Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hochwasser als Wahlkampfhilfe: Stiefeln statt handeln
> Wie wirkt sich die Flutkatastrophe in Süddeutschland auf die Wahlen am
> Sonntag aus? Die Forschung hat überraschende Antworten.
Bild: Mit diesen Exemplaren besuchte Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne)…
Berlin/Konstanz/München „Servus“, sagt Andrea Wörle, Spitzenkandidatin der
bayerischen Grünen, „darf ich Ihnen einen Flyer geben?“ Es ist
Mittwochmorgen kurz nach acht Uhr. Ein herrlicher Frühlingstag bricht an,
während die 38-Jährige vor einer U-Bahn-Station in der Münchner Innenstadt
Passant*innen anspricht. „Demokratie verteidigen“, steht auf ihrem
Flugblatt zur Europawahl.
Von Zeit zu Zeit gelingt es Wörle, einem zur Arbeit strebenden Menschen
einen Zettel in die Hand zu drücken. „Nein, danke!“, sagen andere. Nur
einer sucht das Gespräch – oder eher die Gelegenheit, die Partei zu
beschimpfen. „Ich habe euch früher immer gewählt, das geht jetzt nicht
mehr“, sagt der Mann. Ihm geht es um den Gazastreifen.
Eine Ausnahme, beteuert Wörle später. Am Dienstag, beim Haustürwahlkampf,
habe es richtig gute Gespräche gegeben – über den Kampf gegen rechts, die
AfD und Meloni.
Und das Hochwasser? Die Klimakrise? Von der U-Bahn sind es keine 300 Meter
bis zur Isar. Deren Anblick erinnert daran, [1][was in anderen Teilen
Bayerns immer noch los ist]: Nach dem Starkregen der Vortage brausen
Wassermassen voller Schlamm und Treibgut flussabwärts.
## Es geht klimapolitisch um viel
Sie habe schon den Eindruck, dass jetzt wieder mehr über Klimaschutz
gesprochen werde, sagt Wörle. Aber das dominante Thema sei der auch nach
dem Hochwasser nicht. Ob die Flut die Wahl beeinflusst? Wörle zuckt die
Schultern. „Das sehen wir am Sonntag.“
Es gab eine Zeit, in der die Antwort wohl eindeutiger ausgefallen wäre.
[2][Im Jahr 2018 ächzte Deutschland unter einem Dürresommer], dem
schlimmsten seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Klimakrise wurde fühlbar –
und die Grünen kletterten in Umfragen auf Rekordwerte. Im Jahr darauf,
Fridays for Future brachte Millionen auf die Straße, triumphierte die
Partei bei den Europawahlen. Für viele Beobachter*innen war der
Zusammenhang eindeutig: Die Klimapolitik hatte den Wahlkampf dominiert.
Bei der Wahl an diesem Sonntag geht es klimapolitisch um viel. Der
[3][Green Deal], den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU)
vorangetrieben hat und der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, steht
auf der Kippe. Von der Leyens eigene Partei rüttelt im Wahlkampf am Ende
des Verbrennungsmotors, das eigentlich für 2035 geplant ist.
Einer ARD-Umfrage zufolge sind den Wähler*innen aber die Bereiche
Frieden, Soziales und Migration wichtiger als das Klima. Die Grünen werben
zwar weiter für den Green Deal, stellen das Thema aber auch nicht an erste
Stelle – und verzichten auf ehrgeizige Forderungen. Die Europäische Grüne
Partei (EGP) fordert in ihrem Wahlprogramm Klimaneutralität schon 2040. Die
Bundespartei vermeidet penibel, diese Zahl in den Mund zu nehmen. Deutlich
ist die Sorge zu erkennen, die Menschen nach Corona, Krieg und Krise mit zu
viel Klimapolitik zu verschrecken. Im Kern hat daran auch das Hochwasser in
Süddeutschland nichts geändert.
