# taz.de -- Essay zum Karneval: Einfach, narrisch | |
> „Die Sau rauszulassen“ ist eigentlich eine gute Sache. Der Karneval aber | |
> gleicht einer Auflehnung, die man sich vom Kassenwart genehmigen lässt. | |
Bild: Not funny. Friedrich Merz bei der 73. Verleihung des Ordens 2wider den ti… | |
Als mich die Tomate im Gesicht getroffen hat, habe ich Karneval verstanden. | |
Erst sah ich buchstäblich rot, weil es wirklich fürchterlich klatschte und | |
mir die Soße in den Ausschnitt meines Hemdes tropfte. Weil ich aber nicht | |
sehen konnte, wer die Tomate geworfen hatte, griff ich mir selbst welche | |
und begann nun meinerseits, sie beherzt auf Fremde zu schleudern. | |
Die Tomaten flogen sowieso nur so hin und her an diesem Nachmittag, sie | |
zerplatzten an Hauswänden und Windschutzscheiben und – Hurra! – an den | |
Körpern anderer Leute. So verwandelte sich meine ursprüngliche Empörung | |
über den Regelbruch in einen ausgelassenen Rausch. | |
Bald war die ganze Straße rot und glitschig von glänzendem Tomatenmatsch | |
und blutbadmäßig eingefärbten Menschen, die ganze Welt versank im Taumel | |
eines erotischen Scheingemetzels. | |
In Buñol war das, bei Valencia, wo einmal jährlich die Ernte der Tomaten | |
zum Anlass genommen wird, in freudiger Vernichtung aller Überschüsse eine | |
öffentliche Ausgelassenheit zu inszenieren. Diese „Tomatina“ ist | |
vergleichsweise jung. [1][Feste anderswo auf der Welt] werden bisweilen | |
seit Jahrtausenden gefeiert. Manchmal ändern sie mit der Zeit nur den – | |
ohnehin vorgeschobenen und meist religiösen – Anlass und den Namen. | |
Im Kern aber drückt sich in ihnen das menschliche Grundbedürfnis aus, für | |
ein Weilchen gemeinschaftlich „die Sau rauszulassen“ und das | |
gesellschaftliche Gefüge auszuhebeln. | |
## König von Lugasch | |
Hierzulande ist – sieht man einmal vom Oktoberfest, dem Cannstatter Wasen | |
und vergleichbaren Massenbesäufnissen „im ländlichen Raum“ ab – eine so… | |
Saturnalie der Karneval. | |
Das Prinzip hat sich nicht geändert, seit es mit den ersten Hochkulturen in | |
[2][Mesopotamien] entstanden ist. Laut einer 5.000 Jahre alten und heute im | |
Louvre aufbewahrten altbabylonischen Keilschrift verfügte erstmals der | |
sumerische König von Lugasch, dass „kein Getreide […] an diesen Tagen | |
gemahlen“ werde, „die Sklavin […] der Herrin gleichgestellt und der Sklave | |
an seines Herrn Seite“ zu stehen habe, kurz, für Begriffsstutzige: „Die | |
Mächtige und der Niedere sind gleich geachtet“. | |
Karneval oder Fasching bewahren im Grunde das Erbe dieses Brauchtums, | |
wenngleich angepasst an kirchliche Feier- beziehungsweise Fastentage. In | |
typisch katholischer Tradition, den Geboten des Allmächtigen noch einen | |
kleinen Vorteil abzugewinnen, konnte man sich vor den mageren Tagen noch | |
einmal schön den Bauch vollschlagen. | |
Später ermöglichte es die Fastnacht, sich in Köln straffrei über die | |
Preußen oder in Mainz über die Franzosen lustig zu machen – gerne mit | |
„Prinzen“ und „Räten“ und „Sitzungen“, die reale Herrschaftsmittel… | |
satirische Verballhornung überführten. Der [3][Kragen der | |
Klassenzugehörigkeit] kann hier gelockert und die Zumutung der zugewiesenen | |
Rolle zurückgewiesen werden, die man „im normalen Leben“ zu spielen hat. | |
## Zur Frau werden, hihi | |
Wer mit dieser Rolle hadert, ist hier eingeladen, qua Kostümierung | |
kurzfristig mal performativ zum „Indianer“ zu werden, zum „Sträfling“ … | |
hihi, zur „Frau“. | |
Das Angebot ist attraktiv für Menschen, die sich ansonsten recht | |
auskömmlich mit den Verhältnissen arrangiert haben und das tun, was man | |
„funktionieren“ nennt. Wie aus dem Alltag oder bei der Urlaubsplanung | |
gewohnt, soll auch der Frohsinn effizienter Planung unterliegen. | |
In Deutschland hat daher, wie in Deutschland üblich, der Brauch inzwischen | |
seine ideale und endgültige Form in der Vereinsmeierei gefunden. | |
Auflehnung, die man sich vom Kassenwart genehmigen lässt. Revolution als | |
