# taz.de -- Italienischer Film „Vermiglio“: Wo Landleben kein Idyll ist | |
> Mit „Vermiglio“ erzählt die Regisseurin Maura Delpero über | |
> Frauenschicksale einer Familie in den Dolomiten in Italien am Ende des | |
> Zweiten Weltkriegs. | |
Bild: Junge Mutter zu Kriegszeiten: Lucia (Martina Scrinzi) in „Vermiglio“ | |
Ein Herd, in dessen Fond man ein Feuer knistern hört. Ein Topf mit warmer | |
Milch, aus dem heraus eine mütterliche Hand mit Schöpflöffel die | |
Steinzeugtassen ihrer Kinder füllt. Fast glaubt man sich in einem | |
[1][„Trad-Wife“-Video], dessen „Land-Hausfrauen-Ästhetik“ einen der vi… | |
Brandherde im gegenwärtigen Kulturkampf bildet. | |
Aber die von alten Traditionen geprägte Welt, in die die italienische | |
Regisseurin Maura Delpero mit ihrem Film „Vermiglio“ entführt, das Leben in | |
einem kleinen Dorf in den Trentiner Alpen in den letzten Kriegsjahren 1944 | |
und 1945, könnte kaum weiter entfernt sein von Influencer-Kultur. | |
Andererseits: Delperos atmosphärische Familienerzählung zeigt auf großartig | |
nuancierte Art und Weise, wie sehr das Leben ihrer historischen | |
Protagonisten, und zwar sowohl der Frauen als auch der Männer, von | |
patriarchalen Strukturen eingeschränkt wird. Und implizit folgt daraus eben | |
auch, wie geschichtsvergessen es ist, die „handgemachten“, „gemütlichen�… | |
oder „naturverbundenen“ Aspekte eines traditionellen bäuerlichen Lebens | |
heutzutage als Lifestyle zu verkaufen. | |
## Großartige Gebirgskulisse | |
Das Familienleben der Graziadeis, die im Mittelpunkt von „Vermiglio“ | |
stehen, wirkt zwar einerseits sehr heimelig. Da sind die vielen Kinder, die | |
eine Orgelflöte ergeben, sieben an der Zahl, und dann noch ein Säugling in | |
den Armen von Mutter Adele (Roberta Rovelli). Und da ist der immer warme | |
Herd in einem Haus inmitten großartiger Gebirgskulisse. | |
Andererseits lässt Regisseurin Delpero in ihren vor der realen | |
Dolomiten-Bergwelt gefilmten Szenen stets genug Zeit, damit auch andere | |
Aspekte ins Bild kommen. Die winterliche Kälte mit meterhohem Schnee, in | |
der der Film beginnt, und die Enge der Räume, der Bänke, der Betten, in | |
denen sich immer mehrere Kinder auf einmal drängeln müssen. | |
Diese Enge prägt den Haushalt der Graziadeis und das Dorfleben. Sie | |
herrscht in der „Zwergschule“, in der Vater Cesare Graziadei (Tommaso | |
Ragno) als Lehrer die Kinder allen Alters in einem einzigen Raum | |
unterrichtet. Sie herrscht in der Kneipe, in der sich die Alten über die | |
Frage anbrummen, ob es richtig sei, Deserteure zu beherbergen. In dieser | |
Umgebung etwas zu tun, über das nicht wenig später getuschelt wird, fällt | |
schwer, sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder. | |
## Desertieren vor dem Kampf | |
Die Deserteursfrage kommt auf, weil noch vor Weihnachten 1944 ein Onkel der | |
Graziadeis mit dem Sizilianer Pietro (Giuseppe De Domenico) an seiner Seite | |
weg von der Front ins Dorf flüchtet; Pietro hat dem Onkel das Leben | |
gerettet, sie wollen nicht mehr zurück in einen Krieg, von dem sie nicht | |
wissen, für wen sie ihn kämpfen sollen. In der Kneipe bezeichnet ein Mann | |
alle Deserteure als Feiglinge; Cesare entgegnet, dass es, wenn alle | |
Feiglinge wären, auch keinen Krieg mehr gäbe. | |
Seine älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi) hat sich da schon längst in | |
Pietro verguckt. Im Wortsinn: Delpero zeigt, wie ein Blick genügt, um ein | |
Feuer zu entfachen. Das erste Mal sehen sie sich in Entfernung an der | |
Haltestelle des Dorfes, wenig später in der Kirche, wo Pietro sich nach | |
Beginn der Messe noch leise hineinschleicht. | |
Er erwidert Lucias Blick und in beiläufiger Selbstverständlichkeit kommt es | |
bald zum Austausch von Herzklopfen erregenden Nachrichten. Pietro kann als | |
Analphabet nur zeichnen und kommt schließlich zu heimlichen Verabredungen, | |
im Wald, im Schatten eines Stalls. | |
## Da bahnt sich etwas an | |
Die sich anbahnende Liebesbeziehung wird von Lucias jüngeren Schwestern | |
Flavia (Anna Thaler) und Ada (Rachele Potrich) neugierig überwacht. Worüber | |
sie miteinander sprechen, fragt Flavia, die begabteste unter den | |
Graziadei-Kindern. „Wir reden nicht viel, wir halten uns an den Händen“, | |
antwortet Lucia. Kaum dass Pietro seine Bereitschaft erklärt, sie zu | |
heiraten, wird Lucia auch schon schwanger. | |
