# taz.de -- Eine Chauffeurin erzählt: „Du überholst mich nicht“ | |
> Wie mich ein Artikel über einen Chauffeursjob eine Freundschaft kostete. | |
> Aus dem Berufsalltag einer freien Kulturschaffenden und Fahrerin. | |
Bild: „Bitte hinten einsteigen!“ | |
Eine Schwäche für Autos hab’ ich nicht, aber eine fürs Unterwegssein. | |
Dahinrauschen im warmen, geschlossenen Raum, am liebsten nachts, allein, | |
mit Musik. Wer Freiberufler ist und Künstler noch dazu, kennt diese Zeiten, | |
die man überbrücken muss (auch wenn fast niemand das zugibt). | |
Seit einigen Jahren arbeite ich dann gelegentlich als Chauffeurin; fahre | |
Politiker:innen, Rockstars, afrikanische Prinzessinnen – und ich tue das | |
gern. Fahren strengt mich kaum an. Der Job ist so abwechslungsreich wie die | |
Gäste und Orte. Man bekommt Innenansichten zum G7- oder | |
Weltwirtschaftsgipfel, fährt mit Obamas Tante zum Shoppen, macht | |
Kolonnenfahrten durch abgesperrte Innenstädte. | |
Vor allem aber kann man kostenlos diverse Rock- und Popkonzerte erleben. | |
„Wie angenehm, eine Frau am Steuer!“, höre ich immer wieder. Denn ja, | |
Frauen in dem Job sind eine Seltenheit. Und so gibt es natürlich auch | |
Skepsis, vor allem von den Älteren. Wie zum Beispiel von den Musikern einer | |
Reggae-Band aus den Achtzigern. Sie begrüßen mich mit einem schockierten | |
„Sorry, where is the driver?“ | |
„I’m the driver“, sage ich. | |
Lautes Gelächter. „Oh no!“, ruft einer. „We all gonna die!“ | |
Bei solchen Gästen fahre ich dann gern absichtlich holpernd los, verwechsle | |
scheinbar Gas -und Bremspedal und ziehe im ersten Gang bis 50 km/h hoch. In | |
den langen Wartezeiten kann man lesen oder, wie ich es gerade tue, | |
schreiben. | |
Ich sitze im Backstagebereich des früheren Flughafens Tempelhof in Berlin | |
und überarbeite diesen Artikel übers Chauffeursein als Frau, den ich vor | |
einiger Zeit ent- und dann verworfen habe. Eine Redakteurin hatte mich bei | |
einem privaten Kaffee gefragt, wie es so sei, dieser Nebenjob als Frau. Ob | |
ich darüber nicht etwas schreiben wolle. | |
Also schrieb ich etwas darüber, was mir weniger leicht fiel als gedacht. | |
Denn wie ist es als Frau in einer Männerbranche, überlegte ich? Und kam | |
letztlich zu dem Schluss: wie überall sonst auch. Die meisten sind nett, | |
einige wenige fallen aus dem Rahmen. Die Netten gucken zu und nicken nett. | |
Nur, dass Dinge, die sonst subtiler ablaufen, mir beim Fahren sehr direkt | |
begegnen. Aber wie erzählt man, ohne in diesen leidigen Empörungston zu | |
verfallen, von etwas so Erwartbarem wie Abwertungen, Übergriffigkeiten und | |
der Unmöglichkeit, Grenzen zu ziehen. Von Keine-Widerrede-Geboten, von | |
Coping-Mechanismen, die Situationen entkräften sollen. Von Kollegen, die | |
einen, im doppelten Sinn, von der Straße drängen wollen. | |
Und wie vor allem von jener großen Masse der Netten, die weggucken, nichts | |
merken und damit all das decken und unterstützen. | |
Einfach beschreiben, dachte ich. Und zeigte den ersten Entwurf meinem guten | |
