# taz.de -- Latschenölbrennerei in den Alpen: Eine Hausapotheke aus dem Wald | |
> Hoch in den Südtiroler Bergen steht Meinrad Rabensteiners | |
> Latschenölbrennerei. Besuchen kann sie nur, wer zu ihr wandert. Es ist | |
> auch eine Zeitreise. | |
Bild: Die alte Latschenölbrennerei von Familie Rabensteiner liegt auf knapp 1.… | |
Ein Schnaps zum Ende muss sein. Zirbe – von Meinrad Rabensteiner selbst | |
angesetzt. „Sonst sind die Gäste enttäuscht.“ | |
Rabensteiner betreibt eine Latschenölbrennerei auf knapp 1.900 Metern über | |
dem Meeresspiegel, [1][in den Südtiroler Alpen]. „Viele denken, dass es | |
hier Schnaps gibt. Und dann gibt’s nur Öl.“ Denn auch das wird gebrannt, | |
aus Latschenkiefern, einer Unterart der Bergkiefern. Die wachsen überall | |
hier oben. Wilde, flache Sträucher, der Stamm am Boden liegend. Als würden | |
sie sich ducken, um dem kräftigen Wind und den Schneemassen des Winters | |
standzuhalten. | |
Das Latschenöl, das Meinrad Rabensteiner aus ihnen gewinnt, durfte früher | |
in keiner Hausapotheke fehlen. Es hilft bei Erkältung, Rheuma, kalten | |
Füßen, Kopf- und Gliederschmerzen und erlebt heute – wo viele zurück zur | |
Natur wollen – ein Comeback. | |
Rabensteiner steht in der dunklen Stube im hinteren Teil der Alm. Durch die | |
kleinen Fenster, eingerahmt von herzverzierten Karo-Vorhängen, fällt nur | |
wenig Licht. „Hier stand früher ein Bett und da im Eck ein zweites.“ Es ist | |
der alte Schlaf- und Essraum, in dem seine Familie während der Sommermonate | |
lebte, als er noch ein Kind war. „Direkt neben der Brennerei. Hier war es | |
schön warm.“ Die Wände sind schwarz vom Ruß. Neben diesem Raum gab es ein | |
Schlafzimmer für die Eltern und eine Milchkammer, in der Butter und Käse | |
gemacht wurde. | |
## In dritter Generation | |
Meinrad Rabensteiners Großonkel hat die Brennerei 1912 aufgebaut. Nach | |
dessen Tod im Ersten Weltkrieg übernahmen die Großeltern den Betrieb, | |
anschließend die Eltern, die alljährlich ab Juni mit ihren Kindern zum | |
Brennen auf die Alm zogen. „Später, als wir in die Schule mussten, kamen | |
wir im Sommer zur Tante. Aber sobald Ferien waren, sind wir auch hoch“, | |
erinnert sich Rabensteiner. „Nur einmal pro Woche ist der Vater mit dem | |
Traktor runter ins Tal, zum Einkaufen und um in die Kirche zu gehen.“ | |
Anders als seine Eltern verbringt der heute 42-jährige Rabensteiner nur | |
noch die Tage [2][auf der Alm]. Die ehemalige Stube und die Küche nutzt er | |
als Verkaufsraum. Auf den alten Kommoden und Tischen stehen Ölfläschchen, | |
Kosmetik, Geschenkkörbe. Und doch wirkt es, als würden die Eltern jederzeit | |
zur quietschenden Holztür hereinkommen, um nach getaner Arbeit den Ofen | |
anzuheizen und sich mit den Kindern zum Abendessen zusammenzusetzen. | |
„Auf dem Ofen“, er zeigt auf den weißen Küchenherd mit seinen großen | |
Klappen, „hat die Mutter bis 2016 noch gekocht.“ Ihr Mus mochte er | |
besonders gerne: warme Milch, angedickt mit Weizenmehl. Ein einfaches, | |
sättigendes Gericht. „Das kam in einer großen Pfanne in die Tischmitte, mit | |
Schmalz obendrauf.“ Auch die Kochutensilien der Mutter – Schöpfkellen, | |
Pfannen, Messer – hängen noch an der Wand. Darüber das Gestell aus dünnen | |
