| # taz.de -- Krise bei den Grünen: Der Bündnisfall | |
| > Was für eine Partei wollen die Grünen in Zukunft sein? Der Rücktritt der | |
| > beiden Vorsitzenden hat Diskussionen ausgelöst. Eine Analyse. | |
| Bild: Robert Habeck tuschelt im Bundestag mit Franziska Brantner – seiner k… | |
| So schnell geht also die Kernschmelze. Anfang Juni haben die Grünen ihre | |
| Niederlage noch gefasst gefeiert. Es war der Abend der Europawahl, der | |
| Bundesverband lud Mitglieder und Journalisten in eine Berliner Konzerthalle | |
| ein, und die Stimmung hatte was von einer After-Work-Party. Gut, | |
| zwischendurch ätzte schon jemand gegen den Vorstand. Und dass 12 Prozent | |
| eine Schlappe sind, leuchtete auch allen ein. Aber hey, früher war es schon | |
| mal schlimmer. Ab auf die Tanzfläche. | |
| Drei Niederlagen später, am vergangenen Sonntag in Potsdam, sah es dann | |
| anders aus. Einen kurzen Jubel gab es noch um 18 Uhr, denn da stand die | |
| ARD-Prognose für die Brandenburgwahl bei 5,0 Prozent. Annalena Baerbock, in | |
| der ersten Reihe zwischen der Landesspitze, klatschte aber schon da nur | |
| zaghaft. Omid Nouripour schlich ratlos aus dem Pulk. Auf die Bühne gehe er | |
| noch nicht, was solle er auch sagen, die Zahlen gäben nichts her. | |
| Drei Tage später. Nouripour und Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang [1][treten | |
| zurück]. Weil es der designierte Kanzlerkandidat Robert Habeck so wollte, | |
| wie es später unter Abgeordneten heißt und manche Journalisten raunen? Das | |
| ist zumindest in dieser Eindeutigkeit fraglich. Aber wenn entweder der | |
| Vizekanzler den Vorstand rauskantet oder andere aus der Partei das | |
| fälschlicherweise behaupten und damit beide Seiten mies dastehen lassen – | |
| dann ist es für alle unübersehbar, wie tief die Grünen [2][in der Krise | |
| stecken]. | |
| Am Ende der Woche hat der Rücktritt, der auch innerhalb der Grünen fast | |
| alle überraschte, aber zumindest eines bewirkt: Die Partei hat jetzt eine | |
| offene Debatte über ihre Strategie im Bundestagswahlkampf und darüber | |
| hinaus. Gespräche und Planungen dazu gab es zwar schon vorher, bis zur Wahl | |
| bleiben schließlich nur zwölf Monate. Jetzt läuft die Diskussion aber viel | |
| bestimmter, auch weil die Positionsbestimmung eng mit der Frage der | |
| Nachfolge der Vorsitzenden verknüpft ist. Bis zum Parteitag sind es noch | |
| sieben Wochen, bis dann muss das geklärt sein. | |
| Die Strategiedebatte ist außerdem überfällig – allein schon wegen des | |
| Negativlaufs der letzten Monate, der [3][bei den Wahlen im Osten] sogar an | |
| die Existenz ging. Vor allem aber, weil die letzten Jahre – das Regieren | |
| und die globalen Krisen – die Position der Grünen im Parteiengefüge | |
| vollkommen verschoben haben. | |
| ## Koalitionspartner heizen Aversionen gegen die Grünen an | |
| Eine Bündnispartei wollten sie vor Kurzem noch werden. Beerdigt ist das | |
| Konzept nicht, aber schwer beschädigt. Den Begriff prägten Robert Habeck | |
| und Annalena Baerbock, als Vorsitzende noch frisch und aufregend, während | |
| sie der Partei ein neues Grundsatzprogramm gaben. Was so eine Bündnispartei | |
| ausmacht, formulierte Habeck 2019 in einem viel beachteten Interview mit | |
| der FAZ. Unter anderem: Sie stehen mittendrin und regieren in verschiedenen | |
| Bundesländern mit fast allen anderen Parteien. „Die Grünen sind in mehr | |
| unterschiedlichen Koalitionen als jede andere Partei. Es rückt unsere | |
| Partei ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte“, sagte er. | |
| Das ist heute nicht mehr so. Die Grünen stehen viel weiter am Rand. Schon | |
| aus rechnerischen Gründen führten mehrere Wahlniederlagen zum Verlust von | |
| Regierungsbeteiligungen. Die Linkspartei und mit ihr die allerletzten | |
| rot-rot-grünen Träume taumeln dem Ende entgegen. Eine Koalition mit dem BSW | |
| hatten die Grünen in Sachsen vorzeitig ausgeschlossen, zumindest in eine | |
| Richtung machen sie also dicht. Und in den übrigen Richtungen wenden sich | |
| alle anderen ab. Einst wollten die Grünen durch lagerübergreifende | |
| Koalitionen Akzeptanz für ihre Politik in fremden Milieus gewinnen. Das | |