Freund Wolfram, der mich zum Abendessen besuchte. Er ist Journalist für | |
Außenpolitik und aus der bildungsbürgerlichen Elite, 52 Jahre alt und sitzt | |
fest im Sattel. Unerwartet entbrannte über meinen Text ein großer Streit | |
zwischen uns – durch den mir erst klar wurde, dass es mir in der Geschichte | |
um etwas Größeres als Unmut ging. Doch zunächst einige Versatzstücke aus | |
der Chauffeursgeschichte selbst. | |
Die Frau als Fahrerin | |
Dass es mit Fahrenkönnen allein nicht getan ist, verstand ich mit der | |
anderthalbstündigen Eignungsprüfung. Seh- und Hörtests, Orientierung, | |
Schnelligkeit und Reaktion, Konzentration, Belastbarkeit, Ausdauer. Wider | |
eigenes Erwarten bestehe ich und beantrage den P-Schein. „Einen | |
Führerschein zur Personenbeförderung“, erläutere ich dem Herrn des | |
Bürgeramtes, der mich ungläubig ansieht. | |
„Lass dir nicht blöd kommen von den Kerlen“, sagt mein erster Auftraggeber. | |
Er arbeite gern mit Frauen. Die Typen machten den Job oft nur, um mit | |
dicken Autos zu protzen. | |
„Zwei Dinge will ich vorher klären“, sage ich. „Ich lasse mich nicht zum | |
Rasen drängen. Und ich möchte, dass Männer hinten sitzen.“ | |
„In deinem Wagen bist du der Boss“, sagt er. | |
Die anderen Fahrer sind meist ältere Herren, Familienväter mit gutem | |
Benehmen, hilfsbereit, charmant, kollegial, bodenständig. Die Jüngeren mit | |
übertriebener Etikette und gegeltem Haar. Dazu ein paar Autoprolls, die so | |
tun als ob. In den ersten Wochen erlebe ich einen rasanten Aufstieg, | |
bekomme viele Anfragen und auch gleich eine Festanstellung angeboten. | |
Als uns auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos die Wagen zugeteilt werden, | |
bekomme ich das in Metallicrosa. | |
„Na toll“, scherze ich, „die Frau muss das blöde rosa Auto fahren.“ | |
Allgemeines Lachen. | |
Das „blöde rosa Auto“ sei ein Bentley. Und ich diejenige, die ihn fahren | |
dürfe. Was mir alle neiden würden. | |
Dann lachen wir zusammen. Nein, ich kann mich wirklich nicht beschweren, | |
denke ich. Ich werde eher bevorzugt als benachteiligt. Natürlich aber immer | |
mit dem Kommentar, dass Fahrfrauen „eben sexy“ seien. | |
Aha. Was soll’s: Es läuft für mich. | |
Kannst du das trotzdem machen? | |
Rockkonzert, Gewummer hinter der Bühne, die Tür meines schwarzen Vans | |
öffnet sich. „Hey“, sagt der Teamleiter, „tut mir echt leid, aber kannst… | |
ausnahmsweise ein paar betrunkene B-Promis ins Hotel fahren?“ | |
„Wenn sie hinten sitzen“, sage ich. | |
„Logo, kein Problem.“ Hinten gehen die Schiebetüren auf, die Musiker werfen | |
sich auf die Sitze. Die Beifahrertür geht auf. Der Betrunkenste von allen | |
will sich auf den Sitz neben mir hochstemmen. | |
„Nein, hier vorne leider nicht“, sage ich. | |
Er beachtet mich nicht und macht es sich auf dem Beifahrersitz bequem, | |
zieht die Tür zu. | |
Ich erarbeite mir seine Aufmerksamkeit, irgendwann sieht er mich an. Dass | |
vorne leider niemand sitzen dürfe, sage ich freundlich. „Oh“, sagt er. Und | |
schnallt sich an. | |
Der Teamleiter kommt zu meinem Fenster. „Ich habe gesagt, keiner neben | |
