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# taz.de -- Dammer Carneval in Niedersachsen: Trotzige Narren
> Seit 1614 feiert die niedersächsische Kleinstadt Damme ihren „Carneval“.
> Die evangelische Nachbarschaft bekommt davon nur wenig mit.
Es ist Montag und ein handfester Stau blockiert die Straße, auf der sonst
eher minutenweise Autos durchfahren: auf dem flachen Land in Niedersachsen,
am Eingang einer Kleinstadt irgendwo zwischen Äckern, der A1 und noch mehr
Äckern. Diese Geschichte ist ein paar Jahre her, aber das macht nichts –
weil hier auch kommenden Montag wieder Stau sein wird und auch in den
wieder irgendein ahnungsloser Protestant aus der näheren Nachbarschaft
hineinfahren und die Welt nicht mehr verstehen wird. Ganz sicher.
Denn Montag ist Karneval in Damme. Ja, kommenden Montag schon, eine Woche
vorm Rest der Narrenwelt. Und das auch noch in einer Gegend, in der man
schon am echten Rosenmontag mit nichts Ungewöhnlichem rechnen muss, außer
einem etwas beknackteren Fernsehprogramm als üblich.
Zwischen den hilflos wartenden Autos stromern Fußgänger:innen über die
Straße. Ein kantiger Typ mit Cowboyhut klopft spaßig, aber eine Spur zu
heftig aufs Autodach und ruft etwas lallend „Damme Helau… oder is’ hier
Alaaf?“ Seine Freundin Pipi Langstrumpf mit centstückgroßen Sommersprossen
weiß es auch nicht so genau, aber es scheint ihr auch egal zu sein. Unter
„Helaaf! Helaaf!“-Rufen ziehen die beiden giggelnd weiter Richtung
Innenstadt, wo aus der Ferne bereits ein bunt geschmückter Wagen zu sehen
und der Wummerbass des immergleichen Schlagermedleys zu hören ist: „Du
blitzt mich an mit deinen Fun-kel-per-len-au-gen“. Bamm bamm badamm.
## Aus antiklerikaler Gewohnheit
Der Kalender stimmt, oder er geht seit 131 Jahren zumindest konsequent
falsch. So lange nämlich feiert Damme im niedersächsischen Nirgendwo eine
Woche zu früh einen Karneval, der sich hier „Carneval“ schreibt. Die Grün…
für den Frühstart sind längst Folklore und trotzdem nicht ganz
uninteressant: Damals hatte nämlich selbst die katholische Kirche zu viel
von der Völlerei vorm Fasten und verordnete ihrer Enklave im
protestantischen Nordwesten kurzerhand vierzigstündige Gebete über den
Rosenmontag.
Selbst wem die kalkulierte Karnevalsverrohung vor der Fastenzeit
grundsätzlich zuwider ist, muss den Dammer Närrinnen und Narren immerhin
den einen subversiven Querschläger zugestehen, wegen des Betbefehls dann
eben eine Woche früher auf die Kacke zu hauen – und daran auch heute noch
stolz zu erinnern.
Der Landstraßenstau Richtung Osten rührt nun vor allem daher, dass die
Termine der Karnevalist:innen trotz der hübsch antiklerikalen
Tradition vor allem ins katholische Umland ausstrahlen. Bereits im gerade
mal 15 Kilometer entfernten Diepholz interessiert sich kein Schwein mehr
für den mit rund 40.000 Besucher:innen größten Umzug des Nordens. Und
nochmal: Das hat mit dem ungewöhnlichen Termin nichts zu tun, denn auch der
Rosenmontag wird in Diepholz spätestens [1][nach der Grundschule] schlicht
ignoriert.
Wahrscheinlich lässt sich der ganze „Dammer Carneval“ so richtig erst
verstehen, wenn man ein bisschen was weiß über diese sonderbare
Binnengrenze, die sich da oben im nordwestlichen Niedersachsen durch ein
früher mal unwegsames Moor schlängelt. Der Landkreis Diepholz ist in seiner
überwältigenden Mehrheit evangelisch und Vechta nebenan – mit Lohne und
eben Damme im Schlepptau – katholisch.
Mag sein, dass Migration und [2][Kirchenaustritte auf beiden Seiten] die
Zahlen aufweichen, aber kulturell steht die Barriere wie der Fels in der
Brandung. Daran ändert auch eine in den 90ern angeblich mal geschlossene
Städtepartnerschaft nichts.
