# taz.de -- Die Freundschaftsfamilie: Co-Parenting | |
> Seit acht Jahren sind Teresa und Flo eng miteinander befreundet. Er ist | |
> schwul, sie single. Sie bekommen ein Kind. Wie sieht ihr Leben jetzt aus? | |
Bild: Eine Familie, aber kein Paar | |
Erschöpft lässt sich Teresa Trabert auf das Sofa in der Küche fallen und | |
hüllt sich in eine Decke ein. Ihr Sohn, anderthalb Jahre alt, ist gerade | |
eingeschlafen. Es ist halb acht an einem Abend im April, eine Wohnung in | |
Rostock. Florian Kasch räumt Besteck in die Spülmaschine ein. Seit knapp | |
zwei Jahren wohnen die beiden zusammen in einer WG. Er schrubbt mit der | |
Bürste über Schüsseln, mit dem Lappen wischt er über den Tisch. Dann sinkt | |
auch Florian auf das Sofa, reibt sich die Augen. Teresa gähnt. Sie | |
umklammert ihre Teetasse. | |
Teresa Trabert, 35, und Florian Kasch, 32, haben sich vor vier Jahren | |
entschieden, zusammen Eltern zu werden – als Freunde und Co-Eltern. Sie | |
haben ohne romantische Beziehung ein Kind zusammen bekommen und wollen es | |
gemeinsam aufziehen. [1][Co-Parenting] nennen Soziologen, was Trabert und | |
Kasch leben. Obwohl es keine einheitliche und genaue Definition in der | |
Wissenschaft gibt, beschreibt Co-Parenting oft das Elternsein als eine | |
Beziehung von zwei oder mehr Menschen, die eine Familie gründen, sich aber | |
nicht lieben und nicht als Paar miteinander leben. Egal, welches Geschlecht | |
die Eltern haben oder welche sexuelle Orientierung. Florian, Teresa und ich | |
kennen uns seit drei, vier Jahren, sind lose befreundet. Beide werden | |
deshalb in diesem Text auch bei ihren Vornamen genannt. Heute besuche ich | |
sie aber als Journalistin, will über ihr Elternmodell berichten. | |
Als erstes blicken wir zurück auf den Sommer von vor vier Jahren. Wir | |
spielen ein Kartenspiel, das sie auch damals gespielt haben. Eine Freundin | |
hatte das Spiel für sie gebastelt, Dutzende Aussagen überlegt und auf | |
Kärtchen gedruckt. Dazu ein Block mit Herzen. Stimmten Florian und Teresa | |
den Aussagen beide zu, sammelten sie Herzen. Je mehr gemeinsame Herzen, | |
desto sicherer schien die Entscheidung für ein Kind. | |
Nun spielen wir eine Neuauflage des Spiels. Ich will wissen, was sich | |
verändert hat, seitdem die beiden Eltern geworden sind. Teresa zieht eine | |
Karte. Liest vor: „Ich bin bereit – so beides unvereinbar ist –, das Wohl | |
des Familienzusammenhalts im Zweifel über eine Liebesbeziehung zu stellen.“ | |
Diese Karte haben sie damals schon gezogen. | |
Florian scherzt: „Ich erinnere mich. Es ging vor allem darum, was passiert, | |
wenn jemand von uns wegzieht. Wenn ich zum Beispiel [2][einen heißen Boy | |
auf dem CSD in Berlin aufgabele] und zu ihm ziehe.“ | |
Teresa lacht. | |
Florian: „Ich weiß, was wir geantwortet haben. Das wäre unvereinbar, wenn | |
die Partner, in die wir uns verlieben, keinen Bock auf unser Familienmodell | |
haben. Aber in solche Typen würden wir uns nicht verlieben.“ | |
Teresa: „Genau, oder wir lassen sie nicht weiter in unser Leben, sondern | |
nur die, die für unser Familienmodell offen sind.“ | |
Florian: „Ja, aber ein neuer Partner würde auf jeden Fall Veränderungen mit | |
sich bringen, für uns als Familie.“ | |
Teresa: „Und so war es ja auch, als du vor ein paar Monaten mit Karl eine | |
Romanze hattest. Da war dieser Hauch der Veränderung. Da war ja diese | |