| klappt heute vielleicht noch in Schleswig-Holstein. Anderswo, auch im Bund, | |
| erleben sie das Gegenteil: Koalitionspartner heizen Aversionen gegen die | |
| Grünen an. | |
| Regierungsbündnisse sind das eine, gesellschaftliche Allianzen das andere: | |
| „Als Bündnispartei definieren wir Ziele, suchen dafür Partner und | |
| organisieren Mehrheiten für die nächsten Schritte“, sagte Habeck 2019 in | |
| der FAZ. Je nach Thema könnten sich die Mitstreiter unterscheiden, die | |
| Gesellschaft sei schließlich komplex geworden. Mal seien es die | |
| Arbeitgeberverbände, mal die Zivilgesellschaft, mal beide. | |
| Das ist inzwischen auch nicht mehr so einfach. Die Grünen haben ihre | |
| Netzwerke zwar ausgebaut. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) | |
| begleitete die Haushaltsverhandlungen im Sommer mit einem | |
| Forderungskatalog, den auch jeder linke Grüne unterschrieben hätte: ein | |
| 400-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz. Und | |
| als Robert Habeck vor Kurzem ein Stahlwerk in Niedersachsen besuchte, das | |
| seine Produktion klimafreundlich umrüstet, wären sie ihm da fast um den | |
| Hals gefallen. Die Regierung hatte einen Teil des Umbaus bezahlt. | |
| Wenn es beim Regieren konkret wird, bleiben Interessengegensätze aber nicht | |
| aus. Die Autohersteller konnte Habeck beim Krisengipfel in dieser Woche nur | |
| mit der Ankündigung besänftigen, sich für die Lockerung von | |
| EU-Klimaauflagen einzusetzen. So ein Entgegenkommen verärgert auf der | |
| anderen Seite Bündnispartner von einst – in diesem Fall sind es die | |
| Umweltverbände, bei der Kindergrundsicherung die Sozialverbände, in der | |
| Asylpolitik die Flüchtlingsorganisationen. | |
| ## Realos auf entscheidenden Führungsposten | |
| Dass am Mittwoch der gesamte Vorstand der Grünen Jugend ankündigte, [4][aus | |
| der Partei auszutreten] und ein neues Projekt zu starten, könnte weitere | |
| Brücken in diese Richtung zerstören: Den Kontakt zu linken Bewegungen hielt | |
| am Ende vor allem die Jugendorganisation. Und wie viele Mitglieder den | |
| Abtrünnigen folgen, ist zwar noch nicht absehbar. Alleine gehen sie aber | |
| sicher nicht. | |
| „Ich möchte Vorsitzender für die gesamte Partei sein, ich kandidiere | |
| unabhängig von Flügeln.“ Das schrieb Habeck, als er sich 2017 für den | |
| Parteivorsitz bewarb, und das klappte ja auch: Zusammen mit Annalena | |
| Baerbock bildete er zwar eine Realodoppelspitze. Um die ganze Partei | |
| mitzunehmen, setzte das Duo aber auf verhältnismäßig linke Inhalte. | |
| Seitdem die Grünen regieren, sind die Realos auf den entscheidenden | |
| Führungsposten in Partei, Fraktion und Kabinett wieder in der Überzahl. Die | |
| Gegenseite mitzunehmen funktionierte aber nur bedingt. Die Bruchlinie | |
| zwischen den Flügeln wird dadurch wieder sichtbarer. Es gab in letzter Zeit | |
| keinen Parteitag, an dem das Regierungshandeln nicht von links angefochten | |
| wurde. Am Ende war der Aufstand jedes Mal vergeblich. Deswegen konnte es | |
| überhaupt erst zum Exodus der Grünen Jugend kommen. | |
| Die Austritte kann man natürlich abtun, wie viele in der Partei es machen: | |
| Die jungen Leute hätten eben zu lang im Marx-Lesekreis gesessen. Aber über | |
| die letzten Jahre hat sich doch etwas verändert. „Wir müssen uns die | |
| Offenheit bewahren, über die soziale Marktwirtschaft hinauszudenken“, | |
| hieß es 2019 seitens der Parteijugend – von der damaligen Vorsitzenden | |
| Ricarda Lang. | |
| Danach erfolgte deren Weg vom Antikapitalismus in Richtung Mitte recht | |
| rasant. Als Parteichefin hielt sie eigene Überzeugungen zurück, bemühte | |
| sich um den Ausgleich, forderte einmal sogar in einem gemeinsamen Beitrag | |
| mit Winfried Kretschmann schnellere Abschiebungen. Unabhängig von der | |
| Frage, ob das zu viel der Geschmeidigkeit war: Vor fünf Jahren fiel es der | |
| Partei leichter als heute, das Potenzial am linken Rand zu integrieren. | |
| ## Habeck will als Merkel+ in den Wahlkampf ziehen | |
| Und in weiteren fünf Jahren? Wie viel dann weggebrochen sein wird, wie sich | |
| Gesellschaft und Parteiensystem entwickeln und welche Rolle die Grünen | |