harmlose Pastiches, über die gerade auch die Mächtigen herzlich lachen | |
können – weil das parodistische Ventil hilft, den politischen Druck auch | |
auf Dauer aufrechtzuerhalten. | |
Deshalb kommt gerade bei einer folkloristischen Veranstaltung wie dem | |
Karneval zum Vorschein, was man die „Seele“ der Teilnehmenden nennen | |
könnte. Ob das nun die Seele „des Volkes“ ist oder notwendigerweise, wie | |
bereits geschehen, völkische Züge annehmen muss, sei dahingestellt oder den | |
jeweiligen Zeitläuften überlassen. Fest steht, dass bei so einer | |
Stunksitzung viel Volk feiert. | |
Dabei trinkt es, was es trinken will. Es singt, was es singen will. Es | |
lacht, worüber es lachen will. Der Schützen- oder Gemeindesaal verwandelt | |
sich dann in die Fankurve, den Ballermann, den Stammtisch. Mögen muss man | |
das nicht, und der Anblick grölender Spießer in bedrohlich synchronen | |
Schunkelreihen ist oft genug ernüchternd; so wie die „Tomatina“ von Buñol, | |
wenn man gerade seine besten Kleider trägt. | |
## Schlimmstenfalls reaktionär | |
Das gilt auch für den spezifisch jeckenhaften Humor, der bestenfalls | |
altbacken, schlimmstenfalls reaktionär ist. Gelehrte Leitartikel, in welche | |
Richtung genau nun der „Humor“ zu treten habe, zirkulieren in diesen | |
Kreisen eher nicht. Weshalb es immer wieder – und immer häufiger im | |
Internet – zu Kollisionen zwischen Karnevalisten und Menschen kommt, für | |
die der Quatsch schlicht nicht gemacht oder gedacht ist. | |
[4][In Sachsen gab es neulich einen Faschingswagen zum Thema „Asyl-Ranch“], | |
mit als Indianern verkleideten Sachsen und einem an den Marterpfahl | |
gebundenen Menschen in Regenbogenklamotten. Wer das aus guten Gründen | |
abscheulich findet, tut dies allerdings in wohlfeiler Stellvertretung einer | |
Wirklichkeit, die sich für irgendwelche Hinterwäldler eben anders darstellt | |
als für Teilnehmerinnen des Karnevals der Kulturen in Berlin-Kreuzberg. | |
Auf moralische Zurechtweisungen wie „Du sollst nicht kulturell | |
appropriieren!“ oder „Du sollst der Geschlechtergerechtmachung der Sprache | |
nicht spotten!“ oder „Du sollst keine Minderheiten verhöhnen!“ reagiert … | |
Narr, wie er schon immer auf Einwände einer Obrigkeit reagierte – mit dem | |
störrischen Schulterzucken, das er übrigens auch schon immer für | |
akademische Fragen übrig hatte. | |
Hilfreich wäre, vielleicht, sich nicht selbstgerecht am Karneval und seinen | |
Auswüchsen abzuarbeiten. Sondern die Veranstaltung als Gelegenheit zu | |
begreifen, einen unverstellten und beinahe ethnologischen Blick auf „die | |
Leute“ werfen zu können, wie sie bisweilen noch sind und vermutlich auch | |
noch eine Weile bleiben werden. Sie haben das Gefühl, sich nach oben | |
stemmen zu müssen. | |
## Wenn Merz geroastet wird | |
Wer das zu ernst nimmt, sollte sich das Gesicht von Friedrich Merz | |
anschauen. Also nicht sein Normalgesicht. [5][Sondern sein | |
Faschingsgesicht, als er neulich einer Rede von Marie-Agnes | |
Strack-Zimmermann lauschen musste]. | |
Weil doch Politiker – zuletzt Annegret Kramp-Karrenbauer als „Putzfrau | |
Gretl“ oder Markus Söder in seiner Paraderolle als „Shrek“ – durchaus … | |
Nähe zum Volkstümlichen suchen. Die FDP-Verteidigungsexpertin hatte sich | |
als Vampir verkleidet und den CDU-Chef geroastet, wie man neuerdings sagt. | |
So, wie Merz anschließend guckte, möchte man wirklich nicht aussehen. | |
Wenn er eine Tomate zur Hand gehabt hätte, wer weiß, es hätte sogar noch | |
lustig werden können. | |
13 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Oktoberfest-und-Exzess/!5881438 | |
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[3] /Ueber-Kleidung-und-soziale-Klasse/!5840467 | |
[4] https://www.rnd.de/panorama/sachsen-karnevalsumzug-in-prossen-asyl-ranch-so… | |
[5] /Eine-kleine-Karnevalskritik/!5910967 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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