Freude und gleichzeitig ein Loslassen von dem, was zwischen uns ist.“ | |
Es gibt wenige Wissenschaftler:innen im deutschen Raum, die zu | |
Co-Parenting forschen, eine davon ist die Soziologin Christine Wimbauer an | |
der Humboldt-Universität Berlin. In ihrem Buch „Co-Parenting und die | |
Zukunft der Liebe“ fragt Wimbauer, [3][ob die romantische Liebe] überhaupt | |
noch notwendig dafür sei, ein glückliches und gelungenes Familienleben zu | |
führen. Oder ob nicht andere Werte wichtig seien, die eine bewusst geplante | |
Co-Elternschaft bieten könne: Verlässlichkeit, Verantwortung, Zuneigung | |
zueinander. Vielleicht sogar im bewussten Gegensatz zur unbeständigen und | |
unvernünftigen Paarliebe. | |
Denn die Hälfte der Ehepaare in Deutschland, die sich scheiden lassen, | |
haben minderjährige Kinder. Kann also eine Co-Elternschaft, wie Teresa und | |
Florian sie leben, ein einfacher, auch schmerzfreierer Weg sein? Und kann | |
das Modell auch für unfreiwillige Singles eine Chance sein, eine Familie zu | |
gründen? Können wir von Co-Eltern wie Flo und Teresa lernen? Oder bröckeln | |
auch Freundschaften, ächzen sie unter der Last des Elternseins? | |
## Seelenverwandtschaft | |
Teresa und Florian lernen sich 2016 kennen. Teresa arbeitet als Event- und | |
Projektmanagerin, hat in Rostock ein Kreativquartier mitbegründet. Sie | |
läuft auf fast jeder Demo für das Klima oder gegen Rechtsextremismus mit | |
und trägt zu ihrem Pixie-Haarschnitt immer Ohrringe und Ketten. Wenn sie | |
sich mit Freund:innen in Gespräche vertieft, fühlt sie sich immer tief | |
ein, hört genau zu. Als Florian sich als Praktikant in ihrem Büro bewirbt, | |
freunden sie sich an. Er ist freier Illustrator, unterrichtet heute an | |
einer Berufsschule. Er ist über zwei Meter groß. Florian macht gern Späße; | |
wenn er auf Spielplätzen herumhängt, kann er so mit seinen Lippen flattern, | |
dass sie wie Trompeten klingen und die Kinder darüber lachen. | |
Als sie eine gemeinsame Freundin besuchen, fegt diese ihren Kindern nach | |
dem Abendbrot hinterher, Florian und Teresa räumen das Geschirr ab. Die | |
Freundin sagt im Vorbeiflitzen: „Ihr könntet auch ein Kind zusammen haben, | |
so gut, wie ihr harmoniert.“ | |
Florian und Teresa schauen sich an. Stille. Teresa sagt: „Warum fühlt sich | |
das jetzt nicht komisch an?“ So erinnern sie sich an diesen Abend und bald | |
wächst in ihnen die Idee heran, ein Kind zusammen zu bekommen. | |
Wenige Monate später, im Winter 2020, bastelt dieselbe Freundin ihnen das | |
Kartenspiel, das sie in ihrem Wunsch bestärkt. In dem Spiel werden sie | |
gefragt, ob sie ihre eigenen Bedürfnisse für die Familie zurückstellen, | |
berufliche Chancen sausen lassen würden oder wie und ob sie zusammenwohnen | |
wollen würden. | |
An Weihnachten geben sie sich das „Ja-Wort“, so sagt es Teresa heute | |
scherzhaft. Sie fragen sich: Wollen wir Sex miteinander haben? Und | |
schütteln sich. Nee. Eine Kinderwunschklinik, die Teresa Florians Sperma | |
einsetzt, kommt vorerst nicht in Frage. Sie entscheiden sich für die | |
Bechermethode. | |
## Praktische Wege zum Kind | |
Wenn Menschen sich ein Kind wünschen, das aber nicht durch Penetrationssex | |
natürlich geschehen kann oder soll, können sie verschiedene Wege gehen: Es | |
gibt Solo-Mütter, die mit einer Samenspende schwanger werden, im Rahmen | |
einer [4][medizinischen Kinderwunschbehandlung]. Es gibt Paare, die Kinder | |