| dabei spielen werden, ist offen. In der Strategiedebatte, die jetzt läuft, | |
| wird auch darüber nachgedacht. | |
| Habeck, vereinfacht gesagt, will als eine Art Merkel+ in den Wahlkampf | |
| ziehen, wie man in seinem Gastbeitrag im Rolling Stone nachlesen konnte | |
| (siehe dazu auch die Kolumne auf Seite 6). Es ist auch nicht | |
| ausgeschlossen, dass das funktionieren kann. Das letzte Umfragehoch der | |
| Grünen ist immerhin erst zwei Jahre her, und damals gab es auch schon | |
| Krise, Krieg und Kompromisse. Es könnte aber auch schiefgehen: Wenn der | |
| Kurs auf der rechten Seite nicht mehr richtig zündet und auf der linken zu | |
| viel verloren geht, enden die Grünen als mittige Nischenpartei neben CDU | |
| und SPD. Links bliebe immerhin Platz für eine neue Kraft – oder aber es | |
| verschiebt sich einfach das gesamte Parteiensystem nach rechts. | |
| Das Gegenmodell vieler linker Grüner: nicht die reine Lehre, nicht aufs | |
| alte Kernklientel zurückziehen, sondern anders wachsen – mithilfe von | |
| Verteilungsfragen. Im Kern ist das über die Flügel hinaus anschlussfähig. | |
| Robert Habeck selbst sprach 2019 noch vom „Anspruch auf soziale Sicherheit | |
| im Wandel“. | |
| Aber wie radikal darf es sein? Die steilsten Forderungen enthält ein | |
| Positionspapier des Europaabgeordneten Rasmus Andresen, veröffentlicht am | |
| Mittwoch, kurz nach der Rücktrittsankündigung. Darin stehen 400 Milliarden | |
| Euro für die Infrastruktur, wie beim BDI. Und: 16 Euro Mindestlohn, | |
| bundesweite Mietpreisbremse, Vermögensteuer für Superreiche. | |
| Die Milieus der Mitte und die der Prekären, vom Abstieg bedroht oder | |
| betroffen, werden für die Grünen erreichbar – die einen wieder, die anderen | |
| erstmals. Könnte klappen. Wenn nicht, könnte aber so ein Kurs auch wieder | |
| in die Nische führen. Und zwar in die linke. Das wäre aber auch nur der | |
| zweitschlechteste Fall. Immerhin wäre die Nische dann wieder besetzt. | |
| 27 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ruecktritt-des-Gruenen-Vorstands/!6035691 | |
| [2] /Krise-der-Gruenen/!6035833 | |
| [3] /Gruenen-Niederlage-im-Osten/!6033626 | |
| [4] /Gruene-Jugend-Spitze-tritt-aus/!6039134 | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
| ## TAGS | |
| Omid Nouripour | |
| Ricarda Lang | |
| Robert Habeck | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| wochentaz | |
| GNS | |
| Baden-Württemberg | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Klima | |
| Sudan | |
| Japan | |
| Schwerpunkt AfD | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ländle-Grüne kriseln: Kretschmann hat Krach mit Grünen | |
| In Baden-Württemberg streiten der grüne Ministerpräsident und seine | |
| Landtagsfraktion über ein Gleichbehandlungsgesetz. Zur Freude der CDU. | |
| Fraktionschefin über Grünen-Krise: „Die Mitte ist linker, als man denkt“ | |
| Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge will die Union offensiver angehen. | |
| Ein Gespräch über die Krise ihrer Partei und Robert Habeck als | |
| Strippenzieher. | |
| Bewerbung um den Grünen-Parteivorsitz: Linke Grüne gehen knapp in Führung | |
| Kein Durchmarsch für Robert Habeck: Der linke Parteiflügel ist mit den | |
| jüngsten Personalien zufrieden. Um den Kurs der Partei gibt es dennoch | |
| Sorgen. | |
| Hamburger Grünen-Abgeordnete tritt aus: Ab zur Linken | |
| Aderlass bei den Landesverbänden in Niedersachsen und Hamburg. Die | |
| Bürgerschaftsabgeordnete Ivy May Müller wechselt zur Linksfraktion. | |
| Offensive in Sudan: Großoffensive beginnt | |
| Sudans Armee will mit einer Offensive die Hauptstadt Khartum zurückerobern. | |
| Derzeit hat die paramilitärische Miliz RSF die Kontrolle | |
| Japans neuer Premier Ishiba: „Verteidigungs-Freak“ übernimmt | |
| Der ehemalige Verteidigungsminister Shigeru Ishiba wird Japans neuer | |
| Premier. Er drängt auf eine Reform der regierenden Liberaldemokratischen | |
| Partei. | |
| Forderung nach AfD-Verbot: „Drehbuch der Verächtlichmachung“ | |
| Die Thüringer Landtagskonstituierung endet im Eklat. Der CDU-Mann | |
| Wanderwitz und Thüringens SPD-Chef Maier wollen nun ein AfD-Verbot | |
| forcieren. |