mir“, sage ich. | |
„Ja, sorry, das wird irgendwie nichts“, sagt er. | |
„Warum nicht? Hinten sind mehrere Plätze frei.“ | |
„Ich weiß. Kannst du das trotzdem machen. Danke.“ Sagt er und ist weg. | |
Erster Gang; der Betrunkene macht es sich bequem, lehnt sich mit dem Rücken | |
an die Beifahrertür. Sieht an meinem Körper rauf und runter, inspiziert | |
mich mit dreckigem, objektivierendem Blick. | |
Zweiter Gang, er fragt nach meinem Namen. Und der Nachname? Ob ich einen | |
Freund hätte. | |
Eine schwere Alkoholfahne weht mir ins Gesicht. | |
Dritter Gang: Warum ich nicht schneller fahre. Warum ich jetzt links fahre. | |
Warum jetzt rechts, warum hier fünfzig, warum hier dreißig. Bremsen. | |
Ich wolle mich gern konzentrieren, sage ich höflich, aber bestimmt. Er hebt | |
die Hände „okay, okay, sorry Misses, sorry.“ | |
Wir fahren auf die volle Autobahn, Rushhour. Ich ziehe rüber auf die | |
Überholspur. Währenddessen reicht er mir seine Hand rüber und stellt sich | |
mir mit seinem Vornamen vor. | |
Wie darauf reagieren? Gebe ich ihm die Hand, fühlt er sich eingeladen, | |
verweigere ich ihm die Aufmerksamkeit, könnte es ihn provozieren und | |
aggressiv machen. Ich entscheide mich für Nichtbeachten. Er schaltet das | |
Radio ein, dreht die Musik laut auf. Er wiederholt seinen Namen und streckt | |
die Hand noch weiter zu mir rüber, direkt vor meine Augen. Ich schiebe sie | |
weg. Hinten wird gegackert. | |
Am Ziel angekommen, springen die anderen aus dem Auto. Ob wir uns | |
wiedersehen würden. Bald? Heute Abend? Mehrfach bitte ich ihn, den Wagen zu | |
verlassen, mehrfach tut er es nicht und wird immer drängender. Irgendwann | |
steigt er, zum Glück, doch noch aus. | |
Fast dieselbe Szene ereignet sich nur wenige Wochen später wieder. Und | |
wieder. Ein betrunkener Staatsgast droht mir auf nicht beantwortete Fragen | |
zu meinem Privatleben mit „Konsequenzen“. | |
Am selben Abend bekomme ich eine Nachricht von einem Filmregisseur, mit dem | |
ich einen Film drehe. Ob wir „nicht mal zusammen einen Kaffee trinken | |
wollen, einfach so“. | |
Wie reagiere ich darauf? Der Vertrag ist noch nicht unterschrieben, ihn | |
ablehnen könnte sich ungünstig auswirken. Was auch immer ich tue: Ich werde | |
in die Situation gebracht, mir eine strategisch schlaue Reaktion ausdenken | |
zu müssen. | |
Immer wieder beharre ich von Neuem darauf: „Keiner auf dem Beifahrersitz.“ | |
Und jedes Mal wieder heißt es: „Nur diese eine Ausnahme.“ | |
Mein Spaß am Job wird abgelöst von latenter Gereiztheit. Ich merke, wie ich | |
langsam „etwas schwierig“ werde. Vom männlichen Teamleiter wird mir | |
gespiegelt, dass meine Gereiztheit gerade unangemessen sei. Nicht die | |
Tatsache, dass mir diese einzige Sache, die ich vorausschauend für mich | |
eingefordert hatte (Sicherheit), nicht zugestanden wird, ist unangemessen, | |
sondern meine Reaktion darauf. | |
Als ich beim Mittagessen mit den Kollegen zufällig erfahre, dass alle (es | |
sind alles Männer) mehr Geld bekommen als ich, kann ich darüber nur müde | |