adoptieren. Manche werden Pflegeeltern, andere suchen sich im Ausland eine | |
Leihmutter, die ein Kind für das Paar austrägt. Alleinstehende oder | |
homosexuelle Paare können inzwischen online nach einem Mitglied zur | |
Familiengründung suchen, wenn sie niemanden im Bekanntenkreis finden. Auf | |
wenigen Plattformen im Internet können sich Menschen mit Kinderwunsch | |
kennenlernen und freundschaftlich daten. Und dann gibt es: die | |
Heiminsemination. Die private Samenspende. | |
Teresa erinnert sich. „Wir haben es uns in meiner Wohnung nett gemacht, | |
jeder mit sich selbst. Flo war im Wohnzimmer, ich in meinem Schlafzimmer. | |
Dann kam er rein mit dem Becher. Und ich habe die Beine an die Wand nach | |
oben gelegt und mit der Spritze das Sperma vaginal eingeführt.“ | |
Danach kuscheln beide miteinander. Gucken Filme. Quatschen. Beim vierten | |
Mal klappt’s. Teresa ist schwanger. | |
## Verantwortung übernehmen | |
Beide, Florian und Teresa, sind jeweils mit vier Geschwistern aufgewachsen. | |
Teresa im Saarland, Florian in Vorpommern. Als ich Teresa bei einem | |
Gespräch einmal danach frage, was Familie für sie bedeutet, sagt sie: | |
„Unsere engen Freundinnen betrachten wir auch als Familie. Das ist etwas | |
anderes als die Familie, in der ich groß geworden bin, aber ich weiß, die | |
sind genauso da.“ | |
Ich hake nach: „Aber wenn du über Familie und Verantwortung sprichst, | |
übernehmen eure Freund:innen auch Verantwortung für euer Kind?“ | |
Teresa: „Nicht so, wie ich es mir wünschen würde.“ | |
Florian, Teresa und ihr Kind – sie sind die Kernfamilie. Auch Florian | |
empfindet das so. „Wer kann das als schwuler Mann schon so sagen. Klar, es | |
gibt die queeren Drag-Familien, die zusammengewürfelten Freundeskreise, die | |
sich als Familie sehen, weil sie zum Beispiel bei ihren leiblichen Familien | |
rausgeflogen sind oder nicht erwünscht sind, weil sie eben queer sind. | |
Meine Familie supportet mich, und trotzdem habe ich auch den Wunsch, ein | |
Zuhause zu haben. Teresa und unser Kind sind gerade mein Zuhause, und das | |
ist ein schönes Gefühl.“ | |
## Pläne für das „kleine Sorgerecht“ | |
Familien heute sehen unterschiedlich aus. Das Bundesfamilienministerium | |
schätzt, dass etwa 10.000 Regenbogenfamilien mit Kindern in Deutschland | |
leben. Das Ministerium definiert diese als Familien aus | |
gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kindern. Alle anderen Familienmodelle – | |
auch das Co-Parenting – erfasst die Behörde nicht. Um es diesen Menschen | |
rechtlich einfacher zu machen, startete das Bundesjustizministerium Anfang | |
dieses Jahres eine Offensive. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) | |
veröffentlichte ein Papier, das das Familienrecht in Teilen ändern soll. Er | |
schlägt unter anderen ein „kleines Sorgerecht“ vor, bei dem die Eltern in | |
Zukunft bis zu zwei weiteren Personen sorgerechtliche Befugnisse einräumen | |
können. Das wären zum Beispiel neue Partner:innen von Florian und | |
Teresa. Bisher teilen sich beide das Sorgerecht. | |
Allerdings schreibt das Ministerium auch: „An bewährten Grundsätzen des | |
geltenden Rechts werden wir dabei festhalten: Auch künftig wird die Frau, | |
die das Kind geboren hat, immer Mutter des Kindes sein. Und auch künftig | |
gilt: Ein Kind kann nur zwei rechtliche Eltern haben.“ Wie diese Offensive | |
