# taz.de -- US-Autor zu Nahostkonflikt und Wahlen: „Dann gibt es keine Hoffnu… | |
> Der Schriftsteller Joshua Cohen spricht im Interview über Antisemitismus | |
> und Antizionismus. Von der US-amerikanischen Linken erwartet er nicht | |
> viel. | |
Bild: Ein jüdischer Mann in Manhattan. Joshua Cohen glaubt, der Antisemitismus… | |
taz: Joshua Cohen, Sie unterrichten an der Columbia University in New York | |
Literatur. Wie haben Sie die Proteste dort erlebt? | |
Joshua Cohen: So was macht mir nichts aus. Es ist doch gut, dass die jungen | |
Leute etwas tun. Die Leute, die deshalb ausgeflippt sind, glauben noch an | |
Institutionen. Sie haben die Vorstellung, dass Institutionen – egal ob | |
Stadtverwaltung, Bundesregierung oder eben die Ivy-League-Universitäten – | |
Träger von Werten und Ethik, von Moral und Tradition sind. Aber sie sind | |
schon seit Jahrzehnten ausgehöhlt. | |
taz: Sie waren auch nicht enttäuscht über die Räumung des Campus? | |
Cohen: Nein. Ich habe diese Institutionen nie als Orte gesehen, die in | |
erster Linie die freie Rede schützen. Ich sehe sie eher als Gelddruckereien | |
und Geldwäschereien. Ich brauchte auch keine Studenten einer | |
Eliteuniversität, um mich davon zu überzeugen, dass die Leute oft nicht | |
wissen, was sie sagen. | |
taz: Sie meinen die [1][Reaktion der amerikanischen Linken auf Gaza]? | |
Cohen: Wenn man Studierende sagen hört: „Bombardiert Tel Aviv“, dann lautet | |
meine erste Frage: „Bist du sicher, dass du das willst? Weißt du, was das | |
bedeutet?“ Wenn sie mit Messern und Gewehren auftauchen oder sich in die | |
Luft sprengen würden, die Columbia-Studenten, dann wäre das eine andere | |
Geschichte. Aber ich fühle mich nicht durch Sprache bedroht. Ich sehe | |
nicht, dass die Fundamente des liberalen Diskurses bröckeln. Hassrede ist | |
nun einmal ein Teil davon, das ist Teil der demokratischen Vereinbarung. | |
taz: Die Tatsache, dass sich ein offener Antisemitismus plötzlich | |
legitimiert fühlt, hat Sie nicht erschüttert? | |
Cohen: Ich unterlag nie der Illusion, dass der Antisemitismus in Amerika | |
verschwunden ist. Ich glaube nicht, dass der Antisemitismus zugenommen hat, | |
aber die Akzeptanz hat in bestimmten Kontexten zugenommen. Das hat mich | |
nicht überrascht. Ich war nie der Meinung, dass die Menschen Juden lieben. | |
taz: [2][Franklin Foer schrieb kürzlich, das goldene Zeitalter der | |
amerikanischen Juden gehe zu Ende]. | |
Cohen: Ich fand das lustig, weil man vor 40 Jahren so einen Artikel nicht | |
hätte schreiben können. Er wäre nie auf der Titelseite einer großen | |
Zeitschrift erschienen. Allein das sowie die Tatsache, dass diese Angst auf | |
so klagende Weise geäußert wurde, ist ein Zeichen dafür, dass das goldene | |
Zeitalter immer noch golden ist. Der Antisemitismus in Amerika ist ein | |
zyklisches Phänomen. Die amerikanische Linke hat Gaza zu ihrem zentralen | |
moralischen Anliegen gemacht und ist zu einer monothematischen Bewegung | |
geworden. | |
taz: Wie wirkt sich das auf Ihr Verhältnis zur Linken aus? | |
Cohen: Ich denke, das ist Teil der amerikanischen Arroganz. Amerika hat die | |
Tendenz, alle ausländischen Konflikte in nationale Begriffe zu übersetzen. | |
So werden die Israelis zu Weißen, ungeachtet der wahren demografischen | |
Gegebenheiten in Israel. Die Palästinenser werden zu schwarzen oder braunen | |
