| # taz.de -- US-Journalist über das Jüdischsein: „Eine Ära geht zu Ende“ | |
| > An den Pro-Palästina-Protesten zeigt sich ein Wandel der US-Gesellschaft. | |
| > Sie sind Ausdruck der Auflösung des klassischen Liberalismus, sagt | |
| > Franklin Foer. | |
| Bild: Nach einer propalästinensischen Demonstration am amerikanischen Unabhän… | |
| wochentaz: Herr Foer, wie haben Sie die Pro-Palästina-Proteste in den USA | |
| erlebt? | |
| Franklin Foer: Es war zutiefst entnervend. Man bekam den Eindruck, dass das | |
| Land in einer [1][Spirale der Überreaktionen] gefangen ist. Es fühlt sich | |
| im Moment so an, als seien die Autoritäten und Institutionen darüber | |
| verwirrt, wie sie reagieren sollen. Aus der Perspektive der amerikanischen | |
| Juden hat zumindest die offizielle Reaktion die Dinge schlimmer gemacht. | |
| Sie hat dazu geführt, dass Demonstranten, die vielleicht ursprünglich nicht | |
| antisemitisch waren, die Autoritäten nun beschuldigen, von jüdischen | |
| Organisationen oder jüdischen Einzelpersonen manipuliert worden zu sein. | |
| Das ist klassischer Antisemitismus. | |
| Viele der Demonstranten haben den Vorwurf des Antisemitismus | |
| heruntergespielt, und es gibt viele jüdische Intellektuelle, die sich den | |
| Demonstrationen angeschlossen haben. Wie manifestiert sich Ihrer Meinung | |
| nach der Antisemitismus? | |
| Ich glaube nicht, dass die Proteste per se antisemitisch waren, und die | |
| Israelis haben weiß Gott vieles getan, dass es verdient, verurteilt zu | |
| werden. Aber ich sehe einige Dinge, die mich beunruhigen. Das erste ist die | |
| Art und Weise, wie die Hamas dazu in der Lage war, die Diskussion zu | |
| lenken. Wenn man der Linken in den USA zuhört, dann hört es sich ja so an, | |
| als wäre Hamas nicht im Geringsten für irgend etwas mitverantwortlich, was | |
| gerade passiert. Es gibt eine nicht triviale Anzahl von Vorfällen, in denen | |
| Hamas-Slogans skandiert wurden und Hamas-Fahnen geschwenkt werden. Und es | |
| gab auch einige Fälle von offenem Antisemitismus. | |
| Sie nennen sich einen liberalen amerikanischen Juden, der der israelischen | |
| Regierung kritisch gegenübersteht. Wie schwer ist es für Sie, noch diese | |
| Position einzunehmen? | |
| Ich glaube, dass die meisten amerikanischen Juden diese Position einnehmen. | |
| Die Netanjahu-Regierung hat die Kampagne in Gaza ohne jegliche Vorstellung | |
| davon verfolgt, wie eine bessere Zukunft aussehen soll. Das ist zutiefst | |
| demoralisierend. Es gäbe im Augenblick eine historische Gelegenheit für | |
| eine stabile politische Lage im Nahen Osten, und es sind allein die | |
| Israelis, die dem im Weg stehen. Netanjahu handelt ganz offensichtlich dem | |
| nationalen Interesse von Israel entgegen. | |
| Und Sie glauben, dass die meisten amerikanischen Juden so denken? | |
| Ja, die meisten amerikanischen Juden sind sehr liberal. Aber sie reagieren | |
| natürlich auch allergisch, wenn die Existenz des Staates Israel infrage | |
| gestellt wird. Für uns ist Israel mehr als nur das Netanjahu-Kabinett. | |
| Deshalb befinden wir uns derzeit in einer komplizierten Lage. | |
| Wie haben Sie persönlich die vergangenen Wochen erlebt? | |
| Meine direkte Nachbarin ist Rabbinerin und sie ist auf offener Straße als | |
| „Kike“ bezeichnet worden, ein gängiges Schimpfwort für Juden. Bei uns in | |
| der Straße gab es ein Graffito, das die israelische Armee [2][mit dem | |
| Ku-Klux-Klan verglichen] hat. In der Schule meiner Tochter tauchten auf | |
| den Toiletten Hakenkreuze auf. Keins dieser Ereignisse ist zutiefst | |
| bedrohlich, aber es fühlt sich vollkommen anormal an. Ich habe so etwas | |
| noch nie in den USA beobachtet. | |
| Und Sie fühlen sich dadurch als Jude in Amerika verunsichert? | |
| Ja, es entsteht bei mir der Eindruck, als gehe eine Ära zu Ende. Ich meine, | |
| die Tatsache, dass die goldene Ära der amerikanischen Juden zu Ende geht, | |
| bedeutet nicht, dass wir uns auf dem Weg nach Auschwitz befinden. Aber es | |
| bedeutet, dass die Erfahrung, als Jude in Amerika zu leben, sich eher der | |
| historischen Norm angleicht, als dem Ausnahmezustand, in dem wir uns seit | |
| 70 Jahren befunden haben. | |
| Sie schreiben in einem Aufsatz in „The Atlantic“, dass Sie in der Mitte | |
| dieses goldenen Zeitalters der amerikanischen Juden aufgewachsen sind. Was | |
| hat dieses Zeitalter ausgezeichnet? | |
| Der Antisemitismus ist nach dem Zweiten Weltkriegs in Amerika weitestgehend | |
| verschwunden. Alle Barrieren, die vorher die herrschende protestantische | |
| Klasse errichtet hat, fielen weg. Es gab keine Zugangsbeschränkungen mehr | |
