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# taz.de -- Trinkkultur und Kritik: Vom Bier lernen
> Grölende Saufhorden sind unserem Kolumnisten ungefähr genauso unangenehm
> wie distinguierte Craftbeer-Nerds. Aber über Bier spricht er trotzdem
> gern.
Bild: Bier ist komplizierter, als man meinen könnte. Aber die Mühe lohnt sich
Künftig mehr über Bier zu streiten, ist vielleicht der einzige gute
Vorsatz, den ich seit Silvester noch nicht gebrochen habe. Immerhin. Und im
Grunde war’s sogar der schwierigste von allen, weil diese Streite ja
erstens mühsam sind – und weil es zweitens schon eine Herausforderung war,
da noch nachzulegen, wenn man praktisch sein ganzes Leben lang drin steckt
in der Nummer. Und eben streitet über Bier.
Von wegen Identitätsstiftung zum Beispiel: Für uns [1][früh links
Sozialisierte] verbot es sich natürlich von selbst, emotional oder gar
handgreiflich in die Reibereien mit dem Nachbardorf einzusteigen. Weder bei
der Fußballschubserei, noch auf der Kirmes, weil is’ ja klar: Auch
Lokalpatriotismus ist Patriotismus, und wie soll jemand einmal die bessere
Welt hervorbringen, der sich als Kind schon mit den Nachbarn schlug?
Unverfänglicheres Streitthema waren da die Biergrenzen, beziehungsweise die
Belieferungsgebiete der Brauereien. [2][Wir waren Haake-Beck], irgendwo
hinter den Hügeln lag Herforder – und im Moor, da trank man Einbecker,
obwohl Einbeck eigentlich ganz woanders liegt.
## Streit ohne Ende
Alles ist dazu gesagt und auch beforscht: Wissenschaftler:innen
richten etwa immer mal wieder lustige Blindverkostungen aus, in denen
Bierliebhaber:innen massenhaft daran scheitern, ihr vorgebliches
Herzenspils von auch nur einer einzigen anderen Marke zu unterscheiden.
Aber woher soll das auch können, wer so groß wurde: mit fünf Sorten Bier im
Supermarkt und zwei auf dem Dorffest. Weizenbier galt als auswärtige
Spezialität, und „Craftbier“ gab es weder in Wort noch Sache. Und trotzdem
wurde eben endlos gestritten über gute und schlechte Biere.
Das zu steigern, ist nun eben schwer – und vielleicht erschließt sich auch
nicht unbedingt jedem und jeder auf Anhieb, warum man sich so was überhaupt
vornehmen sollte.
Die Sache ist die: Auch ich habe in Wahrheit keine Ahnung von Bier, dafür
doppelte Abneigungen: Mir ist die „Bier her!“-Grölerei von Saufgruppen
nämlich genauso zuwider wie der elaborierte Fetischismus von
Craftbier-Nerds mit Midlifecrisis. Ich hasse Volksfeste, und ich hasse
Menschen, die das Wort „einkehren“ benutzen. Und ich habe echte Angst, noch
mehr Freund:innen an die „Volkskrankheit Alkoholismus“ zu verlieren.
## Wissen statt meinen
Aber ich mag Bier. Und ich ärgere mich zunehmend über meine
Ahnungslosigkeit. Zum Beispiel, wenn im Berliner Spätikühlschrank acht
verschiedene bayerische Helle stehen und ich mich nicht nur fragen muss,
warum dieses Zeug durchs ganze Land gekarrt wird, sondern eben auch: Welche
davon ich schon mal weggegossen habe, weil sie entweder nach gar nichts
oder aber nach Kotze geschmeckt haben? Und selbst bei uns draußen auf dem
(platten) Land sind die Zeiten von „Pils, Pils oder Pils“ inzwischen ja
doch vorbei.
Der Streit, den ich mir vorgenommen hatte, war in erster Linie einer mit
mir selbst: mein Archivwissen zu hinterfragen, begründete Urteile zu
fällen, neu und vielleicht zum ersten Mal wirklich schmecken zu lernen.
Zähneknirschend habe ich sogar das Bier des Nachbarkreises von damals
probiert, einen kleinen Braukurs gemacht, ein Buch gelesen und mir eine
Biersortier-, Erinnerungs- und Bewertungsapp installiert.
Und man lernt auch was über sich selbst, wenn man minutenlang mit dem
Telefon in der Hand über dem Glas hockt und mit sich ringt, ob einem das
schräge Sauerbier nun 3.25 oder doch schon 3.5 Punkte [3][in der Bier-App]
wert ist. Dass gefühltes Wissen nämlich einen Scheiß wert ist und nur
zählt, was man hartnäckig auch gegen eigene Vorurteile erstritten hat. Das
ist in der Politik übrigens ganz genauso.
2 Jun 2024
## LINKS
[1] /Radikale-vom-Dorf/!5850514
[2] /Alkoholismus-auf-dem-Land/!5853928
[3] https://untappd.com/
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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