# taz.de -- Roman „Die Netanjahus“: Literarische Wirkungsmacht | |
> Der Roman „Die Netanjahus“ erklärt mehr über die Komplexität des | |
> Nahostkonflikts als Sachbücher. Er vergrößert die Welt, statt sie zu | |
> reduzieren. | |
Bild: Benjamin und Benzion Netanyahu in einer Aufnahme von 2011 | |
Ambivalenz, sagte neulich der Schriftsteller [1][Pankaj Mishra] zu mir, | |
Ambivalenz und Ambiguität und auch Ironie, das sind die denkerischen | |
Mittel, die wir heute brauchen, um klarzusehen in diesen Zeiten, in denen | |
Klarheit das Letzte ist, was es gibt und was es braucht. Ein Widerspruch? | |
Oder Ambivalenz? | |
Also, was meinte Pankaj? Es ging ihm darum, wie wir selbst, du und ich, die | |
Welt wahrnehmen. Öffnen wir uns der Welt, indem wir uns dem stellen, was an | |
widerstreitenden Wahrheiten verfügbar ist? Oder suchen wir die eine | |
Wahrheit, weil sie uns hilft, unsere Welt so zu erhalten, wie wir sie uns | |
gebaut haben? | |
Die Antwort auf diese Fragen, medial und politisch, ist ziemlich klar, | |
würde ich sagen: Die mediale Logik ist eine der Reduktion. Und bei aller | |
Kritik an den sozialen Medien und am Digitalen an sich, wo es genau darum | |
geht, dass hier oft die Wirklichkeit noch mal polemisch aufgeladen und | |
damit praktisch geschrumpft wird, würde ich doch sagen, dass genau hier | |
auch die Ambivalenz erzeugt wird, die Pankaj einfordert. | |
Aber natürlich meinte er eigentlich etwas anderes. Er ist ein großer Leser, | |
und genau hier, im Lesen, entsteht für ihn diese Möglichkeit von | |
Ambiguität, die es braucht, um auch politisch unterschiedliche Wahrheiten | |
wachzurufen und gleichzeitig seinen eigenen moralischen Weg zu finden. Denn | |
Ambivalenz bedeutet ja nicht Relativismus. Ambivalenz bedeutet, dass alle | |
Wahrheiten wahrer werden und wir uns in diesem Strudel von Wahrheiten | |
zurechtfinden müssen. | |
## Nahost wird ohne Zwischentöne diskutiert | |
Mir fiel all das ein, als ich vor ein paar Tagen den Roman [2][„Die | |
Netanjahus“ von Joshua Cohen] anfing zu lesen. Der Roman erzählt von einem | |
jüdisch-amerikanischen College-Professor in den 1950er Jahren und der | |
echten wie fiktiven Geschichte, dass der Vater des israelischen | |
Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu tatsächlich als Geschichtsprofessor | |
und Spezialist für die Spanische Inquisition eine Weile in den USA gelehrt | |
hat. | |
Der Roman ist sehr lustig und sehr traurig. Er beschreibt das unauflösliche | |
Dilemma von Juden, ob in der Diaspora oder in Israel. Er schildert den | |
subtilen und offenen Antisemitismus, er reflektiert über den Umweg der | |
Spanischen Inquisition, was jüdische Metaphysik und auch jüdische Mythen | |
sind, und er ergründet die verschiedenen Strömungen des Zionismus, | |
gespalten in vieler Weise, aber vor allem, so beschreibt es Cohen, zwischen | |
der westeuropäischen jüdischen Tradition und der osteuropäischen. | |
Ich wusste das, irgendwie, aber so ein Wissen verliert sich auch, es reibt | |
ab, gerade wenn die Debatten so erhitzt geführt werden, wenn es um Israel | |
geht. Was wäre also Ambivalenz in einem Konflikt, der maximalistisch | |
geführt wird, oft ohne Zwischentöne diskutiert, ohne Innehalten und | |
historische oder menschliche Reflexion? Wäre Ambivalenz hier nicht ein | |