| zu Universitäten, es gab keine Einschränkungen mehr, in welchen Gegenden | |
| Juden wohnen durften. Es gab eine angestaute kreative Energie, die einfach | |
| explodiert ist. Jüdische Literatur fand Eingang in die großen Werke der | |
| amerikanischen Literatur, es gab jüdische Figuren und jüdische Themen in | |
| Fernsehen und Film. Und es gab eine überproportionale jüdische Präsenz in | |
| wichtigen Institutionen, insbesondere im Hochschulbereich. Als ich an der | |
| Columbia University war, war diese zu 30 Prozent jüdisch, was verrückt ist, | |
| weil Juden nicht einmal drei Prozent der Bevölkerung ausmachen. | |
| Diese Situation der Juden in Amerika war historisch einmalig? | |
| Nun, es gab schon andere Situationen, in denen Juden eine ähnlich große | |
| Rolle in der Gesellschaft gespielt haben, zum Beispiel im Deutschland des | |
| frühen 20. Jahrhunderts. Aber was in Amerika anders war, war, dass sie | |
| nicht das Gefühl hatten, ihre Identität aufgeben zu müssen, um im | |
| Mainstream akzeptiert zu werden. | |
| Die amerikanische Form der Integration war schon immer die | |
| Bindestrichidentität. | |
| Ja, und die Juden hatten einen großen Anteil daran, dieses Modell zu | |
| erfinden und zu popularisieren. Sie müssen sich nur das Gedicht auf dem | |
| Sockel der Freiheitsstatue anschauen, von der Jüdin Emma Lazarus verfasst, | |
| das die Idee von Amerika als Nation von Einwanderern artikuliert. Das war | |
| seinerzeit nicht die gängige Auffassung. Der Gedanke einer pluralistischen | |
| Gesellschaft als etwas Gutem wurde von jüdischen Denkern artikuliert. | |
| Sie schreiben in Ihrem Aufsatz, dass der jüdische Liberalismus lange Zeit | |
| mit dem amerikanischen Liberalismus identisch war. An welchem Punkt | |
| begannen die beiden, sich voneinander zu entfernen? | |
| Das 21. Jahrhundert war insgesamt bisher eine Zeit, in der sich der | |
| klassische Liberalismus immer mehr aufgelöst hat. Es gab eine Krise nach | |
| der anderen, die zu Verschwörungstheorien und einem wachsenden Misstrauen | |
| führten. Heute hat man das Gefühl eines andauernden Ausnahmezustands, in | |
| dem alles existenziell ist und man sich Toleranz nicht mehr leisten kann. | |
| Und historisch ist es nun einmal wahr, dass in Zeiten der Krise Juden als | |
| Prügelknaben herhalten müssen. Wir hatten 9/11, die Finanzkrise von 2008 | |
| und den Irakkrieg, und plötzlich wird George Soros für die Einwandererflut | |
| verantwortlich gemacht. | |
| Der „Virus“ des Antisemitismus rührt sich wieder. | |
| Ich mag die Metapher des Antisemitismus als Virus nicht so sehr. Ich sehe | |
| Antisemitismus eher als eine mentale Angewohnheit, die jederzeit aktiviert | |
| werden kann. | |
| Sie sprechen von der Krise des Liberalismus. Welche der zentralen Elemente | |
| des alten Liberalismus sind denn verloren gegangen? | |
| Es gab Ideen von Toleranz, es gab die Idee der Meritokratie, es gab das | |
| Eintreten für die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates, der notwendig ist, um | |
| soziale Stabilität zu gewährleisten und das Auftreten eines populistischen | |
| Mobs zu verhindern. Ich glaube, dass alle diese Dinge im 21. Jahrhundert | |
| diskreditiert worden sind. | |
| Sie schreiben, dass Sie es erwartet haben, dass diese Dinge von rechts | |
| unter Beschuss geraten, dass es aber ein Schock war, dass sie nun auch von | |
| links attackiert werden. | |
| Im Zeitalter der politischen Polarisierung wollen wir immer die andere | |
| Seite als Monster sehen und unsere Seite als Engel. Jeder zeigt auf jeden | |
| mit dem Finger. Der Augenblick, an dem ich wirklich angefangen habe, mir | |
| Sorgen zu machen, war, als meine Tochter sich in der Bewegung für | |
| Klimagerechtigkeit engagiert hat und ihre Organisation, das Sunrise | |
| Movement, sich geweigert hat, mit jüdischen Gruppen zu kollaborieren. Dabei | |
| spielte die Tatsache, dass es bei der Sache überhaupt nicht um Israel ging | |
| und diese jüdischen Gruppen der israelischen Regierung kritisch | |
| gegenüberstanden, keine Rolle. Zionismus und Judentum wurden als so toxisch | |
| angesehen, dass sie nicht mehr mit der Linken unter einen Hut zu bringen | |
| waren. | |
| Ist die Polarisierung unüberwindbar? Hält die Mitte nicht mehr? | |
| Ich denke schon, dass die Mitte bröckelt. Ich bin da nicht sehr | |
| optimistisch. Joe Biden versucht ja, von einer Position des Konsenses aus | |
| zu regieren, und trotzdem können wir uns auf nichts mehr verständigen. | |
| 13 Jul 2024 | |
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| Sebastian Moll | |
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