lachen. Und lasse mir das, als ich den Auftraggeber darauf aufmerksam | |
mache, als „Versehen“ erklären und korrigieren. „Sorry, bekommst natürl… | |
dasselbe wie alle anderen.“ | |
Anfragen lehne ich nun immer häufiger aus Unlust ab. | |
Zu konfrontativ | |
Mein langjähriger Freund ist beim Lesen schon jetzt genervt. Zu sehr auf | |
Krawall gebürstet sei mein Artikel, zu konfrontativ. Der gemeinsame Abend | |
nimmt nun schnell ein Ende und ich räume die Teller ab. | |
Später schreibt er mir eine Nachricht. Er denke, „im Männlichen sei das | |
Toxische von vornherein mit drin“. Und „da viele, die meisten ja offenbar, | |
so seien, zeigt das doch nur eine gewisse, nun ja, Normalität, | |
Durchschnittlichkeit“. Daher fände er den Artikel „ermüdend“, das Thema | |
„nicht abendfüllend“. | |
Ich solle nicht „so gereizt“ schreiben und stattdessen „ruhig erzählen, | |
vielleicht ein bisschen mit Verweisen auf die Kulturgeschichte“. Filme wie | |
„Sabrina“ oder Zitate aus Martin Walsers Chauffeursroman „Seelenarbeit“ | |
einflechten, dann werde die Sache erst interessant. | |
Auch ich würde mich lieber mit Fahrerromantik und Geisteswissenschaften | |
befassen, antworte ich. | |
Auftritt des Schranks | |
Im nächsten Schritt erzählte ich von Mobbing durch einen Kollegen mit der | |
Statur eines Schranks, dreimal so breit wie ich und drei Köpfe größer, | |
dessen Annäherungsversuche ich abgewehrt habe. Und von dem anderen | |
Kollegen, der sich das alles, mit Händen in den Taschen, mitangesehen hat. | |
Tatsächlich war dies die einzige Situation dieser Art mit einem Kollegen, | |
doch die hatte es in sich. | |
Wir hatten japanische Staatsgäste und fuhren in einer Dreierkolonne. | |
Kolonnen bleiben immer dicht beieinander, lassen keine anderen Wagen | |
dazwischen und fahren mit geringstem Abstand und in vorgegebener | |
Reihenfolge. Wird einer abgehängt, warten die anderen, die Kolonne bleibt | |
immer zusammen. | |
Der nette Nicker war Wagen 1, der Schrank Wagen 2, ich Nummer 3. In der | |
Wartezeit, ich sitze im Wagen und lese, nähert sich der Schrank. | |
Er zwinkert mir zu, pfeift mir nach, lehnt sich mit den Unterarmen auf den | |
Rahmen meines geöffneten Fensters: „Na du.“ | |
Er will plauschen. Ich nicht. Er schiebt den Kopf durch mein Fenster, um | |
etwas am Display zu fummeln, kommt mir dabei viel zu nah. Weiter redet er. | |
Bald ist eine halbe Stunde um, und niemand hat geredet außer ihm. Über | |
sich. Was er alles ist und kann und schon erlebt hat. Nicht, dass ich das | |
nicht schon unzählige Male erlebt hätte. | |
Bei jedem der unzähligen Male werde ich in die Situation gebracht, zu | |
überlegen, wie ich mich jetzt strategisch am besten dazu verhalte, um den | |
anderen zum einen nicht gegen mich aufzubringen (wir haben ja noch drei | |
Tage vor uns), zum anderen nicht zu höflich zu sein, sodass er das als | |
Einladung verstehen könnte. | |
Da der Schrank zu jenen gehört, die subtile Botschaften von Ablehnung nicht | |
verstehen oder verstehen wollen, versuche ich es lächelnd mit einem | |
lockeren Spruch: „Na, nix zu tun – oder was?“ | |