Holzstangen, in denen das Schüttelbrot getrocknet wurde. Auch das beliebte, | |
mit Schabzigerklee gewürzte knusprige Brot entstammt der einfachen | |
Bauernküche. | |
## Am Anfang stand eine Strafanzeige | |
Obwohl er schon als Kind beim Brennen half, entschied sich Rabensteiner als | |
junger Mann für eine Ausbildung zum Tischler. Die Mutter, die den Betrieb | |
nach dem frühen Tod ihres Mannes 1995 alleine führte, unterstützte er | |
weiterhin allsommerlich auf der Alm. Doch bis er zum Vollzeitölbrenner | |
wurde und die Sache „groß aufzog“, dauerte es fast zwei Jahrzehnte. | |
„Richtig losgegangen ist es mit einer Strafanzeige“, erzählt er und lacht. | |
Die Etiketten, die sie auf ihre Ölfläschchen geklebt hatten, waren nicht | |
gesetzeskonform. „Da wussten wir: Das geht nicht nebenbei. Wenn wir wollen, | |
dass das Handwerk nicht ausstirbt, müssen wir es ordentlich machen. Mit | |
etwas Marketing und mehr Produkten.“ | |
Dazu gehört, dass man die Latschenölbrennerei in den Sommermonaten täglich | |
besichtigen kann – sofern man gut zu Fuß ist. Der Parkplatz Huberkreuz ist | |
eine gute halbe Stunde entfernt. Schöner ist [3][die Wanderung] auf der | |
„Südtiroler Himmelstour“, einem knapp 17 Kilometer langen Rundweg. Von der | |
Bergstation der Bergbahn am Rittner Horn dauert der Weg anderthalb Stunden, | |
vorausgesetzt, man widersteht der Versuchung, alle paar Meter stehen zu | |
bleiben, um den Weitblick zu genießen. Da das Rittner Horn die südlichste | |
Erhebung des Gebirgszuges ist, reicht die Sicht weit hinaus, bis zum | |
Großglockner im nördlichen Österreich und den Dolomiten im Süden. | |
Ein kleines Schild weist den Weg zu der Hütte, die etwas abseits an einem | |
Bach liegt. Kein Zufall, denn zum Brennen benötigt man Wasser. „Früher hat | |
man es auch zum Antreiben der Häckselmaschine genutzt“, sagt Meinrad | |
Rabensteiner. Heute hilft eine benzinbetriebene Maschine – die einzige im | |
gesamten Prozess. „Früher war es schon bissl ein Geschinde“, meint er, die | |
Hände in den Taschen seines Fleecepullovers vergraben. Der Wind zieht durch | |
die Brennerei, die zur Bachseite hin komplett offen ist, aber Rabensteiner | |
scheint es nicht zu merken. Mit der Ruhe eines Menschen, der im Einklang | |
mit der Natur lebt und arbeitet, führt er durch sein Reich. | |
## Wie vor hundert Jahren | |
Es ist kalt an diesem Vormittag, zu kalt und zu feucht zum Brennen. Um das | |
Öl zu gewinnen, das in den Ästen und vor allem in den Nadeln steckt, werden | |
die Zweige der Kiefern geerntet und zerkleinert. Zuvor aber müssen sie rund | |
zwei Wochen getrocknet werden, weshalb nur in den warmen Sommermonaten | |
gebrannt werden kann. „Wir destillieren noch wie vor 100 Jahren“, heißt es | |
auf der Internetseite des Unternehmens (auch sie ein Teil der | |
Marketingoffensive). „Nur die notwendigsten Reparaturen“ seien in der | |
Brennerei durchgeführt wurden. Man glaubt es sofort beim Blick auf den | |
rußgeschwärzten Ofen und die verbeulten Kessel. | |
Es ist ein Ort, an dem – diese abgedroschene Phrase muss sein – die Zeit | |
stillzustehen scheint. „Der Behälter hier stammt aus dem Jahr 1895“, sagt | |
Rabensteiner. Er klopft auf die mannshohe Tonne. „Ein Unikat. Funktioniert | |
