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# taz.de -- Grüner Wahlkampf in Brandenburg: Die Antifa heißt hier Alexander
> In Thüringen und Sachsen haben die Grünen verloren. Auch in Brandenburg
> drohen sie aus dem Landtag zu fliegen. Jetzt kommt westliche
> Wahlkampfhilfe.
Bild: Grüne haben es schwer auf dem Land in Brandenburg
Senftenberg taz | Das Büro der Grünen in der Bahnhofstraße von Senftenberg
ist so voll wie noch nie. Nicht mal die Stühle reichen für alle. Fünf
einheimische Wahlkämpfer*innen sind an diesem Samstag für die Partei
unterwegs – und sechs weitere aus Recklinghausen. Nach drei Stunden am
Wahlkampfstand machen nun alle gerade Mittagspause. Auf dem Tisch steht
Sahnetorte aus dem veganen Café in der Innenstadt – so etwas gibt es
mittlerweile sogar im Süden Brandenburgs, wo bei der [1][Europawahl nur 2,6
Prozent die Grünen] wählten.
„Mit so vielen Leuten macht der Wahlkampf eine ganz andere Wirkung. Es gibt
auch ein Stück Sicherheit. Zu zweit hat man das nicht“, sagt Anne
Zimmermann, die 15 Kilometer entfernt in Ruhland lebt und dort mit ihrem
Mann bei der letzten Kommunalwahl kandidiert hat.
„Ist euch denn schon mal was Schlimmeres am Stand passiert?“, fragt einer
der Gäste aus Nordrhein-Westfalen.
„Nee. Wir haben bisher keinen gemacht“, antwortet Zimmermann.
Solche Gespräche gibt es in diesen Wochen oft bei den Grünen. Im Osten
passiert im Moment [2][eigentlich wenig, was der Partei Mut macht]. Bei der
Landtagswahl in Thüringen ist sie aus dem Parlament geflogen, in Sachsen
hat sie fast die Hälfte ihrer Mandate eingebüßt. Auch in Brandenburg droht
bei der Wahl in einer Woche das Aus, in den letzten Umfragen stehen die
Grünen bei 4,5 bis 5 Prozent. Mit den Parlamentssitzen gehen Macht,
Personal und Geld verloren – ein Problem gerade auf dem Land, wo die Grünen
ohnehin schwach vertreten sind.
## Drei Wahlkämpfe kosten viel Kraft
Zumindest etwas Gutes hat der Gegenwind aber: Das Interesse am Osten ist in
der Partei so groß wie lange nicht. Auf dem Parteitag im letzten Herbst
hatte der Bundesverband die Kreisverbände aufgerufen, Partnerschaften
zwischen West und Ost zu bilden. In den letzten Wochen sind Hunderte
Mitglieder und etliche Abgeordnete nach Sachsen, Thüringen und Brandenburg
gereist. Manche Grüne nahmen sich sogar wochenlang Urlaub oder verlegten
ihr Homeoffice, um vor Ort anzupacken.
Sie helfen dort, wo die Grünen ihre Wahlkämpfe traditionell mit wenigen
Leuten stemmen müssen und wo mittlerweile viele ausgelaugt sind. Der
Europa- und Kommunalwahlkampf hat den Mitgliedern dieses Jahr schon viel
abverlangt, und dann hat sich der Einsatz vielerorts nicht mal ausgezahlt.
Der Rechtsruck nagt an den Reserven. Die Unterstützung aus dem Westen,
heißt es aus der Partei, ist da eine große Hilfe.
„Für manche von unseren Leuten ist das ein Grund, überhaupt in den
Wahlkampf zu starten“, sagt Carolin Poensgen, die [3][als
Kreisgeschäftsführerin die wenigen Fäden der Grünen in Senftenberg
zusammenhält]. „Wenn extra Besuch aus Recklinghausen kommt, müssen wir ja
was machen.“
36 Mitglieder hat die Partei im Landkreis, rund 10 davon sind regelmäßig
aktiv, alle neben ihren Jobs und manche neben der Familie. Zu wenig für
einen effektiven Wahlkampf in einer Region, die flächenmäßig so groß ist
wie Berlin und München zusammen. Sie haben es zwar geschafft, ihre Plakate
aufzuhängen, sogar in den Orten ohne Grünen-Mitglieder. Der letzte
Social-Media-Eintrag auf den Parteikanälen ist aber zwei Monate alt.