weitergeht, ist aktuell unklar. | |
Dass das Modell der Co-Elternschaft außergewöhnlich ist, merkt Teresa schon | |
in der Schwangerschaft. In Rostock, der einzigen Großstadt in | |
Mecklenburg-Vorpommern, findet sie kaum eine Veranstaltung, kaum ein | |
Angebot zu dem Thema. Überhaupt: Offizielle Zahlen oder Statistiken, wie | |
viele Co-Eltern in Deutschland leben, werden aktuell nicht erhoben. Bis | |
Teresa im Frühjahr 2022 auf eine Lesung zum Thema Feministische | |
Elternschaft in einem Rostocker Kulturhaus stößt. Dort betritt sie einen | |
Seminarraum mit leeren Stuhlreihen. Nur die Referentin, die das Buch | |
vorstellt, und zwei Studierende der Gender Studies sind gekommen. Teresa | |
erzählt von dem Abend. Sie habe irgendwann preisgegeben, warum und in | |
welcher Rolle sie da sei: als schwangere Co-Mutter. | |
Es prasseln Fragen auf Teresa ein. Sie fühlt sich wie ein | |
Versuchskaninchen. Warum entscheiden sich Menschen dafür? Gibt es Studien | |
darüber, wie es den Kindern damit geht? Was ist, wenn sich eine Person | |
verliebt? Die Referentin habe keine Antworten auf die Fragen gehabt. Teresa | |
habe nur von Dokumentationen im Fernsehen berichten können, die sie gesehen | |
habe: „Ich habe da gelernt, dass es am Ende nicht darum geht, in welchem | |
Familiensystem ein Kind aufwächst. Sondern entscheidend ist, dass da | |
Menschen sind, die es lieben. Egal, wie viele Personen es sind.“ | |
## Kein Austausch mit Gleichgesinnten | |
Eigentlich hatte Teresa sich an diesem Abend gewünscht, offen über ihre | |
Gedanken zu sprechen. So ein Austausch fehlt ihr bis heute. Ob und wie sich | |
Co-Parenting auf Kinder auswirkt, ist nicht bis kaum erforscht. Es gibt | |
allerdings Wissen darüber, wie sich Kinder, die durch Samenspende gezeugt | |
wurden, entwickeln – egal in welcher Familienkonstellation. Das | |
Bundesministerium für Familien weist darauf hin, dass sich diese Kinder in | |
der Entwicklung nicht von natürlich gezeugten Kindern unterschieden. Das | |
zeigten wissenschaftliche Studien. So hat sich etwa Susan Golombok, | |
Professorin für Familienforschung an der Universität Cambridge, | |
jahrzehntelang mit neuen Familienformen beschäftigt, mit lesbischen und | |
schwulen Familien, mit Eizellenspenden, Solo-Müttern, Leihmüttern. In einer | |
Längsschnittstudie aus dem Jahr 2023 fragte sie: Wie geht es Müttern und | |
ihren Kindern, die mit Hilfe Dritter gezeugt wurden? Wie gut ist deren | |
Beziehung? | |
Das Team um Golombok führte über mehrere Jahre hinweg Interviews mit den | |
Müttern und ihren Kindern durch, ließ sie Fragebögen ausfüllen, um Daten | |
über deren Wohlbefinden zu sammeln. Das Ergebnis: Die Bindungen und | |
Beziehungen sind positiv, egal, ob die Kinder mithilfe Dritter oder auf | |
natürlichem Wege gezeugt und geboren wurden – sofern Eltern mit ihren | |
Kindern vor Beginn der Schulzeit offen darüber reden würden, wie sie | |
gezeugt wurden. | |
„Ich glaube nicht, dass ich unserem Kind unsere Familie erklären muss, | |
sondern es lernt halt von Beginn an, auch mit den Büchern und was wir ihm | |
im Leben zeigen, dass das, was wir hier leben, ganz normal ist“, sagt | |
Teresa in einem unserer Gespräche. | |
Im Sommer 2022 tragen Flo und Teresa die Vaterschaft beim Jugendamt ein, | |
wie viele andere Eltern auch, die nicht miteinander verheiratet sind. Sie | |
ziehen zusammen in einer Dreizimmerwohnung. Aber sie können sich beide | |