Nach und nach stellt Delpero die drei Mädchen als die Hauptprotagonisten | |
ihres Films heraus. Lucia und ihre Liebesgeschichte, die später eine | |
wahrhaft schockierende Wendung nehmen wird, bildet den roten Faden dieser | |
die vier Jahreszeiten abdeckenden Erzählung. | |
Ada, die auf ganz andere Weise ihre Sexualität entdeckt, gibt das gleichsam | |
verdrängte Gegenstück dazu. Man sieht sie, wie sie sich in der Ecke hinter | |
dem Kleiderschrank versteckt, um sich selbst zu berühren – später wird sie | |
in einem geheimen Tagebuch damit hadern. Die Magd des Nachbarhofs, die beim | |
Melken raucht und lacht, beeindruckt sie mehr, als diese wohl realisiert. | |
## Sich dem Gelübde entziehen | |
Der Vater sieht für Ada den Werdegang einer Nonne vor, aber der Film deutet | |
an, dass sie schließlich genug Trotz angesammelt hat, um sich dem Gelübde | |
zu entziehen. Flavia, die jüngste von ihnen, repräsentiert ein wenig die | |
Filmemacherin selbst. | |
Sie betrachtet ihre Umgebung mit unerschöpflicher Neugier, die unter | |
anderem dazu führt, dass sie sich unterm Schreibtisch des Vaters versteckt, | |
um diesen dabei zu beobachten, wie er, wenn er sich alleine glaubt, die | |
Beine hochlegt und klassischer Musik lauscht. Flavia, der Musterschülerin, | |
stellt Cesare als Einziger unter seinen Kindern die Möglichkeit einer | |
höheren Bildung in Aussicht. | |
Delpero lässt all diesen Momenten ihre Zeit, ihr Kino ist eines der langen | |
Einstellungen, das aber gleichzeitig von großer erzählerischer Ökonomie | |
bestimmt und nie langweilig wird. Es gibt kaum Dialoge, im Tuscheln der | |
kleinen Kinder verfestigen sich Versionen von Ereignissen, die man auch | |
anders hat ablaufen sehen. | |
## Heiße Wickel gegen Fieber | |
In einem Moment sieht man die Mutter, die mit Kohlwickel das Fieber ihres | |
weinenden Säuglings senken will, im nächsten sitzt sie trauernd an einem | |
metallenen Kreuz, das aus dem Schnee herausragt. Da erwartet sie auch schon | |
das nächste. | |
Es scheint eine tiefe Affinität zu geben zwischen dem kargen Alltag und dem | |
Bemühen um Realismus. Als ob man zurück müsse aufs Land, wo man die Dinge | |
noch wahrhaft fühlen und schmecken kann, um authentisch zu sein. Aber | |
Delpero widersteht auf meisterhafte Weise der Verführung, daraus ein | |
bukolisches Idyll zu machen. | |
Stattdessen geht ihre Rekonstruktion, für die sie sich von der eigenen | |
Familienchronik hat inspirieren lassen, der Frage nach, wie es sich von | |
innen anfühlt. Nicht im Bezug auf Winterschnee und Sommersonne, sondern auf | |
die herrschenden Normen und Werte, die das Leben in Ritualen, Gewohn- und | |
Gepflogenheiten so leiten. | |
Cesare ist kein schrecklicher Patriarch, aber der Mann, der selbst so wenig | |
Gelegenheit hat, seinem zweifellos reichen Innenleben zu frönen – einen | |
kleinen Einblick gewährt eine Szene, in der er seinen Schülern die | |
einzelnen Takte von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ vorinterpretiert –, zeigt | |
wenig Verständnis für das Befinden seiner Kinder. | |
Oft scheitern moderne Filme, die den Emanzipationswillen von Frauen in | |
alter Zeit zeigen, daran, dass sie diese mit dem aktuellen „Mindset“ | |
ausstatten; oder sie ganz und gar als Opfer ihrer Umstände darstellen, ohne | |
ihnen Handlungsfähigkeit zuzugestehen. Delpero gelingt die Gratwanderung: | |
Ihre Figuren werden zu Individuen, die sich an den zeittypischen | |
Einschränkungen auf je eigene Art und Weise reiben. | |
22 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Genderbacklash-in-Cannes/!6089032 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
## TAGS | |
Italien | |
Alpen | |
Dorf | |
Spielfilm | |
Literatur | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kriegserinnerungen von Dacia Maraini: Strategien, um zu überleben | |
Dacia Maraini war als Kind im Zweiten Weltkrieg in einem japanischen Lager | |
interniert. In ihrem neuen Buch erinnert sich die Autorin an diese Zeit. | |
Pedro Almodóvar gewinnt Goldenen Löwen: Im Zweifel für Bewährtes | |
Solide Wahl in einem Jahrgang mit wenigen Höhepunkten: Die 81. | |
Filmfestspiele von Venedig enden mit dem Goldenen Löwen für Altmeister | |
Pedro Almodóvar. | |
Latschenölbrennerei in den Alpen: Eine Hausapotheke aus dem Wald | |
Hoch in den Südtiroler Bergen steht Meinrad Rabensteiners | |
Latschenölbrennerei. Besuchen kann sie nur, wer zu ihr wandert. Es ist auch | |
eine Zeitreise. |