# taz.de -- Alkoholismus auf dem Land: Glück auf dem Schützenfest | |
> Der Volksmund weiß: Auf dem Land wird mehr getrunken als in der Stadt – | |
> und schlechter. Das mag stimmen, ist aber nur die halbe Geschichte. | |
Bild: Saufen, schießen, kotzen (nicht im Bild): Schützenfest in Bielefeld | |
ALDORF taz | Mein allererstes Bier hatte ich nicht bestellt, aber doch | |
drauf gewartet. Wir standen damals betont gelassen etwas abseits zweier | |
Flutscheinwerfer unter einer Kastanie und schielten zu dem Mann in | |
Feuerwehruniform: ein wandelndes Klischee mit fleckiger Haut und roter | |
Nase, der zwar nicht mehr geradeaus laufen konnte, irgendwie aber doch das | |
Kunststück vollbrachte, einen Schwung Plastikbecher Haake-Beck über den | |
Schotter zu balancieren. | |
Wie gesagt: Bestellt hatte keiner und er fragte auch nicht, ob jemand | |
vielleicht eins wolle, sondern umgekehrt: „Wer fährt von euch?“ Da war ich | |
14, meine Freunde ein bisschen älter. | |
Getrunken wurde dieses Bier (nebst drei weiteren sowie zwei Fläschchen | |
Sahnelikör Marke Babalou) in Aldorf, einem Paar-Hundert-Seelen-Dorf in | |
Niedersachsen, wo zwar nie jemand durchkommt, es aber immer etwas zu feiern | |
gibt. | |
Meistens bei der Freiwilligen Feuerwehr. Damals soll etwa angeblich das | |
neue Löschgruppenfahrzeug LF 16/12 begossen worden sein: ausgestattet mit | |
einer dreiteiligen Schiebeleiter, einer vierteiligen zum Stecken und der | |
Kreiselpumpe mit immerhin 1.600 Litern Nennleistung. Keine Ahnung, ob das | |
stimmt, aber beim Bier bin ich mir sicher. Prost! | |
## Alle hatten Angst, zu kotzen | |
„Feuerwehrball“, hieß die Sause auf der Wiese und sie verlief weitgehend | |
ohne Zwischenfälle. Alle hatten Angst, zu kotzen, mussten dann aber doch | |
nicht. Geknutscht wurde nicht und es gab auch keine Schlägerei, an die ich | |
mich erinnern könnte. Ich weiß noch – ehrlich wahr! – dass mir auf dem | |
Fahrrad zwischen den Maisfeldern hinterher dieser Ärzte-Song in den Sinn | |
kam: „Ist das alles?“ Aber nein, das war gerade erst der Anfang. | |
Denn die Welt ist größer als Aldorf, und Haake-Beck gibt es auch in der | |
Nachbarschaft: in Dickel, Donstorf und Düste – in Drebber auch. Und da war | |
man im Sommer am Wochenende eben unterwegs. Bis heute treffen sich einige | |
meiner alten Freund:innen immer mal auf dem Viehmarkt, beim Bockbierfest | |
oder anlässlich der [1][Krönungszeremonie der diesjährigen | |
Schützenkönigin]. | |
Natürlich waren wir selbst nie Schützen oder Feuerwehrleute. Wir waren | |
Metalheads, Gruftis, Neohippies, Nerds oder zu spät geborene Punks. Anders | |
als viele andere kam ich nicht mal aus einem echten Alkihaushalt. Im | |
Gegenteil: Mein Vater trank damals zwei Gläser Wein pro Jahr und war dann | |
jeweils drei Tage krank. Meine Mutter war auf Geburtstagen nach dem ersten | |
Sekt beschwipst. Beides war mir peinlich, aber es war eben ganz bestimmt | |
weder einladend noch bedrohlich. | |
Aber drumherum wurde immer getrunken: Bei runden Geburtstagen haben die | |
Kinder die Zapfanlage bedient und ausgeschenkt. Auch beim Fußball wurde so | |
viel gesoffen wie bei den ständigen Richtfesten, Taufen, Beerdigungen … | |
Zumindest bei mir ists keine familiäre Frage, sondern eine der Kultur im | |
Ganzen. Wo andernorts vielleicht Berge oder große Flüsse die Landschaft in | |
Form bringen, waren es bei uns auf dem platten Land die Liefergebiete der | |
Brauereien. Wir waren ganz klar Haake-Beck-Land, etwas weiter im Süden | |
schmückten beleuchtete Herforder-Embleme die Gasthofwände und Bierdeckel. | |
Im Norden lag Jever, aber da war ich nie. Selbst wer eigentlich kein Bier | |
mochte, wusste doch die Hassliebe zur eigenen Marke mindestens nachzuahmen. | |
Auf dem Brokser Heiratsmarkt sah ich vor ein paar Jahren mal einen | |
Grundschüler, der unter dem Johlen diverser Väter immer wieder den gleichen | |
Spruch raushaute: „Bier kost’ zwei Mark, Haake-Beck eins fuffzich.“ | |
Man spricht so leicht von Gewöhnung, als ob das was Gutes wäre. Eine | |
brandaktuelle Studie bestätigt meiner Nachbarschaft tatsächlich auch, sich | |
in Sachen Alkoholismus einigermaßen im Griff zu haben. Unter acht Millionen | |
Niedersächs:innen hätten gerade mal 130.000 ein Alkoholproblem. | |
Natürlich ist das ein Problem der Hellfeldstatistik und wahrscheinlich auch | |
eins der zählenden Krankenkasse, für die Saufen erst dann zum Problem wird, | |