## Hilfe aus Recklinghausen
Fliegt die Partei aus dem Landtag, ist die Geschäftsstelle in der
Bahnhofsstraße in Gefahr. Der Kreisvorstand hat schon nachgerechnet: An
drei Tagen die Woche, so wie jetzt, könnten sie auf keinen Fall mehr
öffnen. Vielleicht kriegen sie noch die Miete zusammen. Am
Wahlkampfmaterial müssten sie dann aber sparen. Büro oder Plakate – nach
der Landtagswahl ist das vielleicht die Frage.
Der Kreisverband Recklinghausen, zwischen Ruhrpott und Münsterland gelegen,
hat über 500 Mitglieder und kam bei der Europawahl auf knapp 10 Prozent.
Nicole Uschmann, die Vorsitzende, hatte den Aufruf auf dem letzten
Parteitag gehört. „Das müssen wir machen“, habe sie sofort gedacht – we…
sie sah, wie wenige Leute für die Ostverbände auf der Bühne standen, und
weil sich schon abzeichnete, dass die AfD bei den Wahlen weiter zulegt.
„Das kann bei uns auch noch kommen“, sagt sie. „Warum sind die dort schon
einen Schritt weiter? Man findet das am besten raus, wenn man hinfährt.“
Auf Senftenberg sind sie im Kreisverband dann gekommen, weil beide Regionen
etwas gemeinsam haben. Die Lausitz ist wie das Ruhrgebiet eine Kohleregion.
Der Strukturwandel trifft beide, im Westen sind sie nur etwas weiter.
Gegen 9 Uhr trifft der Trupp auf dem Marktplatz ein, als Stand dient ein
Lastenrad mit großem Grünen-Logo. CDU und SPD sind nicht am Platz. Am
meisten Raum hat sich die AfD genommen, gleich vorne an der Kreuzung, wo
jeder vorbei muss. Daneben stehen die Freien Wähler und das BSW.
Die zwei Wagenknecht-Männer, ehemalige Linke, grüßen freundlich. Man kennt
sich. So viele Grüne auf einem Haufen haben sie aber noch nie gesehen.
„Bündnis 90 gab’s damals auch in Senftenberg“, sagt einer der beiden. �…
sind aber alle nicht lange dabeigeblieben. Hat nicht gepasst.“ Einer, der
in der DDR als Bürgerrechtler auf der Straße war, saß für die Grünen über
30 Jahre im Stadtrat von Senftenberg. Parteimitglied ist er bis heute
nicht.
## Das grüne Milieu fehlt vielerorts
Was den Gästen aus Recklinghausen als erstes auffällt: Es macht nichts,
dass sie ohne die kleinen Windräder gekommen sind. Eigentlich wollten sie
die Werbeartikel mitbringen, aus dem Europawahlkampf hatten sie welche
übrig. Vor der Abfahrt haben sie dann aber den Schlüssel zum Lagerraum
nicht gefunden.
Machen sie zu Hause Wahlkampf, gehen die Windräder als erstes weg. Der
Markt am Wochenende ist dort ein Hotspot für Familien. Die Eltern haben
zwar keine Zeit für Gespräche, aber die Kinder lieben die Dinger. In
Senftenberg dauert es eine halbe Stunde, bis der erste Vater einen
Kinderanhänger am Stand vorbeizieht. Neben dem Jungen im Wagen steckt schon
ein Flyer der AfD.
Auch in Recklinghausen ist die Bevölkerung seit den Neunzigern geschrumpft,
das Durchschnittsalter liegt dort aber immer noch vier Jahre unter dem in
Senftenberg. Seit der Wende haben Millionen Menschen das Gebiet der
ehemaligen DDR verlassen. Die Weggezogenen waren oft jung, gut gebildet und
weiblich. Die Grünen sind eine Milieupartei, doch das Milieu, das sie
trägt, fehlt im Osten vielerorts.
