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# taz.de -- Vergewaltigungsprozess in Frankreich: Der Mut der Madame Pélicot
> Gisèle Pélicot wurde vom Ehemann sediert, missbraucht und Männern über
> Jahre zur Vergewaltigung ausgeliefert. Ihr Fall könnte nun etwas
> verändern.
Bild: Gisèle Pélicot will auch Vorbild für andere Betroffene sein
Das bewusstlose Opfer liegt entblößt über einen Tisch gebeugt. Neben ihr
steht eine Flasche Rohypnol, eine Gruppe Männer steht hinter ihr Schlange,
um sie zu vergewaltigen. Und ihr Mann, auch nackt und filmend, steht
daneben und ruft: „Der Nächste!“ Derart geschmacklos und menschenverachtend
[1][karikiert das französische Satiremagazin Charlie Hebdo den Fall], der
in den dortigen Medien die „Vergewaltigungen von Mazan“ genannt wird. Der
Gerichtsprozess, der Anfang September begann, hält ganz Frankreich in Atem.
Eine Frau wurde unter Drogen gesetzt und dutzendfach vergewaltigt – einer
der grausamsten Fälle der französischen Geschichte. [2][„Ich war nie
Charlie“], kommentiert eine Nutzerin in Anspielung auf die
Solidaritätsverkündungen mit Charlie Hebdo [3][nach dem islamistischen
Anschlag im Januar 2015]. Dieser war „genauso schrecklich und
unentschuldbar wie die Scheiße, die sie zeichnen“, antwortet eine andere.
Ein Mann hat die Karikatur verbrochen. Natürlich.
Opfer der „Vergewaltigungen von Mazan“ ist Gisèle Pélicot, die explizit
darum bittet, in den Medien mit ihrem vollständigen Namen erwähnt zu
werden, da er Mut verkörpere, wie ihre Anwält_innen am Donnerstagmorgen vor
dem Gericht Vaucluse in Südfrankreich wiedergeben. Ihr Mann Dominique
Pélicot hatte sie auf der anonymen [4][Chatseite „coco.gg“] auf seinem
Kanal „À son insu“, also „Ohne ihr Wissen“ fremden Männern zum Sex
angeboten.
Er hat das Beruhigungsmittel Temesta, ein [5][Benzodiazepin], zerdrückt, in
ihr Abendessen gemischt, die Unbekannten anschließend in das eheliche
Schlafzimmer eingeladen und die bewusstlose Frau der Vergewaltigung
ausgeliefert. Die mutmaßlichen Täter erhielten dabei strenge Anweisungen,
um das Opfer nicht zu wecken, etwa kein Parfum zu tragen und die Hände
vorher aufzuwärmen. Dominique Pélicot gesteht die Taten. Auch, dass er
seine Frau vergewaltigte. Nur zufällig kam das Ganze ans Licht.
## 50 Jahre verheiratet
Gisèle und Dominique Pélicot waren etwa 50 Jahre verheiratet, haben drei
Kinder und sind 2013 mit Renteneintritt nach Mazan, einem Ort in der
Provence, gezogen. In der benachbarten Stadt Carpentras wurde der Täter im
September 2020 in der Supermarktkette Leclerc dabei erwischt, wie er
[6][unter die Röcke von drei Frauen filmte].
Als die Ermittler daraufhin seinen Computer durchsuchten, fanden sie
unzählige Vergewaltigungsvideos von der heute 71-jährigen Rentnerin. Auch
auf Fotos ihrer nackten und bewusstlosen Tochter stießen sie. Die Videos
waren akribisch beschriftet, [7][wie Le Monde berichtet]: „Missbrauch/Nacht
vom 26.05.2020 mit Marc, fünftes Mal“ oder „Missbrauch/Nacht vom 09.06.2020
mit Charly, sechstes Mal“.
Um die 200 Videos fanden die Ermittler, begangen von etwa 83 mutmaßlichen
Tätern im Zeitraum von Juli 2011 bis Oktober 2020. 51 davon kann die
Polizei identifizieren, darunter einen Krankenpfleger, einen Feuerwehrmann,
einen Journalisten, einen Gärtner, Familienväter. Und den Ehemann. Heute
stehen sie vor Gericht.
Einige halten daran fest, dass sie dachten, es handle sich eben um ein
sexuell freizügiges Paar. (In Frankreich gilt nicht mal [8][„Nein heißt
Nein“], nur, wenn Gewalt angewendet wird, gilt eine Vergewaltigung als
solche.) In den Videos erkenne man aber, dass sie unter Drogen stehe, so
Gisèle Pélicot: „Eine Tote auf einem Bett. Der Körper ist aber nicht kalt.
Er ist warm, doch ich bin wie tot.“ 14 der Männer haben sich bereits
schuldig bekannt.
## Internationale Schockwelle
Eine Cold-Case-Abteilung in Nanterre klagt den Haupttäter Dominique Pélicot
daneben noch in [9][zwei anderen Fällen] an: Mord mit Vergewaltigung, den
er 1991 in Paris begangen haben soll (er bestreitet dies), und versuchte
Vergewaltigung, 1999 in Seine-et-Marne, die er nach DNA-Übereinstimmung
zugab.Der Fall wird als historisch bezeichnet und löst nicht nur in
Frankreich eine Schockreaktion aus. International wird über die
„Vergewaltigungen von Mazan“ berichtet, immer schwankend zwischen
essenzieller und aufklärender Berichterstattung über den grausamen Fall und
Sensationsgier, der Lust am Morbiden.
