# taz.de -- Politikwissenschaftler über Deutschland: „Ein Umbruch des Partei… | |
> Die Landtagswahlen haben gezeigt, wie sehr die liberale Demokratie in | |
> Gefahr ist, sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. Auch das | |
> BSW kritisiert er. | |
Bild: Eine Brandmauer sollte anders aussehen. Sichtschutz von der AFD vor GEgen… | |
taz: Herr Schroeder, ist die liberale Demokratie in Deutschland nach den | |
Landtagswahlen in einer existenzbedrohlichen Krise? Die AfD hat am | |
Donnerstag im Thüringer Landtag ja eindrucksvoll vorgeführt, dass sie ihr | |
[1][an den Kragen will]. | |
Wolfgang Schroeder: Die liberale Demokratie wird nicht mehr als | |
alternativlos betrachtet. Ihr Anspruch, alle mitzunehmen und anzuerkennen, | |
wurde zwar auch in den vergangenen 70 Jahren nie ganz eingelöst: Es gab | |
immer dominante Gruppen und weniger anerkannte. Aber inzwischen haben wir | |
es mit Akteuren wie der AfD zu tun, die diese Integrationsdefizite | |
politisieren. | |
taz: Sie haben jüngst eine Studie zur Brandmauer gegen die AfD auf | |
kommunaler Ebene in Ostdeutschland gemacht, die Ihren Ergebnissen zufolge | |
besser funktioniert als gedacht. Wie das? | |
Schroeder: Unsere Hypothese war, dass die Brandmauer stark angeschlagen | |
ist, weil die Leute vor Ort sich kennen und doch nur über Sachthemen | |
entscheiden, also Ampeln und Bürgersteige. Wir haben die 2.400 Anträge der | |
AfD in den ostdeutschen Kreistagen von 2019 bis 2024 untersucht. 80 Prozent | |
wurden abgelehnt, nur bei 10 Prozent gab es relevante Unterstützung. Im | |
Zeitverlauf nimmt die Unterstützung sogar ab. Die demokratischen Parteien | |
wollen mit der AfD nicht gemeinsame Sache machen. Es gibt ein Bewusstsein | |
der Gefährdung. Das kann sich in der Folge der Kommunalwahlen 2024, bei | |
denen die AfD gewonnen hat, allerdings wieder verändern. | |
taz: Die AfD hat in den Landtagen in Thüringen und Brandenburg eine | |
[2][Sperrminorität], kann also Entscheidungen blockieren, für die es eine | |
Zweidrittelmehrheit braucht, etwa die Ernennung von Verfassungsrichtern. | |
Ist jetzt automatisch ein Loch in der Brandmauer? | |
Schroeder: Die AfD ist damit in einigen Bereichen als anerkannter Akteur in | |
der Arena der Verhandlungen, des Kompromisses und Tausches. Vermutlich | |
lassen sich sogar Tauschgeschäfte nicht vermeiden. | |
taz: War die Strategie von Dietmar Woidke in Brandenburg „Ich oder die AfD“ | |
sinnvoll mit Blick auf die Sicherung der liberalen Demokratie? | |
Schroeder: Da gibt es zwei Lesarten. Es war erfolgreich, weil die AfD nicht | |
stärkste Partei wurde. Aber für die Pluralität des Parlaments, die | |
Koalitionsbildung und die Repräsentation ist es problematisch. Im Parlament | |
ist etwa die Ökologie nicht mehr authentisch vertreten. | |
taz: SPD und CDU müssen mit dem BSW zusammenarbeiten – also Bündnisse | |
eingehen, die sie nicht wollen. Nutzt das der AfD? | |
Schroeder: Ja, die Überdehnung von Koalitionen gegen die AfD könnte ihr | |
langfristig in die Hände spielen. Allerdings: Das BSW ist zwar | |
antiwestlich, antieuropäisch eingestellt, aber das ist auf der Länderebene | |
eher unwichtig. In der Sozial- und Gesellschaftspolitik steht das BSW | |
zwischen SPD und CDU. Offen, ob und wie sie im politischen Alltag überhaupt | |
auffallen. | |
taz: Ist das Parteimodell des BSW mit einer kleinen, handverlesenen Gruppe | |
brauchbar? | |
Schroeder: Es ist sehr erfolgreich, um in das parlamentarische System zu | |
kommen. Aber in diesem Erfolg ist bereits das Gen des Untergangs enthalten. | |
Denn in der modernen Massenkommunikation müssen sich die Akteure vor Ort | |