## Der Bau von Poldern stockt in Bayern
Mittwoch, später Nachmittag, Berlin. In einem Club am Rande Kreuzbergs
macht der grüne Wahlkampftross Station. Als Parteichef Omid Nouripour auf
die Bühne kommt, beginnt es zu nieseln. Als einziger Redner wird er mehr
als zwei Sätze lang über das Hochwasser sprechen. Erst mal geht es ihm um
den tödlichen Messerangriff von Mannheim – das zweite Ereignis, das kurz
vor der Wahl deren Ausgang verändern könnte. Nouripour dankt der Polizei
für ihre Arbeit, fordert mehr Prävention gegen Islamismus und kritisiert
die Abschiebedebatte anderer Parteien.
Der kleinere Teil seiner Rede dreht sich dann um die Flut. Und selbst jetzt
konzentriert er sich nicht auf Forderungen nach mehr Klimaschutz, sondern
auf Klimaanpassung. „Markus Söder hatte im Hochwassergebiet nur ein Ziel –
dass er vorne steht, wenn die Fotos gemacht werden. Ich kann nur sagen: Der
Mann soll arbeiten!“, ruft Nouripour. Seitdem Söder in der Staatskanzlei
sitze, sei die Arbeit am Hochwasserschutz in Bayern „nachweislich
eingestellt“. [4][Der Bau von Poldern stockt seit 2018].
Eine ZDF-Umfrage, erstellt nach der Flut, beinhaltet im Vergleich zur
Vorwoche kaum Veränderungen. Welche Auswirkungen das Hochwasser tatsächlich
auf die Wahl hat, lässt sich frühestens am Sonntagabend erkennen. Man kann
aber nachlesen, was über frühere Katastrophen und ihren Einfluss auf die
politische Stimmung bekannt ist.
„Das Wetter ist politisch“, heißt eine Studie aus dem vergangenen Jahr,
„Starkregen, Hochwasser und Flut vor der Bundestagswahl 2021“. Johannes
Schmidt ist Humangeograf, sein Co-Autor Sebastian Pink ist
Sozialwissenschaftler und Statistiker. Mit ihrer Untersuchung über die
Ahrtalflut wollten die beiden Freunde der Frage nachgehen: Erkennen die
Menschen im Ernstfall die Dramatik der Klimakrise, ändern sie deshalb ihr
Wahlverhalten?
## Wird es eine Klimawahl?
Und: Profitieren die Grünen politisch von Hochwassern? „Wir hatten uns
gewundert, aber vor uns hatte das offenbar noch niemand untersucht“, so
Schmidt. Zuvor hatten andere Wissenschaftler*innen nur nachgewiesen,
dass Menschen, die selbst Extremwetter erleben, Klimapolitik wichtiger
nehmen. Das Ergebnis der neuen Studie: Die Grünen erreichten in den vom
Hochwasser betroffenen Regionen durchschnittlich 3,2 Prozentpunkte mehr als
anderswo.
Für die Erkenntnis gelten aber zwei Einschränkungen. Erstens gibt es keine
Studien darüber, wie sich diese oder andere Katastrophen überregional
ausgewirkt haben. Ein Hitzesommer wie 2018 lässt das ganze Land die
Dringlichkeit der Klimakrise spüren, ein Hochwasser betrifft nur einzelne
Regionen. „Die persönliche Betroffenheit ist sehr wichtig“, sagt Johannes
Schmidt.
Zweitens wies die Studie noch einen weiteren Effekt nach, der stärker
wirkte als der Zuwachs der Grünen: den Amtsinhaberbonus. Die Deutschen
kennen ihn seit dem Bundestagswahlkampf 2002, als Bundeskanzler Gerhard
Schröder als Fluthelfer in Gummistiefeln an der Elbe auftrat. Empirisch
nachweisen konnten ihn Schmidt und Pink jetzt ausgerechnet für den
CDU-Kanzlerkandidaten und NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet, der sich
blamierte, als er sich nach der Flut kichernd im Ahrtal filmen ließ.