Als einer der ersten tritt an diesem Tag ein Rentner im Camp-David-Shirt an
den Grünen-Stand. „Der Fischer hat erst Polizisten verprügelt und ist dann
Außenminister geworden“, sagt er.
Betretene Blicke hinter dem Lastenrad. „Das war vor unserer Zeit“, murmelt
einer.
„Ich fand’s gut. Da war noch Power dahinter“, sagt der Rentner. Und dann
weiter: „Schlimm ist das mit der AfD.“
Jetzt tauen die Gäste auf. „Was glauben Sie, warum die Leute AfD wählen?
Würde mich mal interessieren“, fragt Nicole Uschmann.
„Die haben keinen Grund. Den Leuten geht es doch nicht schlecht hier“,
antwortet der Mann. Das ist natürlich eine Frage der Perspektive.
Vergleicht man das Durchschnittseinkommen deutscher Landkreise, liegt die
Region um Senftenberg im letzten Viertel. Der Kreis Recklinghausen liegt
aber noch weiter hinten.
Die Unterhaltung gestaltet sich dann jedenfalls sehr freundlich, es geht um
die Auflagen für Angler in Deutschland und um die Nationale Volksarmee, die
den Camp-David-Mann einst nicht nehmen wollte, weil seine Verwandten einen
Ausreiseantrag gestellt hatten. „Wollen Sie noch Knete für die Enkel?“,
fragt Uschmann den Mann zum Abschied. „Hören Sie auf, wir haben so viel
Knete daheim!“, antwortet er. „Aber viel Erfolg, euer Engagement ist gut!“
## Ein grüner Tankstellenbetreiber
Der Vormittag auf dem Markt zeigt aber auch, warum es die Grünen in diesem
Wahlkampf so schwer haben. Der nächste Passant, kurz vor dem Rentenalter,
nimmt sich einen Flyer vom Stand und scannt das Programm. „Klingt ja
wirklich gut“, sagt er dann. „Mir ist das zu eng an den fünf Prozent.“ D…
ist er weg.
Bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen haben die Grünen die meisten
Stimmen an die CDU verloren. Die Union hatte auch um deren Wähler*innen
geworben: Sie müssten verhindern, dass die AfD stärkste Kraft wird. In
Brandenburg spitzt die SPD den Wahlkampf zu. Ministerpräsident Woidke hat
angekündigt, dass er zurücktritt, falls seine Partei hinter den
Rechtsextremen landet. Den Grünen hier kann das Stimmen kosten.
Und natürlich machen ihnen auch ihre Inhalte Probleme. Kein Thema ist an
diesem Vormittag zwar [4][der Kohleausstieg, den die Grünen in Brandenburg
vorziehen wollen]. Über die Ausländer gibt es auch nur ein paar
Beschwerden. Der Krieg in der Ukraine – der kommt aber immer wieder.
Etwas im Hintergrund hält sich Heiko Richter. Er ist erst seit einem halben
Jahr bei den Grünen, auch für ihn ist es der erste Wahlkampfstand. Er
betreibt aber eine Tankstelle in der Nachbarstadt, und dort, sagt er, halte
er schon lange dagegen, wenn sich Kunden über Flüchtlinge, über die
Energiewende oder eben über die Ukraine beschweren. Das gehe ganz gut. Zum
Tanken kämen trotzdem noch alle.
Früher war er bei der Grenztruppe, erzählt Richter weiter, den Mauerfall
habe er am Checkpoint Charlie in Berlin erlebt. Davor war er an der
Offiziersschule in Suhl. „Wir haben gelernt, was jeder im Warschauer Pakt
gelernt hat. Wie man angreift, wie man sabotiert, wie man sich auch den
Rest Europas einverleibt. Putin wurde das damals auch beigebracht und heute
weicht er keinen Millimeter von der Doktrin ab“, sagt er. Das geht also
auch: Aus einer Ostbiografie heraus begründen, warum die Ukraine noch mehr
Waffen bräuchte. Allerdings ist Richter damit in der Minderheit.