profilieren. Das kollidiert mit dem Top-down-Modell von Gefolgschaft und | |
Führung. Außerdem: Die programmatische Bindekraft des BSW hat Wagenknecht | |
über den Ukrainekrieg hergestellt. Der Krieg wird nicht ewig dauern. | |
taz: Das BSW ist also nicht sonderlich gefährlich? | |
Schroeder: Doch, doch, sie tragen dazu bei, die Mitte unter Druck zu setzen | |
und den populistischen Wettbewerb zu befeuern. Und Oskar Lafontaine | |
verfolgt jetzt im zweiten Anlauf die Mission, die Sozialdemokratie zu | |
zerstören. Die Melange zwischen gesellschaftlich konservativ und | |
sozialstaatlich kann durchaus attraktiv für ein älteres Publikum sein, das | |
eigentlich sozialdemokratisch tickt. | |
taz: Ist das BSW vielleicht nicht doch ein neuer Parteitypus für die Ära | |
[3][nach den Volksparteien]? | |
Schroeder: Die Zentrierung auf einen vermeintlichen Star an der Spitze | |
scheint mir nicht nachhaltig zu sein. Aber wir erleben einen zweiten | |
Umbruch des Parteiensystems. Parteien waren lange eng an gesellschaftliche | |
Milieus wie Arbeiter oder die Kirche gebunden. An deren Stelle traten die | |
Massenintegrationsparteien, die Volksparteien, deren Niedergang in den 80er | |
Jahren begann, weil sie vor der Heterogenität der Gesellschaft | |
kapitulieren. Was wir jetzt erleben, ist eine Niederlandisierung und | |
Französiesierung des deutschen Parteiensystems. | |
taz: Das heißt? | |
Schroeder: In den Niederlanden sind 15 Parteien im Parlament vertreten, von | |
denen nur eine über 20 Prozent gekommen ist. Eine vorherrschende Partei, | |
die einen großen Teil der Wähler hinter sich vereinen kann, gibt es nicht. | |
Alles hängt davon ab, aus den vielen Parteien eine kluge Koalition zu | |
formen. | |
taz: Und Französierung? | |
Schroeder: In Frankreich wirst du nur Parteimitglied, wenn du Aktivist | |
bist, also Kreistagsabgeordneter oder Kassierer in der Partei bist, also | |
als Funktionsträger. Bei dieser Französierung ist Ostdeutschland die | |
Avantgarde. | |
taz: Volksparteien sind also ein Auslaufmodell? | |
Schroeder: Zumindest sind sie so, wie sie jetzt aufgestellt sind, nur | |
bedingt aktiv und integrativ. Parteien müssen rasch mit Inhalten, Bildern, | |
Ideen, Symbolen auf wechselnde Themen reagieren. Dafür braucht man eher | |
Werbeagenturen als schwerfällige Gremien. | |
taz: Die CDU rühmt sich, die letzte verbliebene Volkspartei zu sein. Kann | |
sie das bleiben? | |
Schroeder: Vielleicht, weil sie programmatisch abstinent ist, mithin | |
pragmatisch, situativ auf Basis von wenigen grundlegenden Überzeugungen | |
agiert. Umso schärfer sie sich programmatisch positioniert, umso mehr | |
Widersprüche und Konflikte produziert sie im Innern. | |
taz: Merz stärkt das konservative Profil der CDU. Ist das falsch? | |
Schroeder: Merz macht es dann falsch, wenn er scharfe Positionen bezieht, | |
die ihn in Widerspruch zur Wertebasis seiner Partei bringen. Man braucht in | |
der Aufmerksamkeitsgesellschaft eine gewisse Zuspitzung, ohne beliebig zu | |
werden. Aber die Fähigkeit, die Position wechseln zu können, ist wichtig. | |
taz: Dann macht es ausgerechnet Markus Söder richtig, der gestern die | |
Grünen umarmt hat und sie jetzt erbittert bekämpft? | |
Schroeder: Ja, Söder ist ein Beispiel für diese populistische Art. Scholz | |
verweigert sich diesen Stimmungen. Das ist vermutlich auch ein Grund, warum | |
er unbeliebt ist. Wer sich am Markt der Stimmungslagen und Emotionen nicht | |
beteiligt, ist im Nachteil. | |
taz: Insgesamt wird das Parteiensystem also chaotischer? | |
Schroeder: Parteien werden mehr und wendiger. Parteien wie die SPD und die | |