Meine Konflikt vermeidende Ablehnung interessiert den Schrank nicht – er | |
will schließlich was anderes. | |
Einzelne Tropfen fallen auf meine Frontscheibe. Ich nutze es als Ausrede, | |
um das Fenster zu schließen, „der Regen, leider“. Was ihm sichtlich | |
missfällt. | |
Und ab diesem Moment ist der Spaß vorbei. Als wir wieder losfahren, | |
beschleunigt er beim Anfahren an der Ampel wie ein Pubertierender, fährt | |
über gelbe Ampeln, sodass ich vor roten hängenbleibe, und wartet dann nicht | |
auf mich. Der nette Nicker in Wagen 1 bekommt nichts mit. | |
Beim nächsten Stopp spreche ich es an: Auf mich warten bitte, nicht über | |
gelbe Ampeln fahren, mich nicht abhängen. Der Schrank guckt, während ich | |
rede, über mich hinweg; der nette Nicker nickt nett. | |
Auf der nächsten Fahrt dasselbe wie vorher. Er fährt nun sogar über gerade | |
auf Rot springende Ampeln. Schließlich verliere ich die Kolonne. Wo die | |
anderen seien, fragen meine japanischen Gäste irritiert. Später auf der | |
vollen Autobahn, ich fahre auf der Überholspur, entdecke ich den Schrank im | |
dichten Gedränge auf der rechten Spur neben mir. | |
Hinter uns nähert sich Polizei mit Blaulicht, ich ziehe rüber, setze mich | |
gezwungenermaßen vor ihn. | |
Angekommen am Zielort, springt er aus dem Wagen, reißt meine Beifahrertür | |
auf, bäumt sich vor mir auf und brüllt: „Eins sage ich dir, das machst du | |
nicht noch mal mit mir!“ | |
„Was?“, frage ich. | |
„An mir vorbeiziehen!“ | |
„Hängt mich doch einfach nicht ab“, sage ich. | |
Er tobt. Wie er denn dastehe vor seinen Gästen, wenn ich ihn überholen | |
würde. „Du überholst mich nicht, ist das klar!“, sagt er. Der nette Nicker | |
kommt dazu: „Ey – nicht vor den Gästen“, sagt er. | |
Die Gruppe von Japanern beobachtet ängstlich den Wutausbruch. | |
„Nicht vor den Gästen?“, sage ich leise. | |
Der nette Nicker geht zurück in seinen Wagen und hält sich wieder raus. Ich | |
gehe zum Schrank und sage, dass so was nicht nur vor den Gästen nicht gehe, | |
sondern überhaupt nicht. | |
Ab jetzt werde ich komplett ignoriert. Zielorte, die Fahrer immer vorher | |
wissen müssen, nennt er mir nicht mehr. Auf Fragen bekomme ich keine | |
Antworten. Und der nette Nicker sitzt schon im Wagen und fährt los. | |
Mein Fahrstil wird lächerlich gemacht. Bei Besprechungen flüstert der | |
Schrank und dreht mir den Rücken zu. Der nette Nicker nickt nett. Bis zum | |
Schluss bleibt es ein Kampf. Nach diesen Tagen bin ich völlig k. o. | |
Ich habe länger überlegt, ob es klug ist, mich zu beschweren. Und wäre dies | |
mein Hauptberuf – ich hätte vielleicht „keine Probleme machen“ wollen (d… | |
Ansprechpartner sind zudem fast immer Männer) und mich stattdessen | |
wochenlang vor Wut hellwach durch die Nächte gewälzt. | |
Ich habe mich dann doch beschwert. Anzusprechen war für diesen Job eine | |
Frau. Man werde mit dem Kollegen sprechen, sagte sie. Das gehe so ja | |
wirklich gar nicht. Aber seitdem überlege ich bei jeder Anfrage, ob dieser | |
Kollege eventuell mit von der Partie sein könnte. Und sage öfters | |