## Früher war es besser
Die Antifa sieht das anders. Die Antifa heißt hier Alexander. Er will
seinen Nachnamen nicht nennen und wohnt in einem Dorf in der Umgebung. Mit
seiner Fahne steht er schon den ganzen Morgen auf dem Markt: Er will der
AfD zeigen, dass es noch Menschen gibt, die anders ticken als sie.
Seit ein, zwei Jahren sind die Rechtsextremen seine größte Sorge. Schon
davor sei er auf Demos gegangen, gegen den Überwachungsstaat und gegen
Atomkraft. Er isst kein Fleisch, hat kein Auto, und seitdem es das
49-Euro-Ticket gibt, fährt er fast jedes Wochenende nach Kreuzberg. Das
braucht er als Ausgleich zum Alltag in Brandenburg.
Alexander ist ein prädestinierter Grünen-Wähler. Aber wenn es um den Krieg
geht, sprudelt es aus ihm heraus: Schon in der Schule war ihm der
Wehrkundeunterricht zuwider. Nach der Wende wollte er nicht zur Bundeswehr.
Und als sich der Warschauer Pakt auflöste, dachte er, die Nato müsse jetzt
nachziehen. Tat sie aber nicht.
[5][Die Grünen wählt er seit dem Kosovokrieg nicht mehr]. Durch den
Ukrainekrieg kommt alles wieder hoch. „Was für eine Doppelmoral“, sagt er.
„Dort verteidigen wir angeblich Werte, aber an Saudi-Arabien verkaufen wir
Waffen und die Amerikaner unterstützen wir bei allen möglichen
Angriffskriegen.“ So gehe es hier vielen, die anderen zögen nur andere
Schlüsse als er. Wen er noch wählen soll, weiß Alexander nicht.
Am Grünen-Stand gerät derweil Anne Zimmermann, die zum ersten Mal für die
Partei auf dem Markt steht, mit dem nächsten Rentner aneinander.
„Man greift doch kein anderes Land an. Das ist Pfui!“, sagt sie.
„Putin möchte die Vorherrschaft der Amerikaner in der Ukraine unterbinden.
Kyjiw ist die Wiege der Russen“, antwortet der Rentner. „Die sind ja
eigentlich Bruderstaaten.“
„Und einen Bruderstaat greift man an?“, fragt Zimmermann.
„Sie haben mir nicht zugehört!“, ruft der Rentner.
Irgendwann wechselt die Grüne das Thema, sie will lieber über die
Energiewende sprechen, aber erfolgreicher wird das Gespräch trotzdem nicht
(„Das geht technisch doch gar nicht!“ – „Doch!“ – „Nein!“).
Mit einem komplizierten Fall hat es währenddessen auch Nicole Uschmann aus
Recklinghausen zu tun. Ein weiterer Rentner, natürlich, hat das Gespräch
mit dem Vorwurf begonnen, die Grünen hätten ihm 50.000 Euro geklaut. Wie
genau sie das gemacht haben, findet Uschmann nicht heraus, aber nach ein
paar Minuten hört sie zumindest, was den Mann eigentlich bedrückt: In
seinem Garten hegt er Pflanzen, die dort schon sein Großvater angebaut hat.
Er macht sich Sorgen, ob er sie auch noch seiner Enkelin wird zeigen
können. Weil er nicht weiß, ob er das Haus halten kann, und weil es sein
kann, dass die Kinder wegziehen.