Grünen müssen sich fragen, wie sie Emotionalität, Schnelligkeit und | |
Beständigkeit so austarieren können, dass sie selbstbewusst und souverän | |
agieren können. Wenn die Parteien das nicht hinbekommen, dann sind nicht | |
nur sie gefährdet. Dann ist die gesamte Ordnung in Gefahr. Für die Grünen | |
ist dieses Ausbalancieren zwischen Fernzielen und aktueller Politik am | |
schwersten. | |
taz: Warum? | |
Schroeder: Weil sie von den Menschen am meisten verlangen. Aus der | |
Dringlichkeit der Klimakrise leiten sie ab, dass sofort gehandelt werden | |
muss. Sie scheinen nicht zu akzeptieren, dass die Plausibilität der eigenen | |
Position immer wieder aufs Neue geschaffen werden muss. Die Strategie von | |
gestern kann die falsche für heute sein. Die Gesellschaft wird älter und | |
tut sich mit Veränderung schwerer. Das ist zentral. Wer mit 35 Jahren ein | |
Haus baut, ist offen für neue Technologien. Wer über 60 ist, neigt eher | |
dazu, die Modernisierung der Heizung für eine Aufgabe der Kinder zu halten | |
– und das Heizungsgesetz für eine Zumutung und Bedrohung. Gerade die | |
Parteien, die Veränderungen wollen, müssen Kommunikation, vor allem die | |
Schnelligkeit der Schritte an die Bedürfnisse der älter werdenden | |
Gesellschaft anpassen. | |
taz: Die Ampel wollte eine Fortschrittskoalition sein, laut einer Umfrage | |
will sie keiner mehr: null Prozent. | |
Schroeder: Die Erzählung von der Fortschrittskoalition ist | |
zusammengebrochen. Das ist ein Desaster. Es hat viel mit der Schuldenbremse | |
zu tun, die unter heutigen Bedingungen eine Zukunftsvermeidungsbremse ist. | |
Die Regierung hätte sich an zwei Punkten neu aufstellen können und müssen: | |
nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und nach dem Urteil des | |
Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds im Herbst | |
2023. Da hat sich die Geschäftsgrundlage der Koalition verändert. Man hätte | |
schärfer über Investitionen, Zukunftsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit | |
diskutieren müssen. | |
taz: Welche Möglichkeiten haben Parteien der linken Mitte, auf die | |
Herausforderung durch die extreme Rechte zu reagieren? | |
Schroeder: Drei. Erstens: Staat und Investitionen, dazu braucht es eine | |
kluge Modifizierung der Schuldenbremse. Das Zweite sind | |
Gerechtigkeitsthemen, die nachvollziehbar sind. Es ist unverständlich, dass | |
die Schattenwirtschaft und die Kriminalität so hoch ist und der Staat so | |
wenig Gegenmacht entwickelt, weil Richter und Polizei fehlen. Bei beiden | |
Punkten zeigt sich: Der Bundesregierung gelingt es nicht, schlecht | |
Funktionierendes exemplarisch anzupacken. Scholz könnte zum Beispiel eine | |
Taskforce aufstellen, die zeigt, wie er die Bahn reparieren will, und dabei | |
mit einer Mischung von gerechtigkeits und funktionalen Herangehensweisen | |
arbeiten. Gerechtigkeitsorientiert wäre zu sagen, dass der Bahnvorstand | |
[4][keine 1,2 Millionen bekommt], sondern 500.000 Euro. Und die Mitarbeiter | |
bekommen einen Bonus, wenn es erkennbar besser wird. Positive Symbolik | |
fehlt. | |
taz: Und der dritte Punkt? | |
Schroeder: Drittens: die Repräsentationskrise, eines der dramatischsten | |
Probleme. Es ist den Parteien nicht gelungen, im Bereich der politischen | |
Repräsentation in der Fläche Angebote zu machen, also für Betriebsräte, für | |
Altenpfleger, für Leute, die in der Mitte der Gesellschaft stehen. Um die | |
liberale Demokratie zu verteidigen, muss man die Mitte stabilisieren. | |
28 Sep 2024 | |
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