Die beiden Kreisstädte selbst haben einander ignorieren gelernt, doch in
den Gemeinden drumherum werden Reibungsflächen sichtbar. Noch heute ist es
unter katholischen Bildungsbürger:innen aus – sagen wir: der
Samtgemeinde Barnstorf – selbstverständlich, ihre Töchter auf die weite
Reise durchs Moor zur „Liebfrauenschule“ nach Vechta statt in die profane
Rumpelkiste zur Diepholzer Graf-Friedrich-Schule zu schicken. Dort wiederum
wurde einem übrigens der Jom-Kippur-Krieg im Politikunterricht seinerzeit
folgendermaßen erklärt: „Stellen Sie sich vor, wir würden Vechta während
des Stoppelmarktes angreifen!“ Und der ganze Kurs hatte verstanden.
## Unterkühlt unter sich
Aber zurück an die Straße zu diesem Karnevalsumzug, der da etwas
unterkühlt, aber bester Laune und ohne Diepholzer am Stau vorüberzieht,
welcher nur deshalb kürzer wird, weil immer mehr entnervte Fahrer:innen
wendend das Weite suchen. Was die richtige Entscheidung ist: Fünf Stunden
solle das hier dauern, verrät eine Frau mit zotteliger blauer
Plastikperücke, rotem Admiralshut und Strickstulpen in auffällig schlichtem
Hellgrau. Es ist aber auch wirklich deutlich kälter geworden, als es am
Morgen noch aussah.
Ansonsten sind am Wegesrand ohnehin ziemlich viele in Zivil unterwegs, in
Stiefeln, Jeans und dickem Anorak. Dass sie trotzdem nicht zufällig in den
Umzug geraten sind, verrät das helle Klimpern in praktisch jeder
Jackentasche, wenn wieder wer nach dem nächsten 0,02cl-Likörfläschchen
wühlt: Feige, Waldmeister oder irgendwas Schwarzes.
Die Verpflegung ist mindestens so wichtig wie die Umzugswagen, die von
Vereinen, Schulklassen und lokalen Firmen bespielt werden: in Goldfolie
verpackte Anhänger an bemalten Treckern, die den zeitgenössischen Fußball
ironisch kommentieren, die Cannabislegalisierung – oder einfach die gute
Stimmung in der Klasse 4c vorführen. Gerade kommen ein paar Prinzessinnen
vorbei, ahistorische Chimären, die ein bisschen aussehen, als erleide Walt
Disney Fieberträume auf dem Oktoberfest. Die trinken auch Likör: was Rotes
von Heyd in 0,7l-Flaschen.
Sicher ist es zu einfach, das Spektakel auf den Anlass zum Besäufnis zu
reduzieren – auch wenn es sich darin nahtlos einfügt [3][in den Rest des
hiesigen Brauchtums]. Das verrät ein auch hier weit verbreitetes
Accessoire: ein um den Hals geschnürtes „Schluckglas“ mit rot, grün und
schwarz verklebtem Taschentuchpropfen darin.
Das ist immer dabei, ob nun Jungshorden mit Testosteronantrieb durch die
Siedlungen ballern, um unverheirateten Mädchen Maibäume in die Gärten zu
pflanzen. Ob sie später zum „Kränzen“ kommen, wenn doch eine heiratet. Im
Jahr danach mit einem „Kilmerstuten“ genannten Hefezopf den Nachwuchs
begrüßen. Oder ob sie mit „Schachtelkränzen“ über der Haustür jene
markieren, die es mit 30 noch immer nicht unter die Haube gebracht haben.
Wahrscheinlich muss man dem Dammer Karneval letzten Endes doch zugute
halten, dass er eins von unterm Strich doch sehr wenigen norddeutschen
Saufgelagen ist, die nicht in erster Linie in volkskollektiven Ansprüchen
auf weibliche Sexualität begründet liegen. Ein bisschen geknutscht wird
allerdings auch hier am Wegesrand und selbstredend fliegt auf und um die
Festwagen der eine oder andere Rocksaum frivol in die Luft.
Kurz gesagt: Ein Rosenmontagsumzug wie aus dem Fernsehen, nur sonderbar
komprimiert. Für geübte Fotograf:innen ist ein Leichtes, hier
Bildausschnitte zu finden, die nur so überquellen von Glitzer, Bunt und
Heititei. Ist man aber da, steigt auch aus und lässt den Stau schließlich
Stau sein, blitzt unter den Kostümbergen bald das normale Damme auf: alt
gewordene Neubauten an Straßen mit null Prozent Steigung, ein bisschen
Einzelhandel in nachträglich gedämmter Allerweltsarchitektur und natürlich
der regionstypische Backstein. Manche im Pulk am Straßenrand sprechen
Platt.