einwandfrei.“ In den Behälter kommen die Äste nach dem Häckseln. Am besten | |
zeitnah, denn es sei wie beim Kaffee, meint der Brenner: „Das muss frisch | |
gemacht werden, damit das Aroma bleibt.“ | |
Extrahiert wird das Öl mithilfe von Wasserdampf. Dafür heizt Meinrad | |
Rabensteiner, wie schon seine Eltern und Großeltern vor ihm, den großen | |
Holzofen an, der wie ein Tunnel in der Mitte des Raumes liegt. Über ein | |
Rohr wird der Dampf von unten in den Destillationskessel geleitet, wo er | |
beim Aufsteigen den Nadeln und Ästen das ätherische Öl entzieht. Wieder | |
abgekühlt, tropft das Gemisch aus Wasser und Öl in einen kleinen Eimer. | |
Nach sechs bis acht Stunden bleiben rund ein bis eineinhalb Liter | |
Latschenöl. | |
Neben dem Öl der Latschenkiefer extrahiert er auch das von Fichte, Kiefer, | |
Lärche, Zirbe und Wacholder. Mithilfe von lokalen Produzenten entstehen | |
daraus Shampoos, Hautcremes, Erkältungsbalsam und Duftöle. Fichte wirkt | |
entspannend und entzündungshemmend, Lärche schleimlösend und | |
stimmungshebend, Wacholder hilft bei Rheuma und Muskelschmerzen. Eine | |
Hausapotheke aus dem Wald. | |
## Strom gibt es erst seit Kurzem | |
Der Bestseller aber bleibe die Latschenkiefer. Und die beruhigende Zirbe, | |
„die boomt gerade“, sagt Rabensteiner. Ist das Öl extrahiert, werden die | |
Kessel geleert. Mit den ausgebrannten Hackschnitzen wird der Ofen geheizt. | |
Strom haben sie – dank einer Photovoltaikanlage – erst seit ein paar | |
Jahren. „Davor gab’s eine Autobatterie, bis 2015 aber gar nichts.“ | |
Gearbeitet wurde im Licht der Kerzen. | |
Lange Zeit wurden die Äste, quasi wie bei einem Sessellift, an gespannten | |
Drahtseilen zur Hütte transportiert – frühmorgens, denn bei zunehmender | |
Wärme dehnten sich die Seile zu stark. Heute gibt es Traktoren. Die | |
Holzhaken, an denen die Äste eingehängt wurden, hat der Sohn dennoch | |
aufgehoben. „Die hat der Vater alle selbst geschnitzt, während der | |
Wintermonate.“ Es sind hunderte, die in Bündeln an den Wänden des | |
Dachbodens hängen. | |
Meinrad Rabensteiner bewahrt eine Arbeitsweise, die selbst in den | |
traditionsbewussten Südtiroler Bergregionen nur noch selten zu finden ist. | |
Früher gab es hier viele Brennereien, heute nur noch eine Handvoll, sagt | |
er. „Drei große und uns“. | |
Auf dem Rückweg zum Rittner Horn sieht man die überall wachsenden | |
Latschenkiefern mit ganz anderen Augen. Kurz vor der Seilbahn, die zurück | |
ins Tal führt, lockt die Feltuner Hütte hungrige Wanderer zur Einkehr. Wer | |
Glück hat, bekommt die Latschen dort auch auf dem Teller serviert, als | |
Risotto zum Beispiel, mit geschmorten Waldpilzen und giftgrünem Latschenöl. | |
Und wer neugierig nachfragt, bekommt vom Juniorchef – einem Cousin des | |
Brennmeisters – noch eine Box mit alten Dokumenten und Bildern auf den | |
Tisch gestellt, in denen der Verkauf des kostbaren Öls und die Arbeit in | |
den Brennereien dokumentiert sind. Und dann, zum Abschied, einen Schnaps | |
aufs Haus. Natürlich von der Latschenkiefer. | |
17 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Verena C. Mayer | |
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