nicht vorstellen, ewig zu dritt zusammen wohnen zu bleiben. Im Oktober 2022 | |
kommt ihr Sohn zur Welt. Sie erleben die Geburt zusammen, das Wochenbett | |
und landen direkt im Strudel des Elternseins, müssen einkaufen, Essen | |
kochen, wickeln, das Baby tragen, mit ihm spazieren, Termine bei | |
Ärzt:innen und Hebammen ausmachen, putzen, Wäsche waschen, vor Ermüdung | |
schlafen. Teresa nimmt zwölf Monate Elternzeit, Florian zwei Monate – eine | |
eher klassische Aufteilung, auch wenn er nur an zwei Tagen pro Woche fest | |
arbeitet. Florian sagt dazu: „Ja. Im Nachhinein betrachtet, habe ich | |
trotzdem immer ein bisschen zu viel gearbeitet.“ | |
Florian sagt zu Teresa: „Du hast viel weniger Zeit, abends dein Ding zu | |
machen, weil du stillst und unser Sohn bisher bei dir schläft. Ich gehe | |
rüber in mein Bett und kann durchschlafen. Du hast seit eineinhalb Jahren | |
keine erholsame Nacht mehr gehabt. Das ist schon der größte Unterschied.“ | |
Teresa sagt, das sei das eine. Die Zeit mit ihrem Kind. Sie haben das so | |
entschieden, für das erste Jahr. „Dafür hat Flo sich klassisch um die | |
Waschmaschine gekümmert. Aber ich habe nie gedacht, Flo könnte auch mal | |
wieder spülen oder die Wäsche machen.“ | |
## Mit Konflikten umgehen | |
Florian und Teresa streiten kaum, necken sich eher. Als Florian einmal den | |
Kinderrucksack ihres Sohnes verliert, rollt Teresa zwar mit den Augen. Aber | |
sie druckt Fotos des Rucksacks aus, laminiert die Blätter, hängt die Bilder | |
überall an Laternenmasten im Viertel auf. Sie sagt: „Es könnte irgendwann | |
ein Konflikt sein. Weil Flo so gerne Dinge verliert. Ich wünsche mir für | |
meinen Sohn, dass er lernt, auf seine Sachen achtzugeben.“ | |
Ich frage Florian: Nervt dich etwas an Teresa? | |
Erst schüttelt er den Kopf. | |
Flo: „Doch. Du findest manchmal so Sachen auf dem Sperrmüll und sagst: Och, | |
da könnte ich was Schönes draus machen. Und dann stehen die Sachen hier | |
eine Million Jahre herum und damit passiert überhaupt nichts mehr. Dann | |
denke ich: Lass es doch einfach sein.“ | |
Teresa lacht. | |
Viele andere Elternpaaren streiten, wer welche Sorgearbeiten übernimmt, | |
über finanzielle Fragen, über Intimität nach der Geburt, oder wie sehr sich | |
Großeltern in die Erziehung einmischen dürfen. Florian und Teresa haben | |
vieles – auch dank des Kartenspiels – schon vor der Geburt besprochen. | |
An einem lauen Wochenende im Februar 2024, fast eineinhalb Jahre nach der | |
Geburt des Sohnes, versammelt sich Teresa mit ihrer Familie in einem | |
Ferienhaus auf dem Darß in Mecklenburg-Vorpommern: Drei ihrer Geschwister, | |
ihre Mutter, ihre Nichte – und Teresas Sohn. Im hinteren Teil des Gartens | |
sitzen Teresas Mutter und ihre Schwester in einem Holzpavillon, trinken | |
Kaffee. Teresa steht davor. | |
## Die Mutter freut sich auf Enkelkinder | |
Ich bin als Journalistin dabei und frage ihre Mutter im Gespräch: „Was hast | |
du gedacht, als Teresa dir von ihrem Plan erzählte, mit Florian ein Kind zu | |
bekommen?“ Sie lacht. „Gut, endlich mehr Enkelkinder.“ | |
Florian war ein Freund der Familie, schon bevor er überhaupt Vater werden | |
sollte. „Er ist anders als meine anderen Schwiegersöhne“, sagt Teresas | |
Mama. Nur, dass Florian kein Schwiegersohn ist, eigentlich. „Er hilft sehr | |
viel.“ | |
