| # taz.de -- Verschärfungen beim Bürgergeld: Sparen bei den Ärmsten | |
| > Härtere Sanktionen, längere Arbeitswege, mehr 1-Euro-Jobs: Welche Regeln | |
| > will die Bundesregierung beim Bürgergeld ändern? | |
| Bild: Warten im Jobcenter Treptow-Köpenick in Berlin | |
| Wer bezieht Bürgergeld? | |
| Im Februar haben rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld bezogen. Rund 1,5 | |
| Millionen von ihnen sind Kinder unter 15 Jahren. Von den verbleibenden rund | |
| 4 Millionen Menschen stehen mehr als die Hälfte, rund 2,3 Millionen | |
| Menschen, dem Arbeitsmarkt nicht oder nur bedingt zur Verfügung. Sie sind | |
| in Ausbildung, studieren, erziehen Kinder, pflegen Angehörige, sind | |
| arbeitsunfähig, nehmen an arbeitspolitischen Maßnahmen teil oder sie | |
| arbeiten, aber ihr Lohn reicht zum Leben nicht aus – sie stocken mit dem | |
| Bürgergeld auf. Die verbleibenden rund 1,8 Millionen | |
| Bürgergeldempfänger*innen könnten theoretisch arbeiten. | |
| Wie viele Menschen lehnen zumutbare Arbeit ab? | |
| Jobcenter haben im vergangenen Jahr nur [1][sehr wenige | |
| Bürgergeldempfänger*innen sanktioniert,] weil sie zumutbare Arbeit, | |
| eine Ausbildung oder Maßnahme ablehnten. Grundsätzlich gilt: 2023 wurden 97 | |
| von 100 Bürgergeldempfänger*innen nicht sanktioniert. In 84,5 | |
| Prozent der Sanktionsfälle von Februar bis Dezember 2023 hat das Arbeitsamt | |
| die Leistungen gekürzt, weil Bürgergeldempfänger*innen Termine ohne | |
| triftigen Grund nicht wahrnahmen. Nur in rund 16.000 Fällen wurden | |
| Leistungsberechtigte sanktioniert, weil sie sich weigerten, eine Arbeit, | |
| Ausbildung oder Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen. | |
| Welche [2][Sanktionsverschärfungen] sind geplant? | |
| Wenn Bürgergeldempfänger*innen zumutbare Arbeit ablehnen, werden sie | |
| bislang schrittweise sanktioniert. Lehnen sie eine zumutbare Tätigkeit | |
| einmal ab, werden die Leistungen für einen Monat um 10 Prozent gekürzt, in | |
| einem zweiten Fall für zwei Monate um 20 und bei jedem weiteren Verstoß für | |
| drei Monate um 30 Prozent gekürzt. Bereits seit März gilt: Wer dauerhaft | |
| Arbeitsangebote ablehnt, dem werden für zwei Monate sämtliche Leistungen | |
| gestrichen. Kosten für Unterkunft und Heizung sind von der Kürzung | |
| ausgenommen. Nun will die Bundesregierung die Sanktionen nochmals | |
| verschärfen: Lehnen Bürgergeldempfänger*innen eine zumutbare Arbeit | |
| ab, sollen ihnen die Leistungen sofort für drei Monate um 30 Prozent | |
| gekürzt werden. | |
| Darüber hinaus will die Ampelkoalition Schwarzarbeit von | |
| Bürgergeldbeziehern stärker bekämpfen und die Karenzzeit beim Schonvermögen | |
| von einem Jahr auf ein halbes Jahr verkürzen. Derzeit darf eine Person im | |
| Bürgergeldbezug 12 Monate lang 40.000 Euro besitzen, für jede weitere | |
| Person im Haushalt sind es weitere 15.000 Euro. | |
| Was bringen Sanktionen? | |
| Der [3][Ruf nach mehr Härte] wird meist damit begründet, dass damit mehr | |
| Arbeitsanreize geschaffen werden. „Verschiedene Studien belegen, dass | |
| Sanktionen kurzfristig dafür sorgen, dass Menschen schneller eine Arbeit | |
| aufnehmen“, sagt Joachim Wolff, Leiter des Forschungsbereichs | |
| Grundsicherung und Aktivierung am Institut für Arbeitsmarkt- und | |
| Berufsforschung (IAB) der wochentaz. Dennoch haben sie längerfristig auch | |
| negative Effekte. Eine [4][IAB-Studie von 2021 kam zu dem Ergebnis], dass | |
| rund fünf Jahre nach der Sanktionierung die Beschäftigungsqualität bei | |
| Sanktionierten geringer ist als bei nicht Sanktionierten. „Es besteht also | |
| die Gefahr, dass Sanktionen Menschen dazu verleiten, Arbeit unter ihrem | |
