# taz.de -- Fußball-EM: So war unsere Meisterschaft | |
> Wahnsinnskrake, Weitschusstore und Wolfsgrüße – ein Rückblick der | |
> taz-Redaktion, was in den letzten vier Wochen bei der EM passiert ist. | |
Bild: One Moment in time: Dänen in der Dortmunder Dusche, 29. Juni 2024 | |
## | |
## Hautnah durch Europa | |
Die Deutschen sind außer Rand und Band ob der Leistungen der DFB-Kicker. So | |
sagten sie es im Fernsehen und zeigten dann Jubelszenen aus irgendwelchen | |
Fanzones. Mit der deutschen Elf hatte ich anfangs wenig zu tun, es waren | |
für mich Nachrichten wie aus einer anderen Welt. Auf dem Weg zu den Stadien | |
drückte ich mich in Nahverkehrsbahnen voller Schweizer, Schotten, Türken, | |
Georgier, Slowenen, Engländer und so weiter und so fort. Eine hautnahe | |
Europareise. | |
Als ich mich schließlich von meiner Unterkunft in Karlsruhe zum deutschen | |
Viertelfinale nach Stuttgart aufmachte, füllten fast nur Menschen in den | |
Zwanzigern den Regionalzug. Viele waren zum Public Viewing dort auf dem | |
Weg, den sie sich [1][mit exzessivem Alkoholkonsum] verkürzten. Beeindruckt | |
von dem homogenen Bild, schrieb ich meinem Sohn, ebenfalls Twen. So läuft | |
das in Berlin schon seit Wochen, antwortete er. Wenn man mitten im Turnier | |
ist, erfährt man manches erst später. | |
Johannes Kopp, Leibesübungen-Redakteur der taz und in den vergangenen | |
Wochen EM-Reporter | |
## Der echtere Wusiala | |
Das Tor des 16-jährigen Lamine Yamal gegen Frankreich, weil es so ein | |
Pelé-1958-Moment war. Die Ahnung, dass das hier die Geburt einer Legende | |
sein muss oder der erste Akt einer großen Tragödie. Ein Tor, bei dem Pedri | |
auf der Tribüne der Mund offen steht. Eine Flugbahn wie ein Kunstwerk. | |
Überhaupt die Spanier, die bei einer pragmatisch-freudlosen Taktik-EM die | |
Fahne des schönen Spiels hochgehalten haben – nicht nur mit den | |
vielgelobten Williams und Yamal, dem echteren Wusiala, sondern auch mit | |
Cucurella, Rodri, Olmo. | |
Wenn nämlich ein Moment länger als eine Minute dauern darf, dann war der | |
beste Moment das vorgezogene Finale gegen Deutschland. Der überbordende | |
Irrsinn eines lustvollen Fußballs, obwohl doch die analytische Hirnhälfte | |
seit 40 Minuten ein logisches Narrativ für den spanischen Sieg strickt, | |
schießt Wirtz in der 89. Minute den Ausgleich, und dann straft Mikel Merino | |
in der 119. Minute auch dieses neue Narrativ wieder Lügen. Geh schlafen, | |
Hirnhälfte! Fußball zum Verlieben. Sondererwähnung: dieser wahnsinnige | |
Krake Mamardaschwili und seine furchtlosen Georgier, jederzeit. | |
Alina Schwermer gehört zum Team des Leibesübungen-Ressorts und war Teil des | |
Redaktionsteams der Euro-taz | |
## Unter Fans | |
Über drei Millionen Fans haben die 51 EM-Spiele besucht, und logisch, nicht | |
alle waren so supergut drauf wie diese beiden Dänen, die mich in Stuttgart | |
dingfest gemacht haben. Ein paar Engländer und Serben haben während des | |
Turniers Fäuste und Stühle fliegen lassen, aber die meisten Fans, die nach | |
Deutschland gekommen sind und die ich gesehen habe, benahmen sich wie | |
Besucher eines, nun ja, Helene-Fischer-Konzertes: Als Nettosteuerzahler, | |
mit leichtem Schmerbauch bewehrt, konnten sie sich die Chose leisten. | |
Doch zurück zu den Dänen. Sie interessierten sich aus einem mir nicht | |
erfindlichen Grund für meine Akkreditierung, die um meinen Hals baumelte. | |
Sie stellten mich, griffen sich das in Plastik eingeschweißte Teil und | |
zogen mich damit auf, dass das Teil gefälscht sein müsse, denn darauf sei | |
ich nun wirklich nicht zu erkennen. „Hier ist ein Betrüger“, riefen sie | |
laut in Richtung Ordner, „überprüft den!“ | |
Ich musste ihnen recht geben: Auf dem Schnappschuss trug ich eine Brille | |