Teresas Schwester grätscht hinein. „Bei uns ist das halt anders, mein Mann | |
arbeitet in der Woche in einer anderen Stadt, kommt nur am Wochenende nach | |
Hause. Ich bin selbstständig, er hat einen festen Job.“ | |
Teresas Mutter schaut Teresa an, sagt: „Madämchen hat es gut und wird ganz | |
schön verwöhnt.“ Sie meint: von Flo. | |
## Die Sache mit der Intimität | |
Auch deshalb feiert Teresa, dass sie sich für das Co-Parenting entschieden | |
haben. Sie wusste, welchen feministischen, gleichberechtigten Anspruch Flo | |
an die Elternschaft hatte und erzählt davon, dass die beiden Stoffwindeln | |
für ihr Kind nutzen, keine Einwegwindeln. Das bedeutet auch: Zwei bis drei | |
Extrawaschgänge in der Woche nur für Windeln, um die sich auch Flo kümmert. | |
„Er hat sich so viele Youtube-Videos angeguckt, was für Windelsysteme und | |
Wickelformen es gibt“, sagt Teresa. Die beiden haben keinen Koch-, keinen | |
Putzplan, „sondern das geschieht alles ganz natürlich. Wir haben uns | |
neulich kurz gefragt: Geht es uns beiden so, dass sich das cool anfühlt? | |
Das haben wir beide bejaht.“ | |
Im Garten des Ferienhauses frage ich die Mutter weiter: „Wünschst du Teresa | |
dennoch eine partnerschaftliche Beziehung?“ Sie antwortet: „Natürlich, das | |
gehört doch auch dazu. Oder?“ Sie blickt zu Teresa. Hängt ein großes | |
Fragezeichen dran. | |
Die schaut in die Ferne, schweigt. | |
Später erzählt sie mir von einem Gespräch zwischen ihr und ihrem Bruder. Er | |
habe gefragt: „Euer Kind sieht euch nie in einer romantischen Beziehung. | |
Findest du das nicht problematisch?“ Teresa antwortete ihm: „Wir sind | |
Scheidungskinder. Hast du Mama und Papa jemals in einer liebevollen | |
Beziehung gesehen?“ | |
Da ist es, dieses Bild der Familie, das tief in unseren Köpfen steckt. | |
Dabei war das nicht immer so. | |
Wenn wir einen Blick zurückwerfen, waren bis in die neueste Geschichte | |
hinein Liebe und Ehe getrennt. „Dabei waren die Familienstrukturen immer | |
dynamisch und nie statisch. Die statische Kernfamilie, wie wir sie kennen, | |
existiert eigentlich erst ab dem 20. Jahrhundert“, schreibt die | |
Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes in ihrem Buch „Die Erfindung der | |
Hausfrau – Geschichte einer Entwertung“. Lange Zeit hätten Menschen aus | |
ökonomischen Gründen Ehen geschlossen, aus Vernunft, weil deren Eltern das | |
so entschieden haben. | |
## Manchmal fehlt Teresa die Romantik | |
Als wir uns nach dem Familienwochenende auf dem Darß in einem Rostocker | |
Café wiedertreffen, sagt Teresa, dass ihr die intime, die romantische Liebe | |
manchmal schon fehle. „Wir sind halt so sozialisiert, als ob wir ohne eine | |
romantische Beziehung keine vollständigen Menschen seien. Meine Mutter hat | |
es ja auch gesagt. Dabei hätte sie mich auch fragen können, wie es mir | |
damit geht, nicht in einer romantischen Beziehung zu sein, ja sogar noch | |
nie gewesen zu sein.“ | |
Viele Menschen in Deutschland heiraten heute aus Liebe. Dabei gibt es noch | |
andere Lieben: die platonische Liebe aus dem antiken Griechenland, die | |
Minne, die Liebesdichtung unter Adligen, die christliche Nächstenliebe. Und | |
Menschen, die meditieren, kennen die Metta, die liebende Güte. Trotzdem: | |
Das Motiv der romantischen und körperlichen Liebe hat sich in unsere | |
Gehirne eingebrannt. Die Soziologin Christine Wimbauer schreibt in ihrem | |