Ein Anruf bei Uschmann ein paar Tage nach dem Wochenende in Senftenberg:
Was ist bei ihr am stärksten hängengeblieben? „Früher war es besser und die
Zukunft wird schlechter, das Thema kam immer wieder“, sagt sie. Die Leute
hätten eine diffuse Angst, etwas zu verlieren. Die Erzählung, dass alles
besser werde, funktioniere nicht mehr. Es bringe dann auch nichts, ihnen
etwas vorzumachen. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Leute dort
politikverdrossener sind. Im Gegenteil. Aber sie haben keinen Bock mehr,
etwas versprochen zu bekommen, was nicht eintreten wird.“
Am Nachmittag geht es nicht mehr zurück auf den Marktplatz, sondern um den
Senftenberger See herum, der mal ein Tagebau war und schon zu DDR-Zeiten
geflutet wurde. In den Dörfern am Ufer wollen die Grünen Flyer in die
Briefkästen werfen. „Bitte nicht in die mit Aufklebern gegen Werbung“,
mahnt Geschäftsführerin Poensgen. In der Landeszentrale gab es in den
letzten Wochen schon massive Beschwerden.
Das grüne Lastenrad ist wieder dabei, dazu ein paar Leihräder für die
Gäste. Heiko Richter, der Mann von der Tankstelle, hat sich für sein
Mountainbike eine Lenkertasche gekauft, in die die Flugblätter genau
reinpassen. „Radfahrer absteigen“, steht auf einem Schild, das der Konvoi
am Stadthafen passiert. „Radfahrer absteigen“, knurrt ein Rentner, der
dahinter mit seinem Rollator den Weg quert.
Der erste Ort auf der Strecke heißt Kleinkoschen. Dort stehen hübsche
Einfamilienhäuser, einige mit Solaranlagen auf dem Dach, eines sogar mit
Wärmepumpe und E-Auto in der Einfahrt.
„Ist die AfD hier auch stark?“, fragt Nicole Uschmann.
Anne Zimmermann nickt. 31,2 Prozent waren es bei der Europawahl, nur 4
Prozentpunkte weniger als im Landkreis insgesamt und doppelt so viel wie in
Recklinghausen.
„Krass“, sagt Uschmann. „Das ist so behütet hier. Ist das der blanke
Rassismus? Oder die Angst vor dem Abstieg?“
Zimmermann erzählt vom hohen Altersschnitt, von der Wende und den zwei
Wellen der Arbeitslosigkeit in den Neunziger- und Nullerjahren. „Das ist im
Gedächtnis und sobald jemand Unruhe stiftet, wie die AfD, kocht es wieder
hoch“, sagt sie.
## Betrunkene pöbeln die Grünen an
Der nächste Ort heißt Großkoschen. Am Ufer mündet der Radweg in einen
Gehweg. Die Grünen erwischen die Abfahrt nicht. Und dann wird es plötzlich
hektisch: Der Konvoi wird blockiert.
Männer mit Bierdosen in der Hand haben die Räder bemerkt. Die Gruppe war
gerade aus einem Ausflugsbus mit Kennzeichen des Nachbarkreises gestiegen.
Drei von ihnen bauen sich jetzt auf dem Gehweg auf und blöken los. Es geht
ihnen um die Einhaltung der Verkehrsregeln einerseits und um das Lastenrad
mit dem Parteilogo andererseits. Sie wollen den Grünen keinen Raum lassen.
Aber die Grünen, zumindest die aus Recklinghausen, wollen den Raum auch
nicht hergeben. „Ich schmeiß’ dich in den See“, brüllt einer der Ausfl�…
einem der Westdeutschen ins Gesicht, als der den Gehweg partout nicht
verlässt. Ein anderer Grüner hat da schon die 110 am Telefon. Alles riecht
nach der nächsten Schlagzeile. „Grüne in Brandenburg angegriffen.“
Es geht dann doch gut aus. Der nüchterne Teil der Ausflugsgruppe ruft die
eigenen Männer zurück, Geschäftsführerin Poensgen leitet den letzten
West-Grünen auf die Straße, der Konvoi kann weiterfahren. Die Polizei lässt
sich zwar nicht so schnell abwimmeln. Wenn sie das Stichwort Wahlkampf
hört, ist sie mittlerweile auf Zack. Aber als die Beamten nach ihrem
fünften Rückruf nicht mehr durchkommen, weil die Grünen mittlerweile eine
Badepause eingelegt haben und auf ihrer Rast keinen Handyempfang haben,
holen auch sie ihre Streife zurück.