und sah insgesamt frischer aus. Während der EM, die man als Lohnschreiber | |
am Fließband verbringt, verliert man an Spannkraft. Ich versuchte sie zu | |
überzeugen, aber sie foppten mich noch eine halbe Ewigkeit. Ich konnte | |
ihnen ihre etwas trunkene Anmache nicht übelnehmen, oder sagen wir so: nur | |
ein bisschen. Ich zog die Sonnenbrille ins Gesicht: „Passt es den | |
Herrschaften nun?!“ Yes, yes, you’re welcome, exceptionally! | |
Markus Völker ist Redakteur der Leibesübungen und war für die Euro-taz als | |
Reporter in den EM-Stadien unterwegs | |
## Kuss aus der Ferne | |
Wer selbst mal auf dem Platz stand, kennt es: Ein paar Meter vor dem | |
Sechzehner bekommt man den Ball zugespielt. Die Abwehr des Gegners steht | |
aber kompakt. Es tut sich kein Raum auf für den entscheidenden Steckpass. | |
Entweder man passt noch mal nach links oder nach rechts. Oder man hält voll | |
drauf! Im Amateurbereich fliegt der Ball dann meistens über einen | |
Achtmeterzaun auf eine Kreuzung. Bei den Profis, vor allem bei dieser EM, | |
verhält es sich natürlich anders. | |
Ja, dieses Turnier ist eines der Weitschusstore! Welches ich nicht mehr aus | |
dem Kopf bekomme: Im Halbfinale gegen Frankreich landet der Ball in der 21. | |
Minute vor dem 16-Jährigen Spanier Lamine Yamal. Der hat sechs abwehrende | |
Franzosen vor sich. Er passt den Ball aber nicht noch mal quer. Er hält | |
voll drauf! Mit viel Gefühl aus 25 Metern. Der Ball küsst erst den linken | |
Innenpfosten und dann das Netz zum 1:1. Mein Moment der Euro. | |
Volkan Ağar, Redakteur bei taz2, während der Euro-taz ausgeliehen an das | |
Sportressort | |
## Revolutionär übers Tor | |
Ein offensichtlicher Gockel stellte sich beim Spiel Portugal gegen | |
Frankreich (3:5 n. E.) recht breitbeinig auf, um das zu tun, was er immer | |
tut: Freistoß schießen. Doch ein anderer Spieler, Bruno Fernandes, trat | |
einfach statt Cristiano Ronaldo gegen den Ball. „Das Alte stirbt, und das | |
Neue kann nicht zur Welt kommen.“ So charakterisierte schon 1930 der | |
italienische Marxist Antonio Gramsci eine revolutionäre Situation. | |
Entsprechend schoss Fernandes über das Tor. Gramsci ergänzte: „Es ist die | |
Zeit der Monster.“ | |
Martin Krauss, Leibesübungen-Autor seit einer gefühlten Ewigkeit und | |
Redakteur in der Euro-taz | |
## Von wegen Vaterland | |
Public Viewing direkt neben dem Stadion des eigenen Vereins? Ein Traum für | |
viele deutsche Fußballfans, aber nicht für die linke Szene aus St. Pauli. | |
„Vereinsliebe statt Vaterlandsliebe“ hieß es auf einem Transparent am | |
Millerntor. Das kam nicht bei allen gut an. Muss ja auch nicht. Selbst in | |
progressiveren Kreisen mehrt sich die These, ein bisschen Patriotismus | |
sei schon okay, man dürfe ja Schwarz-Rot-Gold nicht den Rechten überlassen. | |
Und daher ist es schon in Ordnung, dass die Südkurve auf St. Pauli stabil | |
bleibt und einen linken Gegenpol bildet. Ab August können die „Ultras Sankt | |
Pauli“ konsequente, linke Themen in die Bundesliga tragen. Die Kritik | |
daran, von wegen Doppelmoral, halte ich für nicht zielführend – die | |
Bundesliga ist mit den Kiezkickern besser dran als ohne. Für mich als | |
Bundesliga-Fan und EM-Skeptiker ganz klar mein Moment der „Heim-EM“. | |
Fridolin Haagen schaut im Jahr über 50 Fußballspiele live im Stadion. Er | |
war Praktikant im Team der Euro-taz | |
## Mann unter Männern | |
Irgendetwas war komisch. Draußen in den ovalen Gängen unter den Tribünen | |
des Olympiastadions war alles noch irgendwie normal gewesen. Orange | |
Niederländer und Niederländerinnen mit mehr oder weniger blöden | |
Kopfbedeckungen, Fans der Türkei in Trikots mit dem Halbmond, dazwischen | |