Buch über die Zukunft der Liebe: „Gerade in der entzauberten, nicht selten | |
feindseligen Moderne wurde die romantische Liebe kulturell enorm | |
aufgewertet und zum höchst erstrebenswerten Gut, zum Hafen in einer | |
herzlosen Welt.“ | |
## Ein intensiver Dreiklang | |
Teresa und Florian sind in freundschaftlicher Liebe verbunden, sind ein | |
intensiver Dreiklang, wie Teresa sagt. Eine Familie. „Und trotzdem spielt | |
auch Intimität eine wichtige Rolle in meinem Leben. Die lebe ich mit Flo | |
nicht aus“, sagt Teresa. Florian dagegen lebe sich aus, zumindest | |
gelegentlich, in Liebschaften. „Da wird mir natürlich gespiegelt, was mir | |
fehlt. Nicht zwischen uns, aber mir für mich.“ Auch Teresas Alltag macht es | |
ihr schwer. „Meine Zeitfenster, neue Menschen kennenzulernen, sind tagsüber | |
zwischen neun und fünfzehn Uhr. Das ist jetzt nicht so die romantische | |
Tageszeit.“ Am Abend kann sie nicht weg, weil sie stillt. Gleichzeitig kann | |
sie sich aktuell nicht vorstellen, einen Partner oder eine Partnerin zu | |
haben und das, was sie als Familie zu dritt teilen, zu verändern. | |
Teresa hat vor ein paar Monaten miterlebt, wie Florian sich verliebt. In | |
Karl. Er blieb gern mal zum Essen. Dann saßen sie als Familie mit ihm am | |
Tisch. Sie hatten nicht vereinbart, dass sie um Erlaubnis bitten müssen, | |
wenn jemand übernachtet, Florian hat Teresa trotzdem immer eine Nachricht | |
geschickt, wenn jemand mit ihm nach Hause gegangen ist. | |
An einem Abend vergisst Florian, ihr Bescheid zu geben, schickt ihr keine | |
Nachricht aufs Handy. Und wenn Teresa aus ihrem Zimmer kommt, steht sie | |
direkt in der Küche, muss hindurch gehen, um ins Bad oder nach draußen zu | |
kommen. So betritt sie am nächsten Morgen die Küche, nach einer schwierigen | |
Nacht, in der ihr Sohn oft wachgeworden ist. So steht sie da mit | |
strubbeligem Haar und fühlt sich überrumpelt: Karl ist ja da. | |
„Dieser Morgen hat mir total gespiegelt: Ihr habt was am Laufen, und ich | |
kann so was gerade nicht ausleben.“ Florian brummt. „Hmm.“ Und sagt: „J… | |
in so einer kleinen Wohnung ist es schon netter, wenn man Bescheid sagt.“ | |
## Schwuler Sex | |
Ein paar Wochen später treffe ich mich mit Florian allein. Das mit dem Sex | |
sei kein Problem für ihn, das könne er schnell und einfach organisieren. | |
Aber auch er sei noch nicht bereit, jemanden wirklich in sein Leben zu | |
lassen. In das gemeinsame Leben mit seinem Sohn und Teresa. Er will nicht, | |
dass noch jemand jeden Tag mit beim Frühstück sitzt. Einem neuen Partner | |
würde er Zeit und Aufmerksamkeit schenken wollen, das sei ihm zu viel. | |
„Wenn mein Sohn um mich herumläuft, neue Sachen lernt, da will ich voll im | |
Fokus bei ihm sein und mich nicht zweiteilen“, sagt er. So sei Karl nach | |
wenigen Wochen wieder aus seinem und ihrem gemeinsamen Leben verschwunden. | |
Florian denkt nach, zwirbelt mit seinen Fingern über den Stoppelbart an | |
Backen und Kinn, dann sagt er: „Es fühlt sich natürlich schon sehr | |
klassisch an, so zu dritt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, mit Teresa | |
auf ewig und immer zu dritt zu sein.“ | |
Er spricht an diesem Abend viel von Freiheit und von Identität. Jetzt erst, | |
eineinhalb Jahre nach der Geburt, habe er verstanden, was es bedeute, Vater | |
zu sein, Vater zu werden. Er sagt, er habe Angst. Angst davor, seine | |
