichzeitig passieren.“
Die Wohnung ist so vielseitig und schwer greifbar wie ihre Bewohnerin.
Große Räume, kleine Räume, Schiebetüren, Wasserkessel mit Vögelchen, eine
schrabbelige Treppe führt vom Esszimmer auf den Dachboden, dessen
Bodendielen teils durch Glasscheiben ersetzt wurden. Platznehmen am großen
Esstisch, hinter der Künstlerin ein Regal, ein dickes Buch mit dem Titel
„Die Kunst zu zaubern“ direkt über Hohmanns Kopf. Ob sie hier schreibe?
Nein, nein, es gäbe ein Arbeitszimmer, aber meistens arbeite sie eh im
Bett, erwidert Hohmann. „So wie Truman Capote, James Joyce, Edith Wharton
und Marcel Proust“, sagt sie, als sei das selbstverständlich.
Bücher mit enigmatischen Titeln
Das Schicksal der vier Autor:innen wird auch kurz in „Stressed/Desserts“
angerissen. Überhaupt findet sich auf Olga Hohmanns Planeten alles mehrmals
wieder, verschwinden die Dinge und tauchen an anderer Stelle wieder auf,
verdoppeln, verdreifachen, wiederholen, verdichten sich. Inhalt, Form und
Autorin sind dort untrennbar verknüpft.
Gedanken, Erinnerungen, Funfacts, kleine Szenen und große Geschichten
versammelt Hohmann in ihren Büchern, die enigmatische Titel tragen wie „I
am your roadkill – notes from my phone in chronological order“ (2021),
„What I (don’t) remember – about continously falling on ones own head“
(2022) oder „In deinem rechten Auge wohnt der Teufel“ (2023) – letzteres
ist wohl das im klassischen Sinne literarischste Werk der Künstlerin. In
acht Aufzügen begleitet die Erzählung das Aufwachsen der Protagonistin,
ihre Wut, ihre Selbstfindung, ihre Kindheit, ihr Studium und ihre
Erinnerungen.
Doch auch wenn Hohmann hier ausnahmsweise die Position der auktorialen
Erzählerin einnimmt, sind die Chronologien zerpflückt, die Sprünge, Brüche
und Risse in der Geschichte allgegenwärtig. Der Planet Hohmann, er ist auch
hier intakt: „Meinem Vater ist damals gar nicht aufgefallen, dass ich
diesmal nicht als Ich geschrieben hatte.“ Sie lacht und greift in eine
kleine Schale mit Mandeln.
Zum Vorlesen gedacht
Wie viel Olga Hohmann findet sich in den Werken? Wie viel wiegt die
Autofiktion? Die Fiktion? Die Autobiografie? Und mit den Texten ist es ja
lange nicht vorbei, schließlich sind sie zum Vorlesen gedacht, wie die
Künstlerin oft betont. Wie ist das bei den Performances, die sie mehr und
mehr hält? Mit dem Gesang im Kunstverein Kassel, [1][Kunstverein
Braunschweig], mit der Lecture Performance für Texte zur Kunst im Berliner
Silent Green? Mit der Stiftung Binz in Zürich? Mit [2][dem Düsseldorfer
K21] nächstes Jahr? Wo verläuft die Grenze zwischen der Kunst und dem
Privaten?
Wenn Olga Hohmann nachdenkt, dann dreht sie manchmal die Augen langsam nach
oben, während sie sie schließt, ein bisschen wie ein weises Tier in einem
alten Trickfilm. Die halböffentlichen Performances und in der eigenen
Wohnung ausgerichteten Ausstellungen. Das ganze schriftlich ausgebreitete
Leben.
Ein Freund nannte Hohmann letztens „radically in between“, Hohmann selbst
nennt sich immer weniger exhibitionistisch: „Es ist sehr viel von mir in
der Erzählerinnenstimme. Doch es ist nicht nur eine Stimme, die spricht, es
sind mehrere. Manche widersprechen sich oder fallen sich ins Wort. Und
natürlich gibt es zum Glück auch Auslassungen und Dinge, die die Worte
übersteigen. Ich habe verstanden, Schreiben ist Trost. Ich habe immer über
Dinge geschrieben, die mir weh getan haben, denn wenn du schreibst, dann
hast du wenigstens die Hoheit über das Narrativ. Aber die Wiedereinführung
des rein Privaten ist auch notwendig. Wenn ich mein Schreiben ändern
möchte, muss ich es schreibend tun – ich schreibe mich organisch in eine
neue Form und in einen neuen Lebensabschnitt. Aus dem Gefühl, dass alles
miteinander verbunden ist, versuche ich mich jetzt also an einen Ort zu
schreiben, an dem ich wieder Geheimnisse habe.“ Der einzige Weg raus ist
durch.
Vision und Mission
Und doch ist es nicht nur das autofiktionale Sammeln, um das sich Hohmanns
Werk dreht, sie spricht von Vision und Mission, von der einen Nachricht,
die „wir [Die Künstler:innen] immer wieder neu formulieren und wiederholen.
Und vielleicht darf man sie nicht wissen oder nicht in Worte fassen“. Sie
schreibe, um nicht zu vergessen. Vielleicht nur einen einzigen, unendlichen
Text, aufgeteilt in viele kleine Schnipsel.
Die Angst vor dem Vergessen als großer Antrieb. Und das schöne Scheitern.
10 Points for Passion. Noch so ein wiederkehrender Schnipsel. Und Hohmanns
Passion? Vor den Performances fühle sie sich häufig wie ein Kind, das etwas
für Heiligabend vorbereitet hat. Auch, weil sie eigentlich immer etwas
einbaut, das sie noch nie vorher versucht hat. Einen Satz. Ein Stück. Eine
Technik. So bleibt das Rohe, das Zerbrechliche erhalten.
Hohmann zögert. Atmet ein. Pause. Erneutes Einatmen. Mit hellem Mezzosopran
beginnt sie zu singen: „The past is never dead. It hasn’t even passed yet.
But the present, the present is always now. It’s always already gone. Time.
Time. Is what keeps everything from happening all at once.“ Und da ist er
wieder. Der unendliche Text. Gesprochen, performt, gesungen, ausprobiert.
Durchlässig, ohne Naivität und doch frei von jeder Hierarchie. Der einzige
Weg raus ist durch. Oder in Olga Hohmanns Fall: Leaving no traces means to
stop moving.
7 Jan 2025
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## AUTOREN
Hilka Dirks
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