ein paar deutsche EM-Besucher und Besucherinnen in Leibchen von Klubs aus | |
Käffern mit drollig-deutschen Namen. Normale Fußballverrücktheit neben | |
extremer. | |
Auch der Wolfsgruß war immer präsent. Doch damit war zu rechnen gewesen. | |
Aber hier unten in den Arbeitsräumen für die akkreditierten | |
Medienschaffenden, da stimmte irgendetwas nicht. Nur was? Am Ende einer | |
langen Reihe mit Arbeitsplätzen saß eine Kollegin. Das war es! Am anderen | |
Ende des sogenannten Medien-Hubs arbeitete eine weitere Kollegin. Und | |
sonst? Nur Männer. Dutzende. Was für eine Männerwelt! Und ich mittenmang. | |
Auch ein Mann. Mannomann! | |
Andreas Rüttenauer, meist stubendiensthabender Redakteur der Euro-taz | |
## Ein Schuss, der sich gewaschen hat | |
In der Kreuzberger Kneipe, in der [2][das Halbfinale läuft], das eigentlich | |
die deutsche Nationalmannschaft hätte spielen sollen – so jedenfalls die | |
Meinung der meisten hier – ist die Stimmung ausgelassen. 1:0 für | |
Frankreich. Endlich zahlt es jemand den Spaniern heim! Doch lange hält die | |
Freude nicht: Lamine Yamal, 16 Jahre alt, Zahnspange, dribbelt sich frei | |
und zieht einfach ab. Über 20 Meter vom Tor entfernt, platziert er den Ball | |
perfekt, unhaltbar in die linke obere Ecke. Goool! Tor für Spanien. | |
Ich bin die einzige, die jubelt. Der ein oder andere um mich herum erkennt | |
dann doch an, dass es wirklich ein bemerkenswert schönes Tor sei. Und dass | |
man es dem 16-Jährigen gönne. Sogar Kommentator Lothar Matthäus muss | |
schließlich zugeben, dass selbst er mit 16 zwar gut, aber doch nicht so gut | |
Fußball gespielt hat. Aber der wurde ja auch nicht als Baby von Legende | |
Messi gewaschen. | |
Ruth Lang Fuentes hat die Leibesübungen-Redaktion in der Zeit der Euro-taz | |
verstärkt | |
## Zerstörte Schönheit | |
Eigentlich war England gegen die Slowakei schon raus. Aber weil Jude | |
Bellingham so gut ist, haben sie das Achtelfinale doch überstanden. Für | |
mich der [3][Moment des Turniers], einfach weil es ein Traumtor war – noch | |
dazu in der Nachspielzeit erzielt. Diesen Moment hat Bellingham gleich | |
selbst wieder zerstört. Ich habe das nicht mitbekommen. Denn im Fernsehen | |
war seine komische Eier-Geste nicht zu sehen. Und manchmal muss man die | |
Kunst vom Künstler trennen. Und diesen Fallrückzieher kann man wirklich als | |
Kunst bezeichnen. | |
Dass ich den Moment am besten finde, könnte auch daran liegen, dass ich ihn | |
beim Public Viewing erlebt habe und sehr viele England-Fans dort waren. | |
Sonst noch Momente? Italiens Tor gegen Kroatien in letzter Sekunde oder der | |
späte Treffer Ungarns gegen Schottland vielleicht. Doch beides wurde von | |
der Regelung, dass die vier besten Gruppen-Dritten auch weiterkommen, ein | |
bisschen entwertet. | |
Milo Glänzel hört sich jede Menge Taktik-Podcasts an. Er war | |
Schülerpraktikant in der Euro taz | |
## Immer nur Fußball | |
Jeder Moment bei dieser EM hat gezeigt, welch extrem große Rolle der | |
Fußball spielt. Sein Erfolg lenkt allerdings enorm von anderen Sportarten | |
ab. Über die ist oft nur wenig bekannt, was zur Folge hat, dass sie | |
finanziell nicht mithalten können mit dem Fußball. Ich selbst betreibe | |
wettkampforientierten Breitensport als Turnerin und sehe oft, dass | |
Fußballspieler auf meinem Niveau auf Sponsoren zurückgreifen können, die | |
ihnen regelmäßig neue Trainingsanzüge, Trikots und weitere Sachen bezahlen. | |
Die meisten Turnvereine, die ich kenne, können sich vielleicht alle 20 | |
Jahre neue Anzüge leisten – finanziert meist durch Spenden von Eltern. Auch | |
dass die Trainings- und Wettkampfhallen mit teuren Geräten ausgestattet | |
werden müssen, stellt ein großes Problem für viele Vereine dar. Dazu | |
