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# taz.de -- Italienische Autorinnen: Subversive Sprengkraft aus der Truhe
> 2024 ist ein gutes Jahr für italienische Schriftstellerinnen. Reihenweise
> werden fast vergessene Autorinnen wieder entdeckt.
Bild: Durfte unter den Faschisten nicht veröffentlichen: Paola Masino auf eine…
Im Jahr 2024 kehrt das Land, wo rote Bänke stehen, unter dem Motto
„Verwurzelt in der Zukunft“ nach 36 Jahren als Ehrengast auf die
Frankfurter Buchmesse zurück – und hat viele zeitgenössische
Schriftstellerinnen im Gepäck:
Francesca Melandri mit ihrem neuen Roman „Kalte Füße“, Giulia Caminitos
Debütroman „Das große A“ von 2016, der in deutscher Übersetzung bei
Wagenbach bei uns erst in diesem Jahr erschien, Igiaba Scego, die mit der
Schriftstellerin Isabelle Lehn über ihren Roman „Kassandra in Mogadischu“
spricht, und die 87-jährige Grand Dame der italienischen Literatur, Dacia
Maraini, die ihren neuen Roman „Tage im August“ vorstellt.
Überhaupt ist 2024 bislang ein gutes Jahr für italienische
Schriftstellerinnen: Donatella Di Pietrantonio gewann mit „L’età fragile“
die 78. Ausgabe des wichtigsten italienischen Literaturpreises Premio
Strega. Der nonsolo Verlag, der junge italienische Autor:innen ins
Deutsche übersetzt, hat den Deutschen Verlagspreis 2024 gewonnen.
Und reihenweise italienische Schriftstellerinnen wurden in den vergangenen
Jahren sowohl von ihren italienischen als auch von deutschen Verlagen
wiederentdeckt: [1][Goliarda Sapienza,] Dolores Prato, Anna Maria Ortese,
[2][Alba de Céspedes] oder Sibilla Aleramo. Deren autobiografisch gefärbter
Roman „Eine Frau“ löste 1906 bei Ersterscheinen einen internationalen
Skandal aus: Die namenlose Protagonistin lässt im Kampf um die Kontrolle
über ihr eigenes Leben nämlich ihren gewalttätigen Ehemann, aber auch ihren
Sohn zurück.
## Nie in den Kanon geschafft
Bei Papero Editore wurde letztens in der Reihe „Sorelle d’Italia“ die ers…
Science-Fiction-Autorin Italiens, Rosa Rosà, neu aufgelegt. Trotzdem laufen
Schriftstellerinnen wie Michela Murgia oder Oriana Fallaci in ihrem
Herkunftsland Gefahr, nach ihrem Tod schleichend dem Vergessen
anheimzufallen.
Nicht, weil ihre geistige Arbeit nicht mehr zu den Menschen spräche.
Fallacis Bücher – „Die Wut und der Stolz“, „Inschallah“, „Ein Mann…
„Brief an ein ungeborenes Kind“ – sind hochaktuell. Sondern, weil sie es
nie in den toten, weißen und vor allem männlichen italienischen
Literaturkanon geschafft haben.
Der hatte lange vor ihrer Geburt bereits weibliche Stimmen systematisch
ausgeschlossen: 1870, pünktlich zur Geburt des Königreichs Italien, in der
„Storia della letteratura italiana“ („Geschichte der italienischen
Literatur“) des ersten italienischen Bildungsministers Francesco de
Sanctis.
De Sanctis soll, um es mit den Worten des italienischen Philologen Federico
Sanguineti zu sagen, „einen echten kulturellen Femizid“ begangen haben. Er
habe, schreibt Sanguineti in seiner Essaysammlung „Per una nuova storia
letteraria“, Schriftstellerinnen entweder ganz ausgelassen oder auf einige
wenige Zeilen reduziert und Leser:innen stattdessen aufgefordert haben,
beispielhafte „weibliche Figuren“ in den Werken großer Schriftsteller zu
entdecken.
## Wer ist die einzige italienische Literaturnobelpreisträgerin?
De Sanctis Literaturgeschichte machte Schule. Und während italienische
Verlage heutzutage auch aus ökonomischen Gründen um die Wiederaufnahme
ausgemerzter Stimmen in ihr Programm bemüht sind, scheinen staatliche
Schulen diesem recupero letterario gegenüber nach wie vor gleichgültig
gegenüberzustehen. Ein italienisches Schulbuch behandelt selten mehr als
fünf Schriftstellerinnen, und nur wenige Schüler:innen können die einzige
Literaturnobelpreisträgerin ihres Landes, Grazia Deledda, beim Namen
nennen.
Deledda, [3][Elsa Morante,] Natalia Ginzburg, Alda Merini oder Patrizia
Valduga werden, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, selten
ausführlich besprochen oder analysiert, sondern bleiben vielfach ungelesene
Fußnoten, oft im Schatten ihrer vorgeblich beachtenswerteren
Schriftsteller-Partner. Selbst dem nuancierten italienischen Schriftsteller
[4][Italo Calvino] gelingt es im 1991 postum bei Mondadori erschienenen
„Warum Klassiker lesen“ nicht, zwischen 35 Opera magna das Werk einer
einzigen Schriftstellerin unterzubringen.