„Ich habe in Gelsenkirchen gearbeitet, ich habe schon Schlimmeres erlebt“,
sagt Nicole Uschmann. „Bei mir stand mal ein Nazi im Büro“, sagt ein
anderer aus ihrer Delegation, der zu Hause in Nordrhein-Westfalen im
Landtag sitzt. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt etwas leiser Heiko
Richter, der Tankstellenpächter aus dem Kreis. Er ist aber auch noch nie
mit zehn anderen Grünen und einem Lastenrad durch die Gegend gefahren.
## Schwieriges Mindset
Was war nun in Senftenberg anders als in Recklinghausen? „Eigentlich
vereint uns mehr, als uns trennt“, sagt Uschmann in dem Telefonat unter der
Woche. „Hier wie dort kennen es die Leute, dass ihnen etwas genommen wurde,
worauf sie stolz waren.“ Im Ruhrgebiet bleibe immerhin noch der Kult um die
eigene Bergbaugeschichte. Im Osten nur das Gefühl, dass man einverleibt
wurde. Und was kann man da im Wahlkampf machen? „Bei denen, die mit 150
Prozent reingehen: Einfach mal reden lassen. Die wollen erzählen. Die haben
was. Es bringt nichts, wenn wir die mit Sachargumente volllabern.“
Am Samstagvormittag auf dem Marktplatz gibt es noch so einen speziellen
Fall: „Alles für Deutschland“, sagt am Stand ein Rentner mit Hut zur
Begrüßung. Die verbotene SA-Lösung, für die kürzlich Björn Höcke verurte…
wurde. „Habe ich nur zitiert. Ist ja verboten.“
„Das hat ja auch einen historischen Hintergrund“, sagt Jan Matzoll, der
Landtagsabgeordnete aus Recklinghausen.
Der Hutrentner wechselt das Thema, kommt auf den Nahostkonflikt: „Die
Juden, denen man so viel angetan hat, machen jetzt dasselbe.“
Dahinter stecke jetzt aber ein schwieriges Mindset, erwidert Matzoll.
Der Hutrentner wechselt wieder das Thema: „In Schwarzheide hatten wir ja
einen Betrieb mit sowjetischen Wissenschaftlern. Sind Sie von hier?“ – „I…
bin Abgeordneter in Nordrhein-Westfalen.“ – „Ein Berufspolitiker! Die
Elite!“ Der Rentner zieht die Vokale in die Länge.
Matzoll könnte das Gespräch jetzt beenden, offensichtlich führt das hier zu
nichts. Aber er hat Zeit, der Stand ist gut besetzt, und deshalb bleibt er
dran. Fast eine Stunde lang wird er sich mit dem Mann unterhalten.
Thematisch springen sie hin und her: Mal geht es um den Buddhismus in
Tibet, dann um den alten polnischen Landadel und zwischendurch auch um die
Wende und die Treuhand. Ob er danach anders über die Grünen denkt als
zuvor? „Nö“, sagt der Rentner beim Abschied.
War das Gespräch nicht vergeudete Zeit? „Nein“, sagt Matzoll. „Ich habe …
nicht überzeugt. Aber vielleicht erzählt er jemandem, dass er einen Grünen
aus dem Westen getroffen hat, der auch nicht findet, dass bei der Wende
alles super gelaufen ist. Wäre doch schon mal was.“
Zwischendurch hatte der Mann mit dem Hut erwähnt, dass er die Grünen noch
nie auf dem Marktplatz gesehen habe. Er wollte schon mal in das Büro in der
Bahnhofstraße gehen, aber immer, wenn er vorbei kam, war es geschlossen.
Die Grünen kannte er bisher nur aus dem Fernsehen. Der Abgeordnete aus
Recklinghausen war der erste von ihnen, den er in echt erlebt hat.
Wenn es blöd läuft, war er aber auch der Letzte.
14 Sep 2024
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Tobias Schulze
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