Identitäten nicht entwickeln zu können, weil er sich so sehr für die | |
Vaterrolle aufopfere. „Ich sehe mich nicht zu einhundert Prozent als | |
24/7-Vater. Das bin nicht ich.“ Er spürt die Bedürfnisse, die an diesem | |
anderen Leben hängen, nach Liebe, nach Nähe, Intimität, und Sex. „Ich bin | |
ein schwuler Mann und manchmal fällt es mir schwer, Mutter-Vater-Kind zu | |
spielen.“ | |
Das auszusprechen wühlt ihn auf, sein Tonfall wird energischer, lauter, in | |
seinem Stuhl beugt er sich erst vor, dann zurück und sagt: „Ich will mich | |
verlieben, will an einer Beziehung wachsen, will mich ausleben, weil es zu | |
mir gehört.“ Dann lenkt er ein: „Vielleicht sind diese Dinge aber gerade | |
auch einfach nicht dran.“ | |
## Die Freundschaft hat sich verändert | |
Als wir zu dritt zum letzten Mal für diesen Text zusammensitzen, geht es um | |
ihre Freundschaft. Denn nicht nur Florian, nicht nur Teresa haben sich | |
jeder für sich verändert, auch ihre Freundschaft sei nicht mehr dieselbe. | |
Früher haben sie zusammen herumgelungert, sagt Florian. Netflix gesuchtet, | |
zusammen gekocht. Jetzt sitzen sie, wie viele andere Eltern, abends am | |
Tisch, reiben sich die Augen und gähnen. | |
Teresa sagt: „Eigentlich bräuchte ich ein Freundschaftsdate mit Flo.“ | |
Ich frage: „Seid ihr denn gerade eher mehr Eltern oder mehr Freunde?“ | |
Teresa sagt: „Mehr Eltern.“ | |
Florian stimmt zu. | |
Auch sie können sich als Eltern zerstreiten, können sich trennen, | |
freundschaftlich und räumlich. Florian sagt: „Auch wir sind nicht davor | |
gefeit, uns einander zu verletzen.“ | |
Was Florian und Teresa vielleicht am meisten von anderen Elternpaaren | |
unterscheidet: Sie sind offener für Veränderungen. Weil eine Freundschaft | |
weniger Selbstverständlichkeit in der Befriedigung von Bedürfnissen | |
bedeutet, weil man nicht automatisch „zuständig“ ist, etwa für Intimität, | |
wie bei den meisten Liebespaaren. Bedürfnisse werden öfter besprochen und | |
verhandelt, auch wenn sich etwas ändert, wie etwa der Wunsch nach einer | |
Liebesbeziehung oder mehr Freiheiten. Florian muss für Teresa nicht alles | |
erfüllen, muss nicht all ihre emotionalen Themen auffangen. „Flo ist halt | |
der eine Freund. Ich tausche mich mit ihm aus – und mit einer Freundin | |
teile ich andere Themen“, sagt Teresa. Florian fügt hinzu, für ihn liege | |
eine große Freiheit ihres Modells in der „Möglichkeit, sich als Individuum | |
zu entwickeln, und gleichzeitig das Gefühl zu haben, zu einer Familie zu | |
gehören“. | |
Als sie heute das Kartenspiel wieder spielen, fallen alle Antworten so aus | |
wie damals. Ja, sie stellen ihre Bedürfnisse für die Familie zurück. Ja, | |
sie lassen einander Freiheiten. Ja, sie finden immer eine Lösung. Fast zwei | |
Jahre nach der Geburt ihres Sohnes hat sich viel im Leben von Florian und | |
Teresa verändert, aber eines ist gleich geblieben: der Wunsch der beiden, | |
eine Familie zu sein. | |
Vor Kurzem sind sie in eine neue, größere Wohnung gezogen – zu dritt. Aber: | |
Sie planen schon das nächste Gespräch, wie sie in Zukunft leben wollen. | |
Vielleicht zu dritt, vielleicht in getrennten Wohnungen, mit individuellen | |
Tagen für das Kind. Aber immer mit einem gemeinsamen Abendbrot und immer | |
so, dass sich alle drei wohl dabei fühlen. | |
7 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Elsner | |
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