## Tradition im Doppelpack
Auch wenn sich hier schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts die rheinische
Karnevalstradition eingenistet hat – mit Gala, Reden und Prunksitzungen –,
wirkt sie heute noch sonderbar fremd. Als würde man der eigenen Narretei
nicht so ganz über den Weg trauen, hat man auch die ältere Tradition nie so
ganz aufgegeben. Sind die Wagen erst wieder verschwunden, zieht Damme am
Folgetag als „Gänsemarsch“ zum Festzelt an der Friedhofstraße: nach
spätmittelalterlichem Vorbild ohne Verkleidung, dafür mit groben
Holzforken, mit denen man unterwegs Beiträge fürs Festmahl eintreibt.
Warum ausgerechnet Damme diese regional ungewöhnlichen Traditionen aufrecht
hält, ist schwer zu sagen. Der Katholizismus lädt zum Kurzschluss ein: Nur
wo gefastet wird, hat der Karneval seinen Sinn. Das stimmt zwar irgendwie
an der volkskundlichen Basis, bringt einen als These aber nicht besonders
weit.
Denn genauso wie „Vatertagstouren“ [4][in der Regel] ja nicht von Vätern
unternommen werden, sollte man auch nicht darauf wetten, allzu viele
Karnevalist:innen später fastend zu erleben. Aber klar: Irgendwo
christliche Wurzeln hat das Ganze ja – und braucht sie vielleicht auch, um
den dekadenweise neu aufpoppenden Traditionen und Traditiönchen einen
gemeinsamen Nenner zu verpassen. Sonst zerfranst es sich ja auch.
Kompliziert ist das aber auch, weil Traditionen sich schlagartig nach
Ewigkeit anfühlen, sobald sie jemand zwei- oder dreimal gemacht hat. Am
Beispiel Damme: Seit 1892 feiert die Stadt am Vorrosenmontagsmontag den
hier seit rund 1870 rheinisch aufgebrezelten Karneval, dienstags aber seit
Vereinsgründung 1614 die vormodern-neuzeitliche Variante. Richtig in
Schwung gekommen ist der nordische Karneval aber erst in den 1970er Jahren,
in einer Gemengelage aus wachsenden Lokalpatriotismus und immer
engagierteren Wagenbauer:innen – wahrscheinlich, weil die Kölner Dinger
im damals neuen Farbfernseher so schön bunt aussahen.
## Knallbunte Kindersoldatinnen
Und von wegen Fruchtbarkeitskult und fröhlichen Märschen: Ein
quirlig-viriles Funkenmariechen-Korps zieht vorbei. In der eher burlesken
Spielart statt dieser an amerikanischen Cheerleadern geschulten
Turnmeisterinnen, wie es sie in größeren Karnevalshochburgen gibt.
Andererseits wirken auch diese hier irgendwie beiläufig – nicht wie diese
geisterhaften Erinnerungen aus dunklen bundesrepublikanischen Tagen, als
junge Mädchen in spätbarocken Fantasieuniformen rauchenden alten Männern
mit breiten Brillengestellen ihre Schlüpfer zeigten.
Darüber gibt es tatsächlich Debatten unter Karnevalsvereinen: über
undurchsichtigere Stoffe und/oder volljährige Tänzerinnen. Nicht ganz
uninteressant in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass Mariechen vor
dann gerade doch erst hundert Jahren noch grundsätzlich männlich war: eine
klassische Travestiefigur, bis die Nazis 1935 Schluss damit machten. Was
freilich selten dazu erzählt wird, wenn vermeintliche
Traditionalist:innen neben dem langsamen Verschwinden von
Blackfacing, [5][Winnetou- und Chines:innenkostümen] nun auch die
Verhüllung minderjähriger Schamlippen beklagen.
Aber so ist es eben. Dass eine Tradition menschheitsgeschichtlich gesehen
erst metaphorische drei Minuten alt ist, heißt ja nicht, dass man sie nicht
verteidigen könnte, als stünde das ganze christliche Abendland auf dem
Spiel.
Klar hat der Dammer Carneval in seiner inzwischen 409. Session nicht mehr
so ganz viel mit seinen Ursprüngen zu tun. Aber einige gerade seiner
charmanteren Eigenheiten hat er sich mit beachtlicher Ausdauer bewahrt: Das
trotzige Trotzdem in überwiegend protestantischer Nachbarschaft etwa
genauso wie das antiklerikal gesetzte Datum und diese grundsolide
Harmlosigkeit, von der weder rheinischer Exzess noch hauptstädtisches
Gehampel zu erwarten sind. Dieser Fremdkörper hier weiß um seine Fremdheit,
behauptet keine Authentizität und will auch sonst von niemandem irgendwas.
Außer ein paar Einschränkungen, was den fließenden Verkehr auf der
Landstraße angeht.
13 Feb 2023
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## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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