vorsorglich ab. | |
Sind es Abendveranstaltungen, überlege ich, wie betrunken die Gäste sein | |
könnten. Und lehne ebenfalls ab. | |
Laut der deutschen Studie „Sexismus im Alltag 2020“, so die Autorin | |
Franziska Schutzbach, gäben viele Frauen an, dass sie Belästigung „nicht so | |
schlimm“ fänden. Es sei schließlich „normal“. Frauen würden die Situat… | |
jedoch häufig aus Selbstschutz unterschätzen und fühlten sich in Wahrheit | |
oft unbehaglich. Die Gesellschaft signalisiere ihnen aber, dass ihre | |
Gefühle nicht stimmen, was ihr Vertrauen in die eigene Wahrnehmung | |
unterwandere. | |
Decker und Vermeider | |
Wolfram traf ich wenige Wochen später auf einer Geburtstagsfeier. Er saß da | |
mit seinem besten Freund beim Bier. Einem Mann im selben Alter wie er. | |
Ich war gut gelaunt, also ging ich zu den beiden. „Wolfram und ich haben | |
ein bisschen Ärger“, witzle ich versöhnlich. | |
„Schon gehört“, sagt sein Freund. „Ja, Frauenthemen und so, da werden wir | |
uns nicht einig.“ Der Freund knufft Wolfram in den Arm: „Mensch Junge,“ | |
sagt er, [1][„solche Themen vermeidet man doch!“] Er lacht laut. | |
„Richtig, das tut Mann“, sage ich und gehe weg. | |
Als ich beim Schreiben im letzten Drittel dieses Textes angekommen bin, | |
fiel mir auf, dass es hier um etwas Größeres als Unmut geht. Ums Aufhören. | |
Aufhören mit einer Tätigkeit, weil zu vieles nicht mehr hinnehmbar ist, was | |
die große Mehrheit trotz all der Jahre feministischer Kämpfe, trotz #Metoo | |
und überfüllter Bücherregale mit kämpferischer – oder extra nicht so | |
kämpferischer „weil man muss ja im Dialog bleiben“-Frauenliteratur – noch | |
immer für „Normalität“ hält: Die Aktion des anderen. Ja, meine Reaktion: | |
nein. Das ist halt [2][die Normalität, wie mir mein Freund erklärt]. | |
Und so bleibt es den Frauen überlassen, damit zurechtzukommen. Was aber, | |
wenn sie damit dann doch nicht zurechtkommen wollen? Sich weiter aufreiben? | |
Und schließlich, weil ihnen die eigene Gesundheit zu schade ist für diesen | |
Unsinn, [3][aufhören mit etwas, was sie gerne tun?] | |
Ganz zu schweigen davon, dass es ihre Existenz sichert. Immer wieder höre | |
ich davon, dass Frauen, insbesondere die kompetenteren, Betrieben den | |
Rücken kehren, und keiner weiß, warum. | |
Nachgefragt wird nicht, Auseinandersetzungen finden kaum statt. Oder wenn, | |
dann schweigen Vorgesetzte häufig und nicken mit den Händen in den | |
Hosentaschen. Die stillen Gewinner sind so die, deren Handlungen und Worte | |
deutlich machen: „Du überholst mich nicht.“ | |
Sie haben gewonnen. An Macht. An Geld. An Existenzrecht. All dies, ohne | |
auch nur irgendwas davon zu merken. | |
Mit Wolfram ist nach wie vor Funkstille. | |
Ich würde meine Geschichte aber ihm zuliebe gerne mit einem Zitat aus | |
Martin Walsers Chauffeursroman „Seelenarbeit“ beenden. | |
„Xaver griff nach dem leisen, unerträglichen Weckergeräusch und stellte es | |
ab.“ | |
30 Nov 2024 | |
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Alice Schaller | |
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