verdienen Profisportler, die einem anderen Sport als Fußball nachgehen, | |
viel weniger Geld als Fußballer, obwohl sie mindestens genauso viel Zeit | |
und Energie in ihren Sport stecken. Dasselbe gilt für Kampf- oder | |
Schiedsrichter und Trainer. | |
Juli Felder ist aktive Turnerin. Sie war Schülerpraktikantin in der | |
Euro-taz. | |
## Kickt nicht ganz so | |
Ehrlich gesagt, war das nicht ganz so meine EM. In der Tipprunde, die ich | |
beispielsweise bei der EM 2016 noch gewonnen hatte, stand ich diesmal sehr, | |
sehr weit unten. Ich weiß nicht genau, was fehlte – der Bezug zum Turnier | |
war nicht viel anders als bei vorherigen Turnieren; eigentlich hätte im | |
Gegenteil durch die Heim-EM sogar einiges intensiver sein sollen. Aber das | |
war es nicht. Lag es daran, dass es für mich nur eine halbe Heim-EM war, | |
weil ich die meiste Zeit in Österreich verbringe? Nein, das war es auch | |
nicht: Die schönsten Momente erlebte ich tatsächlich, als ich zeitgleich | |
mit der ÖFB-Auswahl in Berlin war und mich über die vielen Fans in | |
rot-weiß-rot gefreut habe. | |
Ich fotografierte Fans in Gregoritsch-Trikots, meinem Lieblingsspieler, und | |
freute mich gewaltig über das 3:2 gegen Holland, meiner dritten | |
Lieblingsmannschaft. Also lag es daran, dass sie alle nacheinander | |
rausflogen, die Ösis, die Deutschen, die Holländer? Nein, das war es auch | |
nicht. Vielleicht lag es am Wetter, das nicht annähernd so toll war wie | |
damals beim „Sommermärchen“, vielleicht lag es überhaupt an der Erinnerun… | |
also am Alter. | |
Früher war mehr Flirren, könnte man sagen, die Nächte waren magischer, die | |
WM-Nächte vor allem, und da kommen wir der Wahrheit endlich näher: Es ist | |
die EM selbst, die (mich) nicht ganz so kickt. Eine WM ist eine andere, | |
eine unendlich größere Nummer. Spanien gegen England ist schon cool, aber | |
ohne Brasilien, Uruguay, Argentinien, Südkorea, Japan, Australien, Algerien | |
und Ägypten ist das alles nischt. | |
René Hamann ist Aushilfsredakteur im Sport, Hauptzeitwiener und | |
Teilzeitberliner | |
14 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Alkoholkonsum-von-Fussball-Fans/!6019618 | |
[2] /VAR-Elfmeter-fuer-England-im-Halbfinale/!6019696 | |
[3] /Das-EM-Finale-in-der-Kurzkritik/!6017212 | |
## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
René Hamann | |
Alina Schwermer | |
Markus Völker | |
Volkan Ağar | |
Martin Krauss | |
Fridolin Haagen | |
Andreas Rüttenauer | |
Ruth Lang Fuentes | |
Milo Glaenzel | |
Juli Felder | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Fußball-EM 2024 | |
Bilanz | |
Jahresrückblick | |
Fußball | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
England | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Argentinien gewinnt Copa América: Vierter Jubel in Folge | |
Kolumbien bestimmte die erste Hälfte, Messi musste verletzt raus. Trotzdem | |
siegte am Ende des Fußballturniers der Männer die argentinische Mannschaft. | |
Nach der Fußball-EM: Verhandelte Politik | |
Die Euro24 ist vorbei und hat eines gezeigt: Wenn wir über Demokratie und | |
Gerechtigkeit sprechen wollen, müssen wir über Fußball reden. | |
Fußball und Nationalismus: Ein kräftiges Aufbäumen | |
Der bessere Fußball wird von Klubs mit Milliardenumsätzen gespielt. Aber | |
die Europameisterschaft ist längst noch nicht tot. | |
Zwangsarbeit und Fußball: Schuften und kicken | |
Nicht allen Zwangsarbeitern war in der NS-Zeit das Fußballspielen verboten. | |
Eine Ausstellung zeigt, dass es sogar Länderkämpfe unter ihnen gab. | |
Vor dem Finale Spanien vs. England: 22 Gründe für den Europameister | |
Am Sonntag, 14. Juli, um 21 Uhr beginnt das Finale um die Fußball-EM. Die | |
taz weiß, wer und warum den Titel holt. Und was Harry Kane damit zu tun | |
hat. |