Menschen. So wird Israel als Teil der Geschichte des Imperialismus und | |
Kolonialismus verstanden, wie wir ihn kennen, und bei dieser Übersetzung | |
geht jeder Kontext verloren. | |
Es erfordert ein gewisses Maß an Engagement und Raffinesse, Antizionismus | |
von Antisemitismus zu unterscheiden oder legitime Kritik an der | |
israelischen Regierung von Antisemitismus oder gar von der Kritik am | |
zionistischen Projekt. Solche Unterscheidungen erfordern eine gewisse | |
intellektuelle Anstrengung. Deutschland ist aufgrund seiner Geschichte | |
sensibel dafür. Aber wenn man an die jahrzehntelange Investition in Bildung | |
denkt, die damit verbunden wäre – zu erwarten, dass das auch auf | |
amerikanischem Boden passiert, ist wahrscheinlich unvernünftig. Es ist ein | |
weiterer Versuch, die Juden zu einem Vehikel machen, um politische | |
Missstände anzuklagen. | |
Wie würden Sie Ihre Haltung in Bezug auf die amerikanische Innenpolitik | |
beschreiben? Offensichtlich passen Sie nicht in die gängigen Kategorien von | |
links und rechts. | |
Cohen: Ehrlich gesagt, hasse ich sie alle. Ich nehme es ihnen übel, dass | |
sie mich auf diesen Blödsinn reduziert haben. Ich würde meine Haltung als | |
echte Ressentiment-Politik bezeichnen, als Ressentiment gegen die Tatsache, | |
dass ich mich mit diesen Fragen überhaupt auseinandersetzen muss. Ich | |
vertrete die Auffassung, dass die derzeitige israelische Regierung eine | |
kriminelle Regierung ist. Aber die Gestaltung des Projekts Israel ist | |
meiner Meinung nach gleichbedeutend mit dem Überleben des jüdischen Volkes. | |
Ich befinde mich also im Spannungsfeld dieser Widersprüche. Ich sehe keinen | |
großen Unterschied zwischen der Israelpolitik der Demokratischen und der | |
Republikanischen Partei. Der Kampf, den die amerikanische Linke führt, ist | |
ein Kampf um Rassengerechtigkeit, der mit dem demografischen Wandel in den | |
Vereinigten Staaten zu tun hat. Die Idee, dass es eine direkte Beziehung | |
zwischen den amerikanischen Ethnien und dem israelisch-palästinensischen | |
Konflikt gibt, ist eine Metapher. | |
taz: Sind sie frustriert, dass es keinen Platz für Positionen wie ihre | |
gibt? | |
Cohen: Ich mag den Ausdruck „stille Mehrheit“ nicht, weil er von Ronald | |
Reagan besetzt wurde. Aber ich gehöre der Mehrheit an. Ich glaube, die | |
Mehrheit der Amerikaner möchte, dass das Massentöten aufhört und dass es | |
eine Zweistaatenlösung gibt. Es gibt eine sehr kleine Gruppe, die an eine | |
Einstaatenlösung oder die Auslöschung des zionistischen Projekts glaubt. | |
Aber all das ist so weit von der israelischen und der palästinensischen | |
Realität entfernt, dass man nur von Fantasien sprechen kann. | |
Wenn man heute in Israel den Ausdruck Zweistaatenlösung benutzt, kann man | |
wählen, ob man entweder ausgelacht oder ins Gesicht geschlagen wird. In den | |
palästinensischen Gemeinden würde man genau die gleiche Reaktion bekommen. | |
Aber irgendwann wird man die Parteien an einen Tisch bringen müssen. In der | |
Zeit, in der eventuell Harris regieren wird, wird es in Israel einen | |
Wechsel in der Führung geben. | |
Es wird dort eine Regierung geben, mit der man arbeiten kann, und die | |
Herausforderung für eine demokratische Präsidentin wird sein, uns nicht von | |
Israel zu entfremden. Wenn sie der amerikanischen linken Basis erlaubt, ein | |
Engagement mit einer kommenden israelischen Regierung zu versauen, dann | |
