| # taz.de -- Kriegserinnerungen von Dacia Maraini: Strategien, um zu überleben | |
| > Dacia Maraini war als Kind im Zweiten Weltkrieg in einem japanischen | |
| > Lager interniert. In ihrem neuen Buch erinnert sich die Autorin an diese | |
| > Zeit. | |
| Bild: Freude nach der Befreiung aus japanischer Kriegsgefangenschaft, 1945 | |
| Irgendwann trifft der Hass der anderen die drei Mädchen. Weil für sie keine | |
| eigene Nahrungsration vorgesehen ist, müssen alle Erwachsenen pro Tag einen | |
| halben Löffel Reis für die Drei-, Fünf-und Siebenjährigen abgeben. Für | |
| Menschen, die seit Monaten unter quälendem Hunger leiden, ein | |
| fürchterliches Opfer, über dessen Einhaltung die Aufseher wachen, wie über | |
| all die anderen Regeln, die den Gefangenen abverlangt werden. | |
| Die 19 Menschen, die in den Umkleiden eines ehemaligen Tennisplatzes im | |
| japanischen Nagoya interniert sind, gelten als Volksverräter und werden | |
| entsprechend schikaniert. Die Wachen stehlen ihre Essensrationen und drohen | |
| lachend, ihnen die Kehlen durchzuschneiden, sobald der Krieg gewonnen sei. | |
| Sie leiden unter Ungezieferbefall, Hungerkrämpfen und der | |
| Vitamin-B1-Mangelkrankheit Beriberi, die zu Blutungen, Inkontinenz und | |
| Dauererschöpfung führt. | |
| Die bekannte [1][italienische Schriftstellerin Dacia Maraini] ist im | |
| September 1943 sieben Jahre alt, als ihre Eltern sich als überzeugte | |
| Antifaschisten weigern, dem Dreimächtepakt zwischen Japan, Nazideutschland | |
| und der faschistischen italienischen Republik von Salò die Treue zu | |
| schwören. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Zwei Jahre lang | |
| werden der Anthropologe und Japanologe Fosco, die Lehrerin Topazia und ihre | |
| Töchter Dacia, Toni und Yuki in ein Lager gesperrt. | |
| ## Höhepunkte des Lageralltags | |
| Fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und ihrer Befreiung durch | |
| amerikanische Soldaten (das italienische Original erschien 2023) wagt sich | |
| die heute 89-Jährige an die Schilderung ihrer kindlichen Leidenszeit: | |
| Maraini erzählt in ihrem nun ins Deutsche übersetzten Buch „Ein halber | |
| Löffel Reis“, wie sie von einer assimilierten „kleinen Japanerin“, die an | |
| Reinkarnation glaubte, nie Brot aß und von ihrer Amme in die Welt der | |
| japanischen [2][Märchen und Mythen] eingeführt wurde, über Nacht zur | |
| ausgestoßenen Fremden wurde, die nicht einmal mehr Kind sein durfte – | |
| Spielen war im Lager verboten. | |
| In eindrücklichen Anekdoten schildert sie Überlebensstrategien wie das | |
| Essen von Ameisen und seltene Höhepunkte des Lageralltags, wie die süße | |
| Creme, die ein mitgefangener Chemiker an Weihnachten aus ein paar Eiern, | |
| Reismehl und Zuckermilch zaubert. Oder an den verzweifelten Mut des Vaters, | |
| der sich während eines Hungerstreiks einen Finger abhackt – was den | |
| Insassen eine Ziege einbringt. | |
| Maraini erklärt das mit einer alten japanischen Gesellschaftsverpflichtung, | |
| dem Giri, den der Einzelne gegenüber der Gesellschaft, aber auch für die | |
| eigene Ehre praktizieren soll. „Fosco hatte Giri gegenüber dem eigenen | |
| guten Namen und gegenüber Italien praktiziert […] offensichtlich hatte die | |
| alte Sprache ihren soldatischen Geist erreicht.“ | |
| In Marainis Erzählen mischt sich das Erleben aus der Perspektive eines | |
| Kindes mit allgemeinen Reflexionen über das Verhalten von Menschen im | |
| Überlebenskampf und im Krieg. Sie schildert, wie die anfangs solidarische | |
| Häftlingsgemeinschaft von Hunger und Hoffnungslosigkeit zersetzt wird, und | |
| denkt über das organisierte Massentöten in den deutschen | |
| Konzentrationslagern nach, von deren Existenz sie als Kind nichts wusste, | |
| mit denen sie sich aber als Erwachsene intensiv beschäftigt hat. | |
| ## Akte der Menschlichkeit | |
| Reichte denen, fragt sie sich, die stündlich Viehwaggons voller Menschen | |
| vorbeifahren sahen, die Erklärung aus, dass da nur Vaterlandsverräter und | |
| Verbrecher ins Arbeitslager gebracht würden – eine Kategorie, zu denen auch | |
| sie und ihre Familie im faschistischen Japan gestempelt wurde? Obwohl | |
| Maraini vereinzelte Akte der Menschlichkeit erlebte, etwa wenn Bauern ihr | |
| Kartoffeln zusteckten, illustriert sie eindrücklich, wie sehr die | |
| Propaganda die [3][japanische Bevölkerung] im Griff hatte: 1945 töteten | |
| sich viele selbst, um nicht den als unmenschlich dargestellten | |
| amerikanischen Besatzern in die Hände zu fallen – nicht etwa die andauernde | |
| Freundlichkeit der Lebensmittel überreichenden Soldaten beendete die | |
| Suizidwelle, sondern erst eine öffentliche [4][Ansprache des Kaisers.] | |
| Es sind vor allem diese Einblicke in Denkmuster eines vergangenen | |
| archaischen Japans und über ein bislang kaum bekanntes Kapitel aus der | |
| Endphase des Zweiten Weltkriegs, die Dacia Marainis Buch zu einer | |
| bereichernden Lektüre machen. | |
| Ihre aufrechte moralische Grundhaltung und ihr Ringen um Menschlichkeit | |
| scheint auf jeder Seite durch. In einem Interview sagte die betagte | |
| Schriftstellerin, wer innere Stärke besitze, brauche keinen | |
| Identitätsverlust zu fürchten. Eine klare Breitseite gegen diejenigen, die | |
| bewusst den Hass auf Fremde schüren. | |
| 16 Jul 2025 | |
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| Nina Apin | |
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