„A Celebration of Women Writers“, ein wachsender digitaler Katalog zu
Schriftstellerinnen aus der ganzen Welt, kommt hingegen allein für Italien
auf 400 Namen aus allen erdenklichen Epochen:
Die Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan („Der Schatz der
Stadt der Frauen“) sprach sich bereits im 14. Jahrhundert in Frankreich –
wo sie ausgiebig gelesen wurde, während ihr Herkunftsland ihr literarisches
Schaffen ignorierte – in der Debatte über die querelle des femmes (über
die Geschlechterordnung in Texten und Bildern) gegen die im Spätmittelalter
vorherrschende Frauenverachtung ihrer Kollegen aus.
## Öffentliche Diskussion mit einem Humanisten
Die Gelehrte und Schriftstellerin Laura Cereta schrieb im 15. Jahrhundert
Briefe, in denen sie für Frauenrechte in Bezug auf Bildung und innerhalb
der Ehe eintrat. Isotta Nogarola, Schriftstellerin und Humanistin, führte
Mitte des 15. Jahrhunderts sogar einen energischen Briefwechsel mit dem
Humanisten Ludovico Foscarini, in dem die beiden auf Lateinisch
diskutierten, ob Eva tatsächlich, wie der heilige Augustinus vermittelte,
mehr Schuld an der Erbsünde trage als Adam. Das macht Isotta Nogarola zur
ersten Frau der Renaissance, die eine öffentliche Diskussion mit einem
Humanisten geführt hat.
Wie oft ihr Name an italienischen Schulen und Universitäten wohl erwähnt
wird (beziehungsweise, bezugnehmend auf das 14. bis 19. Jahrhundert,
überhaupt ein weiblicher Name)? Noch im Masterstudium der romanischen
Literaturwissenschaft wird das völlige Fehlen von Frauen im Literaturkanon
vor dem 20. Jahrhundert meist mit einem „Bedauerlicherweise hatten Frauen
in jener Zeit keinen Zugang zu Wissen und Bildung“ abgetan.
Sie habe sich oft gefragt, schreibt die italienische Schriftstellerin Olga
Campofreda in der überregionalen italienischen Tageszeitung Domani, was
sich geändert hätte, wenn sie in der Schule neben Calvinos Cosimo, der das
Leben auf der Erde ablehnt und beschließt, nur noch auf den Bäumen zu
leben, die Geschichte von (Paola) Masinos kleiner Hausfrau entdeckt hätte,
die sich weigert, aus ihrer Truhe herauszukommen.
Diesem ebenso bitteren wie humorvollen Roman („Die Geburt der Hausfrau und
ihr Tod“) war wegen seiner subversiven Sprengkraft 1945 vom faschistischen
Regime der Prozess gemacht worden. Der Roman geriet, ebenso wie seine
Autorin, in Vergessenheit und wurde erst 2019 von Feltrinelli neu
aufgelegt.
## Gegen das Vergessen anschreiben
Dass das Fehlen von Frauen im Literaturkanon eine einseitige Weltsicht
perpetuiere, in der die eine Seite davon ausgehe, dass die andere nichts
getan habe oder dass, „wenn sie etwas geschrieben hat, es uninteressant
war“, glaubt auch die italienische Lektorin und Gegenwartsautorin
[5][Giulia Caminito.]
Die andere Seite hingegen, so Caminito im Interview mit dem digitalen
italienischen Literaturmagazin Il Rifugio dell’Ircocervo, frage sich,
„warum keine Schriftstellerinnen auf dem Programm stehen, warum wir in den
Ferien keine Bücher von Schriftstellerinnen zu lesen haben, warum Frauen im
historischen Kontext nicht vorkommen. Eine Präsenz durch Abwesenheit, die
einige von uns dazu bringt, Nachforschungen anzustellen.“
In „Amatissime“ schreibt Caminito gegen das Vergessen von
Schriftstellerinnen des italienischen Novecento an. In fünf Kapiteln
verwebt sie den Roman ihres eigenen Lebens mit den Biografien von zwei
bekannten – Ginzburg und Morante – sowie drei unbekannten
Lieblingsschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts: Laudomia Bonanni, Livia
de Stefani, die in „La vigna di uve nere“ bereits 1953 über die Mafia
schrieb, und, abermals, Paola Masino.
Sie würde sich freuen, sagt Caminito, wenn ihr Buch in Schulen gelesen
würde, denn die Wiederentdeckung von Schriftstellerinnen durch die Schulen
sei „unerlässlich“, um die „im Wesentlichen nach wie vor patriarchalische
forma mentis der italienischen Gesellschaft“ fortwirkend zu verändern.
## Mehr Frauen in die Schulbücher
Und wie hält man nun die vielen wiederentdeckten Schriftstellerinnen
dauerhaft am Leben? „Indem man sie liest“, antwortet Giulia Caminito. „Ich
glaube, dass für Schriftstellerinnen wie für Schriftsteller der
Schulunterricht eine grundlegende Rolle spielt. Wenn die
Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts in den Schulen gelesen und als
Pflichtlektüre vorgeschlagen würden, gerieten sie sicher nicht in
Vergessenheit. Es sind die Schulen, die sie in der allgemeinen Kultur
lebendig halten.“
Eine Antwort auf die Frage „Italia, dove vai?“ („Italien, wie weiter?), d…
Caminito am Donnerstagabend mit den Schriftsteller:innen Melania G.
Mazzucco, Francesca Melandri, Mario Desati, Gianrico Carofiglio und Paolo
Rumiz in der Romanfabrik im Rahmen der Frankfurter Buchmesse diskutiert,
muss also lauten: Mehr Schwestern in die Schulbücher!
15 Oct 2024
## LINKS
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[4] /Arte-Film-ueber-Italo-Calvino/!5076929
[5] /Giulia-Caminitos-Ein-Tag-wird-kommen/!5703311
## AUTOREN
Marielle Kreienborg
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