| Qualifikationsniveau anzunehmen“, sagt Wolff. Das könne für die Betroffenen | |
| langfristige Lohneinbußen bedeuten. Auch die | |
| Beschäftigungswahrscheinlichkeit bei Sanktionierten fiel geringer aus: Vier | |
| Jahre nach der Sanktion lag sie laut Studie für Männer um 3,5 Prozent und | |
| für Frauen um 5 Prozent niedriger. Eine [5][Langzeitstudie], die der Verein | |
| Sanktionsfrei in Auftrag gegeben hat, belegt zudem, dass Bestrafungen | |
| demotivierend wirken und Menschen krank machen. | |
| Wie relevant ist die Frage des Arbeitsweges? | |
| Bereits jetzt gelten zweieinhalb Stunden Arbeitsweg (für Hin- und Rückweg) | |
| für eine Arbeitszeit von mindestens sechs Stunden als „zumutbar“. Dabei | |
| gilt die Zeit für das jeweilige Verkehrsmittel, das einer Person zur | |
| Verfügung steht. Die Bundesregierung schlägt vor, dass künftig ein | |
| Arbeitsweg von insgesamt drei Stunden als zumutbar gelten soll. Dass diese | |
| Änderung einen nennenswerten Effekt haben wird, erscheint unwahrscheinlich. | |
| Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen keine Arbeit finden. Dass sie keine | |
| Stelle in der Nähe ihres Wohnorts finden, ist nur einer von vielen. Laut | |
| dem IAB gibt es unter den Leistungsberechtigten zum Beispiel viele, die | |
| zwar formal als erwerbsfähig gelten, dies aber aus gesundheitlichen Gründen | |
| allenfalls nur sehr eingeschränkt sind. Weitere Hemmnisse sind etwa ein | |
| höheres Alter, fehlende Berufsabschlüsse, schlechte Deutschkenntnisse oder | |
| Langzeitarbeitslosigkeit. | |
| Bürgergeldempfänger*innen in 1-Euro-Jobs bringen – was bringt das? | |
| Die Billig-Job-Idee für Erwerbslose wurde unter Rot-Grün im Jahr 2005 im | |
| Zuge der Hartz-Reformen eingeführt – und sie ist bis heute umstritten. | |
| Während Kritiker*innen die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger | |
| Jobs befürchten, sehen Befürworter*innen darin eine Möglichkeit, | |
| Menschen wieder an Arbeit heranzuführen. Die Bundesregierung möchte die | |
| 1-Euro-Jobs nun verstärkt einsetzen bei Personen, „die sich Maßnahmen immer | |
| wieder verweigern (Totalverweigerer)“. | |
| Diesen Begriff würde Joachim Wolff vom IAB „am liebsten total verweigern“. | |
| Ihm sei nicht klar, „welche Gruppe damit dargestellt werden soll“. Aus der | |
| Forschung wisse man, dass 1-Euro-Jobs „hilfreich sein können bei Menschen, | |
| die kaum Arbeitsmöglichkeiten haben und schon lange erwerbslos sind“, sagt | |
| er der wochentaz. Für andere Personengruppen würden sie sich im Schnitt | |
| „eher nachteilig auswirken oder keine Effekte erzielen“. | |
| Mit wie viel Einsparpotential wird durch Änderungen beim Bürgergeld | |
| gerechnet? | |
| Das ist unklar. Der Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2025 und der | |
| Finanzplan bis 2028 werde „nun erarbeitet und voraussichtlich Mitte Juli | |
| ins Kabinett eingebracht“, heißt es aus dem Finanzministerium. Bis dahin | |
| äußere man sich nicht zu Einzelplänen. | |
| Was bleibt vom Bürgergeld? | |
| Mit der Einführung des Bürgergeldes sollte der Abschied von Hartz IV | |
| eingeläutet werden: Weniger Bestrafung, mehr Qualifizierung und Begegnung | |
| auf Augenhöhe. Mit der Rückkehr zu härteren Sanktionen und weniger | |
| Schonfristen, ist eine klare Abkehr von diesem Ansatz zu erkennen. | |
| 14 Jul 2024 | |
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| [4] https://www.iab-forum.de/schneller-ist-nicht-immer-besser-sanktionen-koenne… | |
| [5] https://sanktionsfrei.de/studie | |
| ## AUTOREN | |
| Marie Sophie Hübner | |
| Jasmin Kalarickal | |
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