sobald sie die Rechnung kriegt. Ich glaube jedenfalls eher an den | |
Umkehrschluss: Nur 1,6 Prozent der niedersächsischen Trinker:innen | |
lassen sich behandeln. | |
Aber die Normalität der Sauferei hat durchaus ihre guten Seiten. Meine | |
erste richtige Schnapsleiche habe ich zum Beispiel erst Jahre später in der | |
Großstadt gesehen, beim Zivildienst in Hamburg: eine minderjährige | |
Notaufnahme von der Reeperbahn. | |
Aber was solls? Die Lebenslüge, sich im Griff zu haben, ist wohl wirklich | |
kein ausschließliches Landproblem. Spannender als die Quantität ist sowieso | |
die Qualität: Was also gesoffen wird. Und das ist auch mehr als nur eine | |
Stilfrage. Auf meinem ersten satanistischen Blackmetal-Konzert war ich zum | |
Beispiel wirklich baff, weil die fies geschminkten Satansknechte vom Dorf | |
an der Theke alle Bier und Korn tranken. Wie mein Opa also, der mit Fug und | |
Recht als einer der uncoolsten Menschen der Weltgeschichte durchgehen | |
dürfte. | |
Auf unseren Partys gab es Haake und zwei Sorten „Cocktails“: Korn-Cola und | |
Wodka-O. Privat manchmal noch Ballantine’s und Bacardi – aber so | |
Stadtsachen wie damals die große Caipirinha-Schwemme um die | |
Jahrtausendwende? Niemals! | |
Ich bevorzuge den grundsoliden Ekel des Schlichten tatsächlich bis heute. | |
Wer stärker am Boden haftet, dreht besser steil, das ist so. Kurz vor | |
Corona war ich kurz auf einem Schützenfest, um jemanden abzuholen. Und das | |
war toll: junge Menschen, die über Pilsener und Discofox in eine Ekstase | |
verfallen, mit der die urbane Clubkultur niemals mitkommt. | |
Im Zelt lief erst Helene Fischers Ballerbass und dann Peter Schillings | |
„Major Tom“. 16-Jährige liegen sich mit leuchtenden Augen in den Armen | |
[2][„und vöhöllig losgehelööööst!“] Und das waren die wirklich: ganz … | |
Ironie ganz wirklich glücklich. Es ist dumm und falsch, sich darüber lustig | |
zu machen: Das adoleszente Glücksversprechen vom Schützenfest ist so | |
todernst wie die Leberzirrhose irgendwann später. | |
Meine Lieblingsgeschichte geht so: Nach einer durchfeierten Nacht beim | |
Freund auf dem Dorf weckt uns ein wirklich bestialischer Gestank. Ich muss | |
kotzen, aber nicht vom Bier. Der Blick aus dem Badezimmerfester, kurz vor | |
Sonnenaufgang, offenbart einen schmalen schwarzen Streifen auf dem grauen | |
Acker und die Erinnerung kommt zurück. | |
Wir waren die drei Kilometer [3][von der Dorfdisco] in Luftlinie über den | |
Acker gelatscht – den frisch gegüllten. Und morgens stieg dann wie im Moor | |
die Jauche in den Fußabdrücken nach oben. Die Schuhe sind im Müll, aber die | |
Erinnerung trage ich noch immer nah am Herzen. | |
Für Städter:innen sind das Episoden am Rande irgendwelcher Festivals: | |
Wacken, Scheeßel, keine Ahnung. Für uns war das jedes zweite Wochenende | |
zwischen 1996 und 2001. Oder 2008, wenn man das Studium und die Besuche bei | |
den Daheimgebliebenen noch mitzählt. Vorbei ist es jedenfalls. | |
Es ist komisch, an meine Freunde und Mitschüler aus Bockbierfest-Zeiten | |
zurückzudenken. Drei sind schon tot, zwei abstinent – die meisten anderen | |
haben einen Kult aus der Sauferei gemacht. Da steht dann auf Facebook, sie | |
hätten letztes Jahr 300 verschiedene Craftbeer-Sorten probiert. Oder sie | |
kaufen heute Gin und Rum zu dreistelligen Preisen, den sie aus dem | |
richtigen Glas trinken, mit dem richtigen Eis und dem richten | |
Spezialzucker. | |
Ich bin beim Haake-Beck geblieben, trinke manchmal mehr, als mir geheuer | |
ist, und dann vorsichtshalber lieber ein paar Monate lang nichts. Und | |
gerade in solchen Phasen ist es hier auf dem Land wieder ein bisschen wie | |
früher unter diesem Aldorfer Kastanienbaum: wo das Bier rüberwankt, das | |
keiner bestellt hat. | |
Der Nachbar reicht eins über den Zaun, weil es gerade nicht regnet (oder | |
eben doch). Beim Fußball hat wer was im Kofferraum, weil man zufällig | |
gerade einkaufen war – und beim Abholen vom Kindergeburtstag gibts ein | |
„Stehpils“, weils ja doch wieder fünf Minuten dauern wird, bis alle | |
Fahrradhelme gefunden sind. | |
22 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=4bec41YdgI4 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=Q_iW4AgFxsI | |
[3] /Disko-Revival/!5202868 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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