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# taz.de -- Ein Blick zurück aufs Jahr: Im Nachtzug nach Sprötze
> Wenn es draußen finster ist, kann man gut eine Bilanz des Jahres ziehen.
> Die unseres Kolumnisten ist gemischt. Und er wartet noch auf den
> Plattenspieler.
Bild: Alles dreht sich, man schaut zurück und wieder nach vorn: der neue Platt…
Das Jahr ist noch nicht vorbei und die Zeit im Grunde gar nicht reif für
abschließende Rückblicke. Das Genre ist um diese Zeit noch nicht üblich und
die aktuelle Schlagzahl weltpolitischer Umbrüche erweckt nun auch wirklich
nicht den Eindruck, als wäre der Drops schon gelutscht. Gerade erst ist
[1][Syriens Horror-Diktatur in Wochenfrist gefallen], [2][in Georgien
kämpfen die Menschen um Europa] – und bevor die Redaktionsrechner
runterfahren können, hat auch hierzulande der [3][Bundeskanzler noch eine
Vertrauensfrage] zu verlieren. Wer weiß schon, was da nicht noch alles
passiert? Ich jedenfalls nicht. Und trotzdem ist jetzt Zapfenstreich.
Ich sitze im Zug, auf dem Rückweg von einer dieser vielen kleinen
Weihnachtsfeiern, die „flexibles Arbeiten“ so mit sich bringt. Wir stehen
mal wieder still, weil irgendein technischer Defekt behoben werden will:
Der vierte Vollstopp des Tages nach „Vorfahrt eines anderen Zuges“,
„Signalstörung“ und „Überholungen im Fernverkehr“. Ein bisschen anges…
bin ich diesmal schon, weil mein ohnehin knapp bemessener Anschlusszug
nicht auf uns warten wird, der darauffolgende ganz ausfällt und dann auch
schon Betriebsschluss ist. Ich muss aber noch weiter raus aufs Dorf, wo ich
wohne.
Ich ahne natürlich, dass Sie keine Bahngeschichten mehr hören können. Und
obwohl diese Wiederholungen ein bisschen in der Natur von Jahresrückblicken
liegen, springe ich trotzdem direkt zu der kleinen Pointe, die ich mir
mühsam ausgerechnet habe: Zu Terminen bin ich in 2024 im Schnitt eine gute
halbe Stunde früher losgefahren als im Vorjahr – und ich kam trotzdem fast
immer knapper an als sonst. Ein paar Mal auch einfach gar nicht.
Aber irgendwie wird mir gerade sogar dieses Elend immer egaler. Bald ist
Weihnachten, scheiß auf die Bahn.
Draußen vorm Fenster ist es längst stockdunkel. Irgendwo da hinten müsste
Sprötze liegen oder vielleicht auch schon Lauenbrück. Obwohl ich in beiden
Orten nie war und sie schon deshalb keinen Platz in meinem Jahresrückblick
verdienen, entscheide ich in genau diesem Moment – beim sinnlosen Starren
in die undurchdringliche Finsternis der vorsprötzigen Niederungen –, dass
es jetzt wirklich reicht.
Ich mache den Sack zu. Komme, was wolle. Irgendwie werde ich mich noch
durchschlagen in mein Dorf, notfalls zu Fuß. Vielleicht werde ich morgen
früh ein paar Kerzen anzünden, auf jeden Fall aber den Vorratskeller
befüllen und was Aufwendiges kochen. Vielleicht repariere ich sogar noch
ein bisschen was am Haus und räume auf, während das Jahr verstreicht. Um
Müßiggang geht’s mir jedenfalls nicht. Sowieso muss ich noch ziemlich viel
arbeiten über die Feiertage, aber sogar das ist mir egal. Denn: In die
Stadt muss und werde ich dieses Jahr nicht mehr fahren. Nicht nach Berlin,
nicht nach Hamburg und noch nicht einmal nach Bremen. Und das fühlt sich
auf eine Weise befreiend an, die ich noch vor ein paar Monaten für völlig
unmöglich gehalten hätte – die auch jetzt noch einen fast surrealen
Beigeschmack hat.
Jetzt also dieser Jahresrückblick Mitte Dezember: Ich bin in 2024 mit
wunderbaren Menschen nach Zürich, Tilburg und Rügen gereist. Ich habe zwei
sehr alte Freunde wiedergefunden und andere leider etwas aus dem Blick
verloren. [4][Ich habe Bier gebraut] und Bücher gelesen.
Ich war mit so vielen Antisemit:innen konfrontiert wie seit 20 Jahren
nicht mehr. Ich bin ein Jahr älter geworden. Ich habe beschissene
Landtagswahlen erlebt und hatte noch schlimmere erwartet. Ich habe immer
noch keinen neuen Plattenspieler, aber das macht auch nichts. Der wird sich
finden, so wie alles andere auch.
15 Dec 2024
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Syrien/!t5007613
[2] /Massenproteste-in-Georgien/!6051383
[3] /Ende-der-Ampel-Koalition/!6051847
[4] /Trinkkultur-und-Kritik/!6011466
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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