Mittel? Aber wie kann man sie politisch fassen und formen? | |
Im Roman denkt die Hauptfigur Ruben Blum über die verschiedenen Traditionen | |
und Strömungen des Zionismus nach, dieses Wort, das heute auf Häuserwände | |
in aller Welt geschmiert wird, voller Wut und Verachtung und ohne Wissen, | |
letztlich, über das, was es bedeutet – oder nur das, was es heute für viele | |
Menschen bedeutet, eine Metapher für den Krieg in Gaza und die Schuld | |
Israels. | |
## Über die Widersprüche jüdischer Existenz schreiben | |
Cohen aber, und das ist das Werk der Literatur mehr als eines Sachbuches | |
und der Sprache mehr als der historischen Erzählung, Cohen schafft es, den | |
weiten Weg von heute zurück in die Vergangenheit zu nutzen, um ein Denken | |
zu schärfen, das genau diese Schärfe vermissen lässt. Ein Denken, dass | |
weich ist und elastisch, ein Denken ohne schnelle Urteile und voller | |
Genauigkeit gerade dort, wo es keine Genauigkeit gibt. | |
Da ist zum einen der Kaffeehaus-Revolutionär Theodor Herzl, ein Kosmopolit, | |
Journalist, in vielem der Erfinder des politischen Zionismus, der wenig | |
über das traditionelle Judentum wusste, wie so viele anderen Juden in Wien, | |
Budapest oder Zürich im späten 19. Jahrhundert. Und da ist zum anderen der | |
Zionismus, wie er im Shtetl entstand, in Osteuropa, weit weg von den | |
Metropolen und Kaffeehäusern, der Zionismus von Benzion Mileikowsky, der | |
sich später Benzion Netanjahu nannte. | |
Cohen nutzt das Mittel des Romans, um über gegenwärtige Widersprüche | |
jüdischer Existenz nachzudenken – aber letztlich ohne, wie auch, Ergebnis. | |
Er ermöglicht es, in diesen Widersprüchen die je unterschiedlichen | |
Wahrheiten zu finden, die Selbsttäuschungen und Hoffnungen, die irgendwann | |
auch politisch ossifiziert Wirklichkeit werden, manchmal voller | |
Emanzipation, manchmal voller Grausamkeit. | |
## Umweg über die menschliche Psyche | |
Literatur, so gestaltet, ist damit ein Mittel, den Rohstoff des Politischen | |
zu formulieren, in guter Distanz und doch in Sichtweise von aktuellen | |
Ereignissen. Ich hatte lange nicht mehr diesen Eindruck davon, wie | |
Literatur so wirken kann, auch weil ich sehr viel mehr Sachbücher gelesen | |
habe in den vergangenen Jahren; oder weil ich die Romane nicht gefunden | |
habe, die diese Wirkung hatten. | |
Aber gerade ein Konflikt wie der in Israel oder um Israel findet sich oft | |
besser gespiegelt in der Literatur, scheint mir, als in den aktuellen | |
Schlagzeilen, so wichtig sie sind, gerade was den schon lange jedes Maß | |
überschreitenden Krieg in Gaza angeht, dieses schreckliche Töten. Es sind | |
diese Umwege, über die menschliche Psyche, über das, was Literatur | |
ausmacht, die einem selbst das Denken anders lehren. | |
Diese Art von Demut ist es, die Literatur ja auch bedeutet, eine Form von | |
epischer Bescheidenheit, die das eigene Maß erst einmal einordnet in den | |
Maßstab dessen, was vor einem war, was andere dachten, was deren | |
Wirklichkeit war. Für mich war das, was „Die Netanjahus“ ausmacht, eine | |
enorme Vergrößerung der Welt, die doch, wir wissen es alle, so viel | |
komplexer ist, als wir sie uns machen. | |
14 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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