# taz.de -- Ökonom Hüther über die Schuldenbremse: „Investieren in den Kli… | |
> Der Ökonom Michael Hüther fordert den Ausbau von Infrastruktur und eine | |
> Dekarbonisierung der Wirtschaft. Dafür müsse die Schuldenbremse | |
> ausgesetzt werden. | |
Bild: Das Hochwasser im Süden Deutschlands hat viel Infrastruktur zerstört. D… | |
taz: Michael Hüther, haben Sie am Mittwoch vergangener Woche einen Blick in | |
die Frankfurter Allgemeine Zeitung geworfen? | |
Michael Hüther: Warum? | |
Das Bundesfinanzministerium hat am Mittwoch in der Zeitung für die | |
Schuldenbremse geworben. In der Anzeige war eine junge Frau zu sehen. Über | |
ihr stand in großen Buchstaben: „Schuldenbremse abschaffen? Nich’ okay, | |
Boomer!“ Was halten Sie von dieser Art von Werbung? | |
Mich überzeugt diese Werbung nicht. | |
Warum? | |
Die Zukunft der jungen Generation wird von vielen gegenwärtigen | |
Entscheidungen geprägt. Da geht es auch um notwendige [1][Investitionen für | |
eine Dekarbonisierung] und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Wer nur | |
die Staatsfinanzen im Blick hat, denkt zu eng und zu kurz. | |
Belasten wir nicht mit den Schulden von heute künftige Generationen? | |
Wir haben aber auch große Aufgaben zu erfüllen. Wir müssen die | |
Dekarbonisierung jetzt in Angriff nehmen und die öffentliche Infrastruktur | |
dafür fit machen. Das sind wichtige Investitionen, von denen vor allem | |
künftige Generationen profitieren werden. Gleichzeitig ist eine zweite | |
große Aufgabe hinzugekommen: Wir müssen [2][unsere Verteidigungsfähigkeit] | |
sicherstellen. Und dafür werden mittelfristig die aktuellen 2 Prozent | |
unseres Bruttoinlandsprodukts mutmaßlich nicht ausreichen. Auch das wird | |
den Haushalt nachhaltig belasten. | |
Und beide Aufgaben sind nur mit einer Reform der Schuldenbremse zu | |
bewerkstelligen? | |
Mein Vorschlag lautet, einen kreditfinanzierten Infrastrukturfonds | |
einzurichten – ähnlich dem [3][Sondervermögen für die Bundeswehr]. Das wä… | |
einfacher umsetzbar als eine Reform der Schuldenbremse. Zudem könnte mit | |
einem solchen Infrastrukturfonds transparent und immer nachvollziehbar | |
festgelegt werden, wofür die Kredite verwendet werden. | |
Wie groß müsste dieser Infrastrukturfonds sein? | |
Zusammen mit dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) | |
haben wir berechnet, dass in den nächsten zehn Jahren staatlicherseits | |
zusätzliche Investitionen von insgesamt rund 600 Milliarden Euro notwendig | |
sind, um die öffentliche Infrastruktur und Wirtschaft zukunftsfähig zu | |
machen. | |
Wofür braucht es das Geld genau? | |
Rund 200 Milliarden Euro veranschlagen wir für öffentliche Investitionen in | |
den Klimaschutz. Eine weitere Herausforderung ist, den seit Jahren bei | |
Städten und Gemeinden aufgelaufenen Sanierungsstau aufzulösen. Auch für | |
Bildung, Wohnungsbau, den ÖPNV, Schiene, Straßen und Digitalisierung werden | |
in den nächsten Jahren Milliardeninvestitionen notwendig sein. | |
Halten Sie auch angesichts der aktuellen Flutkatastrophe in Süddeutschland | |
eine Ausnahme von der Schuldenbremse für sinnvoll? | |
Nein, halte ich nicht. Die Folgen einer Flut zu mindern, muss in | |
Härtefällen aus den laufenden Haushalten kommen. Darüber hinaus mahnt die | |
Katastrophenlage, wie wichtig es ist, in Infrastruktur und Vorsorge zu | |
investieren. | |
2019 bezifferten Sie den öffentlichen Investitionsbedarf noch auf 460 | |
Milliarden Euro. Jetzt ist es fast ein Drittel mehr. Was ist der Grund für | |
diese Kostenexplosion? | |
Zum einen liegt das an der Inflation, die Baupreise sind um 40 Prozent | |
gestiegen. Zum anderen sind insbesondere Investitionen in den Klimaschutz | |
und Klimaanpassungsmaßnahmen zwischenzeitlich noch dringlicher geworden. | |
Auch hat der Verfall der öffentlichen Infrastruktur der Rhetorik aller | |
Finanzminister zum Trotz weiter zugenommen. Und wenn Brücken gesperrt und | |
Straßen kaum mehr befahren werden können, schadet dies dem Standort. | |