Trotz seines Feixens erhielt die CDU in NRW in den Flutgebieten 6,6
Prozentpunkte mehr als in nicht betroffenen Regionen. „Wir haben alles noch
mal nachgerechnet“, erinnert sich Schmidt an seine eigene Verwunderung.
Aber die Zahlen stimmten.
## Gummistiefel sticht Klimapolitik
Im Katastrophenfall wählen Menschen am ehesten die Partei ihres
Ministerpräsidenten, offenbar unabhängig von seiner bisherigen Klima- und
Hochwasserpolitik. Das Bedürfnis, Politiker*innen für ihre Soforthilfe
zu danken, fanden Wissenschaftler*innen auch bei Wahlen nach Starkregen
in den USA und nach Erdbeben in Italien.
Am Sonntag also könnten in Bayern vom Hochwasser ausgerechnet Markus Söder
und seine CSU profitieren – die im Wahlkampf für den Verbrennungsmotor
warben. Gummistiefel sticht Klimapolitik: Wer die Bedrohung durch die
Klimakrise kleinredet, wird unter Umständen auch noch belohnt.
Dazu passt ein Stimmungsbild aus der CSU. Auch dort tut man sich zwar
schwer damit, die Bedeutung der Flut für die Wahl einzuschätzen. Wichtig
sei es aber auf jeden Fall, Präsenz in den Katastrophengebieten zu zeigen
und möglichst nah dran an den Betroffenen zu sein. Also genau das, was
Söder seit Tagen macht. Und der Klimaschutz? Zum Green Deal stehe man
weiter, heißt es aus der Partei, Verbrenner hin oder her. Eine
Rückabwicklung werde es nicht geben.
In der Aussprache zur Regierungserklärung des Kanzlers im Bundestag spart
Unionsfraktionschef Friedrich Merz am Donnerstagmorgen die Themen Flut und
Klima komplett aus. Olaf Scholz nannte den Klimawandel zuvor zwar die
„größte globale Herausforderung“, in der öffentlichen Debatte bleibt von
seiner Rede aber die Forderung hängen, nach Syrien und Afghanistan
abzuschieben. Sowenig aus der Bevölkerung ein Ruf nach mehr Klimaschutz zu
vernehmen ist – so wenig bemüht sich umgekehrt die Politik, den 9. Juni zur
Klimawahl zu machen.
## „Da isch noch Platz“
Mittwochmittag in Konstanz, Baden-Württemberg. Der Bodenseepegel hat die
Hochwassermarke von 4,80 Metern überschritten. Eine Landstraße in der Nähe
stand in den Tagen zuvor unter Wasser. Einsatzkräfte mussten Keller und
Lagerflächen leer pumpen. Nach Angaben der Rettungskräfte kam die Stadt
glimpflich davon.
Für die Konstanzer*innen sei das Hochwasser vor der Tür kein großes
Thema, sagt Bernhard Hanke von der Linken. Bei der Kommunalwahl, die
ebenfalls am Sonntag stattfindet, will er in den Stadtrat gewählt werden.
„Die Leute gucken auf den Pegelstand, und solange ihr Keller nicht
vollläuft, interessiert sie das nicht so“, sagt der 70-Jährige, der auf
dem Wochenmarkt um Stimmen wirbt. Auch Kandidat*innen der anderen
Parteien haben hier ihre Stände aufgebaut, und sie berichten ebenfalls,
dass die Überschwemmungen hier nicht groß debattiert würden. „Jeder fährt
mal ans Ufer und sieht: Da isch noch Platz“, sagt Manfred Hölzl, ein
Kommunalpolitiker der CDU. „Die Konstanzer leben halt mit ihrem See.“
Auch Stephan Grünewald glaubt nicht, dass das Hochwasser die Wahlen am
Sonntag stark beeinflussen wird. Er ist Psychologe und Mitbegründer des
rheingold Instituts, das regelmäßig Tiefeninterviews zu aktuellen
politischen Fragen durchführt. Er berät auch die Bundesregierung.