gibt es keine Hoffnung mehr. | |
taz: Die amerikanische Linke hat wegen der Israelpolitik der Regierung | |
große Vorbehalte gegenüber Kamala Harris. | |
Cohen: Kamala führt einen reinen Persönlichkeitswahlkampf. Das Einzige an | |
ihr, was meine Vorstellungskraft fesselt, ist der Wunsch, eine weibliche | |
Präsidentin zu haben. Ich habe Angst, das zu sagen, weil es eine | |
Beleidigung für ihre Intelligenz und Individualität ist. Es ist erbärmlich, | |
dass ich es so ausdrücke, aber die Symbolik ist wichtig. Leider wird das | |
mächtigste Land der Welt wieder über Symbolik abstimmen. | |
taz: Ist Politik nicht überall so? | |
Cohen: Ja, aber bis vor nicht allzu langer Zeit konnte man noch in der | |
republikanischen und demokratischen Binarität denken. Man konnte politische | |
Unterscheidungen treffen. Mich interessiert, wie der Trumpismus nach der | |
Wahl aussehen wird: Wohin wendet sich dieser Impuls, die Dinge zu | |
demontieren, zu zerstören, die Vereinigten Staaten zu konföderalisieren? Da | |
scheint mir ein Machtvakuum zu entstehen, wenn Trumps kalte Persönlichkeit | |
weg ist. | |
taz: Die Demokratische Partei sagt, es gehe um Freiheit oder Faschismus. | |
Cohen: Das ist eine gute Strategie, um die Menschen zur Wahlurne zu | |
bewegen, als Diagnose taugt das nicht. Die Behauptung, die Republik könne | |
zerstört werden, ist hyperventilierend. | |
taz: Sie erwarten nicht, dass am 6. Januar 2025 Braunhemden auf der | |
Pennsylvania Avenue marschieren. | |
Cohen: Nein, ich sehe das nicht. Ich denke, dass dies ein Kampf darum ist, | |
ob das Wall-Street- oder das Silicon-Valley-Amerika regiert. Als Kamala ins | |
Rennen ging, hatte die Wall Street ihre Kandidatin, während das [3][Silicon | |
Valley – Elon Musk], Bill Hackman, Peter Thiel und diese Leute – sich nun | |
für Trump einsetzt. Mir fällt es schwer zu glauben, dass sie das nicht | |
bereuen werden. Aber die Venture Capitalists im Silicon Valley gehen immer | |
große Wetten ein, und wenn sie scheitern, verdoppeln sie den Einsatz. Es | |
geht also darum, ob die Wall Street das Silicon Valley kontrolliert oder | |
umgekehrt. Die Antwort ist, dass die Wall Street sowohl das Silicon Valley | |
als auch die Demokraten kontrolliert. | |
taz: Denken Sie, dass Thiel und Musk und diese Personen eher auf Kamala | |
Harris gesetzt hätten, wenn sie gewusst hätten, dass Biden zurücktritt? | |
Ich glaube nicht, dass sie jemals auf Kamala gewettet hätten, weil das | |
nicht ihr Charakter ist. Aber ich denke, dass sie getan hätten, was die | |
Wall Street traditionell getan hat, nämlich auf beide Kandidaten zu setzen | |
und sicherzustellen, dass derjenige, der gewinnt, Ihnen Zugang zu den | |
Korridoren der Macht verschafft. | |
Wissen Sie, das sind Leute, die nicht zugeben können, dass sie sich geirrt | |
haben. Wenn sie eine Fehlinvestition tätigen, nehmen sie ihre Verluste | |
nicht hin. Sie bringen alle anderen dazu, zu investieren, um ihre Verluste | |
auszugleichen. So hat das Risikokapital schon immer funktioniert, und, was | |
mich interessiert, ist, wie es aussieht, wenn die Wall Street im Silicon | |
Valley das Sagen hat. Wie funktioniert das in Bezug auf die Regulierung? | |
Wie funktioniert das in Bezug auf die Besteuerung? Wie funktioniert das im | |
Hinblick auf die Zukunft der Wirtschaft? | |
21 Sep 2024 | |
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