Wie ist es im internationalen Vergleich? Investieren EU-Länder wie | |
Österreich, Frankreich und Italien mehr? | |
Deutschland liegt bei den öffentlichen Investitionen seit rund 20 Jahren | |
deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Das konnte man zwar relativ lange | |
überdecken. Doch der Verschleiß ist jetzt offensichtlich. | |
Trotzdem wendet Finanzminister Christian Lindner ein, dass die | |
Schuldenbremse eine Inflationsbremse sei. Wenn der Staat mehr Geld ausgibt, | |
würde er damit die Inflation anheizen. Stimmt das nicht? | |
Der Staat heizt die Inflation sicherlich nicht an, wenn er investiert und | |
den volkswirtschaftlichen Kapitalstock erhöht. Stattdessen wird er damit | |
mittelfristig den strukturellen Inflationsdruck senken, denn eine | |
dysfunktionale öffentliche Infrastruktur macht die Produktion von Waren und | |
Dienstleistung teurer. Das treibt die Preise – wie bei der Bahn zu | |
beobachten – nach oben. Insofern ist die Schuldenbremse derzeit eine | |
Investitions- statt eine Inflationsbremse. Und sie ist auch eine | |
Steuersenkungsbremse. | |
Warum hält Lindner dann aller ökonomischen Vernunft zum Trotz an der | |
Schuldenbremse fest? | |
Die Schuldenbremse scheint zum Markenkern der FDP geworden zu sein. Das | |
macht die Abwägung, wie die öffentlichen Aufgaben finanziert werden können, | |
schwer. Der Bundeshaushalt hat jetzt schon eine Lücke von 25 Milliarden | |
Euro. Gleichzeitig werden die Verteidigungsausgaben steigen müssen. Für | |
Transformationsaufgaben sehe ich da keine zusätzlichen Spielräume. | |
Lindner behauptet, dass dafür dann an anderer Stelle gespart werden muss. | |
Das widerspricht aber dem Prinzip der demokratischen Verlässlichkeit. | |
Budgets werden erstellt, weil der Staat damit Aufgaben erfüllt. Deswegen | |
kann man den Haushalt nicht einfach mal um 30 Prozent kürzen. | |
Der Bundesrechnungshof mahnte bei Finanzminister Christian Lindner jüngst | |
an, Vergünstigungen bei der Mehrwertsteuer abzuschaffen. Damit würde der | |
Staat jährlich rund 35 Milliarden Euro mehr einnehmen. Ließe sich damit | |
nicht die eine oder andere Lücke schließen? | |
Wir haben derzeit eine der höchsten Steuerquoten seit der | |
Wiedervereinigung. Deshalb sollte man jetzt nicht steuerpolitisch | |
draufsatteln. Das ist ökonomisch nicht tragfähig. Die Investitionen sind | |
schwach und der private Konsum erholt sich derzeit nur zaghaft. | |
Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf sprach jüngst sogar von einer bereits | |
beginnenden Deindustrialisierung, die tausende Arbeitsplätze kosten werde. | |
Ist die Situation wirklich so dramatisch? | |
Die Gefahr droht. Wir werden aber erst mit einer großen Zeitverzögerung | |
feststellen können, ob es tatsächlich aufgrund derzeitiger Kosten- und | |
Kapazitätsprobleme zu Standortverlagerungen gekommen ist. Dass der Anteil | |
der Industrie an der Wertschöpfung tendenziell sinkt, ist für sich noch | |
kein Problem. Aber auf mittel- bis langfristige Sicht besteht die Gefahr, | |
dass die Wirtschaft Schaden nimmt. Denn jetzt werden in Bezug auf die | |
Dekarbonisierung Investitionsentscheidungen für die nächsten 10, 15 Jahre | |
getroffen. Das betrifft vor allem energieintensive Bereiche wie die | |
Chemie-, Stahl- oder Papierindustrie. Und da sind die Rahmenbedingungen | |
gerade wirklich nicht gut. Deshalb müssen wir das Risiko jetzt ernst | |
nehmen. | |
Vor einem Jahr schlug Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) einen | |
Brückenstrompreis vor, um der energieintensiven Industrie die | |
Transformation zu erleichtern. | |
Leider ist der [4][Brückenstrompreis] wieder vom Tisch. Er war eine | |
überzeugende Idee, weil er die Politik an ihr eigenes Versprechen bindet. | |
Er hätte Investoren eine langfristige Planungssicherheit bei den | |
Strompreisen garantiert. | |
4 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Simon Poelchau | |
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