Gisèle Pélicot hatte dafür plädiert, dass der Prozess, der bis Dezember
andauern wird, nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, um
auf das Phänomen der soumission chimique, das Gefügigmachen mit
Psychopharmaka, aufmerksam zu machen: „Wenn andere Frauen ohne jegliche
Erinnerung aufwachen, werden sie sich vielleicht an die Aussage von Madame
Pélicot erinnern.“
Ihr Anwalt Stéphane Babonneau sagte darüber, dass „die Beschämung die Seite
wechseln müsse“. Gerade deswegen ist ein sensibler Umgang der Presse nötig
– anders als bei Charlie Hebdo. Dazu gehört auch, dem Prozess Raum zu geben
und ihn nicht als True Crime zu stilisieren, wo jedes grausame Detail
ausgeschlachtet wird.
## Plattform musste schließen
Feminist_innen weltweit fordern jetzt Aufklärung und eine lückenlose
Aufarbeitung im Prozess. Wie konnten Nachbar_innen oder Bekannte nichts
davon mitbekommen? Wie erklärte sich das Opfer ihre oft stundenlangen
Gedächtnislücken? Eine Erklärung dafür könnte potenziellen Opfern dabei
helfen, Symptome früher zu erkennen. Warum wurden die gynäkologischen
Beschwerden der Frau nicht adäquat identifiziert? Auch dass die Plattform
coco.gg schließt, die diese Treffen überhaupt ermöglichte, forderte man.
Erfolgreich.
Die 2003 gegründete Seite, die auf der britischen Insel Guernsey
registriert war, wurde im Juni 2024, schon bevor der Prozess begann,
blockiert, nachdem sie ihre Domain zuvor noch von coco.fr zu coco.gg
geändert hatte. Frei von jeglicher Moderation konnten Leute dort
kommunizieren und sich verabreden. So machte die Seite Drogen- und
Waffenhandel, Pädokriminalität, Prostitution und homophobe Gewalttaten
möglich.
[10][Auf Kanälen wie „Sie gegen ihren Willen nehmen“ wurden
Vergewaltigungen gezeigt, geheime Aufnahmen teilte man bei „Exhib-Frauen“
oder „Candaulismus“, Revenge-Porn im Raum „Ex-Freundin“]. Ob dort
irgendwelche Bilder oder Videos mit Einwilligung der Frauen hochgeladen
wurden, ist stark zu bezweifeln.
Zuletzt geriet die Seite im [11][April 2024 in die Schlagzeilen], nachdem
sich der 22-jährige Philippe Coopmann aus der Nähe von Dunkerque im Norden
Frankreichs auf coco.gg mit einer Minderjährigen verabredet hatte. Ein 14-
und 15-Jähriger hatten Coopmann getäuscht und ihn „zur Strafe“, wie sie
selbst sagten, so zusammengeschlagen, dass er an den Folgen starb.
[12][Laut TFI-Info] ergab eine Auswertung von Polizeitaten, dass zwischen
dem 1. Januar 2021 und dem 7. Mai 2024 etwa 23.000 Gerichtsverfahren im
Zusammenhang mit der Plattform eingeleitet wurden. Jetzt ist coco.gg nicht
mehr aufrufbar. Endlich, sagen viele, das zeige auch der Fall aus Mazan.
Was Gisèle Pélicot geschah, ist einerseits ein Ausnahmefall und zeugt
anderseits von der strukturellen Gefahr, der Frauen ausgesetzt sind. Wie
kann es sein, dass diese höchstkriminelle Parallelwelt so lange frei und
unkontrolliert zugänglich war, obwohl Behörden auf die Seite aufmerksam
gemacht wurden und Zugriff auf die verstörenden Inhalte hatten? Wer
übernimmt dafür die Verantwortung? Auch diese Frage sollte im Prozess
beantwortet werden. Denn derart gravierende Fälle dürfen nicht nur durch
Zufall aufgedeckt werden.
10 Sep 2024
## LINKS
[1] https://www.instagram.com/p/C_gFSFvNJ_R/
[2] /Debatte-Solidaritaet-mit-Charlie-Hebdo/!5023701
[3] /Terror-in-Frankreich/!5024557
[4] https://www.leparisien.fr/faits-divers/coco-le-site-mis-en-cause-dans-des-g…
[5] /Neue-Jugenddroge-Benzodiazepine/!5791470
[6] /Haertere-Strafe-fuer-Upskirting/!5698063
[7] https://www.lemonde.fr/societe/article/2023/06/20/c-est-sa-femme-il-fait-ce…
[8] /Offener-Brief-zu-EU-Richtlinie/!5985733
[9] https://www.lemonde.fr/en/france/article/2024/09/03/the-other-charges-facin…
[10] https://www.20minutes.fr/by-the-web/4042318-20230623-entre-pratiques-sexue…
[11] https://www.lemonde.fr/societe/article/2024/04/24/meurtre-de-philippe-coop…
[12] https://www.tf1info.fr/justice-faits-divers/pedocriminalite-guets-apens-ho…
## AUTOREN
Valérie Catil
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