Grünewald sagt, er beobachte an vielen Menschen eine „seltsame
Angstfaszination“ in der Reaktion auf Katastrophen. Diese führe aber
nicht dazu, dass die Klimakrise ernster genommen würde, im Gegenteil. In
einer Studie stellte er 2023 fest, dass sich viele Menschen politisch in
ein Schneckenhaus zurückgezogen hätten. Klimakrise, Corona,
Ukrainekrieg: „Die Vielzahl der Krisen, gegen die wir uns machtlos fühlen,
führt dazu, dass wir sie ausblenden.“ Allerdings habe das Hochwasser in den
von ihm betroffenen Gebieten eine große Hilfsbereitschaft bei vielen
entfesselt. „Sie haben wieder das Gefühl, dass sie eingreifen und etwas
verändern können.“ Im Landkreis Pfaffenhofen meldeten sich innerhalb
kürzester Zeit Tausende Freiwillige. Grünewald spricht von „schlummernden
Kräften der Solidarität“.
Das Ohnmachtsgefühl haben diese Menschen für einen Moment überwunden. Wer
weiß, vielleicht kehrt damit auch der Glaube daran zurück, dass sich die
Klimakrise insgesamt überwinden lässt.
8 Jun 2024
## LINKS
[1] /Hochwasser-in-Sueddeutschland/!6015270
[2] /Duerremonitor-des-Helmholtz-Zentrums/!5995227
[3] /Kompetent-versenkt/!6012533
[4] /Umweltschuetzer-ueber-Hochwasser-in-Bayern/!6015384
## AUTOREN
Kersten Augustin
Cem-Odos Güler
Tobias Schulze
Dominik Baur
## TAGS
Hochwasser
Weltklima
Schwerpunkt Europawahl
Kommunalwahl
GNS
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Europawahl
Kolumne Der rote Faden
Schwerpunkt Klimawandel
Weltklima
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Klimawandel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Hoffnung in der Klimakrise: Die Flut als Erlösung
Dürre, Hitze, Flut und kaum Klimaschutz. Unser Autor hofft daher auf eine
Katastrophe, die für radikalere Klimapolitik sorgt. Ist das ein
Trugschluss?
Europawahl 2024: Europa-Sterne mit braunen Flecken
In Deutschland wird die AfD zweitstärkste Partei. In Frankreich, Italien,
Österreich und Spanien sind Rechtsextreme die Gewinner. Nur Skandinavien
rückt nach links.
Bahn und Hochwasser: Positive Signale
Flut und Tote in Bayern, Hungerstreikende in Berlin: Der Klimawandel ist
da, doch nichts passiert. Die Wahl am Sonntag ist deshalb wichtig.
Hochwasserschäden in Süddeutschland: Und wer soll das bezahlen?
In Frankreich gibt es schon seit 1982 eine Pflichtversicherung gegen
Naturkatastrophen. Taugt die als Vorbild für Deutschland?
Flut und Klimakrise: Der Starkregen wird öfter kommen
Wieder wird nach dem Hochwasser in Süddeutschland diskutiert, wie viel
Klimawandel in ihm steckt. Dabei sind die Fakten seit Jahrzehnten klar.
Überflutungen in Süddeutschland: Hochwasser fließt nur langsam ab
Nach tagelangem Dauerregen ist das Wetter in Bayern wieder ein wenig
sommerlicher. Trotz der Sonne kann in den Flutgebieten keine Rede von
Entwarnung sein.
Deutscher Wetterdienst zu Naturgefahren: Wenn Starkregen tödlich wird
Der Klimawandel macht Extremwetter wahrscheinlicher. Der Wetterdienst baut
daher ein neues Internetportal auf. Zieht er Lehren aus der Ahrtalflut?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.