| # taz.de -- Debatte über „Winnetou“: Aus der Zeit gefallen | |
| > Auch im Streit über „Winnetou“ gilt: Es gibt kein Recht auf rassistischen | |
| > Schrott. Aber wichtiger als Verbannungen sind Kompetenzen im Umgang | |
| > damit. | |
| Bild: Karl-May-Bände, klassische Ausgabe | |
| Nun hat es also auch den alten May erwischt. Nachdem [1][der Ravensburger | |
| Verlag vergangene Woche seinen Winnetou-Abklatsch zu einem aktuellen Film | |
| zurückzog], brennt das Lagerfeuer der Aufklärung plötzlich lichterloh: Darf | |
| man noch Karl-May-Festspiele abhalten? Mays Werke verkaufen? Muss Winnetou | |
| ein zweites Mal sterben, diesmal endgültig? | |
| Das weiße rassistische Denken in Deutschland entdeckt plötzlich seine Liebe | |
| zum Blutsbruder; die Karl-May-Gesellschaft verfasst eine tausendfach | |
| unterzeichnete Petition für einen differenzierten Umgang, der im | |
| Wesentlichen „Weiter so“ heißt. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie | |
| schlecht Cancel-Debatten oft laufen. In einer Welt, in der ein gehöriger | |
| Teil von Kunst Sexismus, Klassismus oder Rassismus enthält: Wie viel ist zu | |
| viel? Wie geht man sinnvoll mit rassistischer Kunst um? Es ist überfällig, | |
| das klüger zu diskutieren. | |
| Viel zu viel kreist um Canceln oder Nicht-Canceln, also die Konsequenzen, | |
| dabei hat sich die Gesellschaft noch gar nicht verständigt, was eigentlich | |
| das Problem ist – jenseits von plakativen Vorwürfen wie „[2][kulturelle | |
| Aneignung]“, die selbst hochproblematisch sind. Mays Werke des 19. | |
| Jahrhunderts, die Filme der sechziger Jahre, die vielen Remakes bis hin zur | |
| homophoben Satire „Schuh des Manitu“; 150 Jahre Stoff ist nicht ein Werk. | |
| [3][Was ist also an den May-Büchern das Problem]? | |
| Kurz: Sie sind dermaßen rassistisch, deutschtümelnd und frauenfeindlich, | |
| dass man nur hoffen kann, Sigmar Gabriel weiß gar nicht, was drinsteht: Die | |
| „naturnah“ dargestellten, geistig meist limitierten „Indianer“; der sei… | |
| „Rasse“ überlegene Winnetou, der als „roter Weißer“ die Romantisierun… | |
| möglich macht; der N* namens Bob, der Babysprache spricht, treu den Weißen | |
| dient und als Trottel herhalten muss. Ist das zumutbar? | |
| Die deutlich entschärften Filme der sechziger Jahre haben das | |
| Kolonialverbrechen dann individualisiert: Gute Weiße und gute weiße | |
| Soldaten helfen den „Indianern“ in einer irren rassistischen Verdrehung | |
| gegen einzelne, meist Latino-Bösewichte. Die jetzt getilgten | |
| Kommerz-Kinderbücher sind vermutlich der harmloseste Winnetou, den es je | |
| gab. Winnetous Evolution ist auch ein Abbild der Fortschritte im | |
| Antirassismusdiskurs. Und rassistischer Konstanten. Die deutsche | |
| Gesellschaft stellt gerade fest, dass sie all das nicht umstandslos in die | |
| historische Tonne kloppen kann. Vorher muss sie aufarbeiten. | |
| Auch das läuft völlig wirr. Ravensburg entschuldigt sich dafür, [4][dass | |
| „wir die Gefühle anderer verletzt haben“]. Das ist Teil des großen, oft | |
| absichtlichen Missverständnisses um „Cancel Culture“. Kunst verletzt | |
| zwangsläufig und zum Glück Gefühle. Das Problem an rassistischen Werken | |
| sind nicht Befindlichkeiten, sondern es ist ihr Rassismus. Es wäre | |
| allerdings infantil, den größten Teil von 2.000 Jahren Kulturgeschichte zu | |
| schreddern (was freilich bisher auch niemand verlangt hat). | |
| Es geht um die Überwindung von Verhältnissen, nicht ums Vernichten ihrer | |
| historischen Abbildung. Gleichzeitig ist es ebenso naiv, Kunst für ein | |
| totes, unveränderliches Stück Holz zu halten. Charles Dickens [5][schrieb | |
| Oliver Twist um], nachdem ein jüdischer Kritiker ihm den Antisemitismus | |
| aufzeigte. Disney hat sein ultrarassistisches Musical „Song of the South“ | |
| (1946) nach Protesten nie auf US-Video veröffentlicht. Erfolgreiche Cancel | |
| Culture schon damals. Es gibt kein Recht auf rassistischen Schrott, nur | |
| weil er Kunst heißt. Und natürlich kann man sich bei den originalen | |
| May-Werken mit guten Gründen entscheiden, sie nicht mehr kommerziell zu | |
| vertreiben. | |
| Zugleich lohnt es, zu erinnern: Weltbilder bilden sich komplex aus, | |
| einzelne Filme oder Bücher werden in ihrem Effekt eher überbewertet. Denn | |
| die Winnetou-Debatte ist ja auch eine Scheindebatte. Die Öffentlichkeit | |
| diskutiert verbissen über Werke, die ohnehin fast keiner mehr kauft, | |
| Gegenwartskultur fällt dagegen meist sträflich unter den Tisch. Alles, was | |
| die heutigen jungen Erwachsenen und Kinder formt(e) – von rassistischen | |
| Disney-Filmen der neunziger Jahre wie „Pocahontas“ und „Aladdin“ über | |
| sexistische Welterfolge wie „Die Eiskönigin“ bis hin zur Frage, wer | |
| eigentlich weiterhin Geschichten erzählt (wohlhabende US-Bürger:innen) –, | |
| wird kaum debattiert. | |
| ## Keine kritische Analyse in den Schulen | |
| Wir leben in einer unterdrückenden Kultur. Und Kulturschaffende werden | |
| nicht zu all ihren Werken die kritische Einführung freundlich mitliefern. | |
| Wo sind aber die Dokus, die Menschen zu ihren Held:innen kritisch bilden? | |
| Wo ist Rassismus-, Sexismus- oder klassenkritische Film- und Buchanalyse in | |
| der Schule? Und zwar zu dem, was Kinder wirklich konsumieren, nicht zu den | |
| gelben Reclam-Heftchen. | |
| Verbannungen von Werken werden mit guten Gründen die Ausnahme bleiben. | |
| Kritische Kompetenzen wären aber auch in der aktuellen „Indianer“-Debatte | |
| bitter nötig: Die „Indianer“-Liebe der Deutschen gehört aufgearbeitet und | |
| verstanden. Die Kulturwissenschaftlerin Katrin Sieg etwa vertritt die | |
| These, dass sich die Nachkriegsdeutschen nicht umsonst in eine Gruppe | |
| hineinträumten, die Opfer eines Genozids wurde – um sich nach dem Holocaust | |
| von Schuld freizusprechen. | |
| Andere Interpretationen gehen so weit, Winnetou als Jesus-Figur zu lesen: | |
| ein edler, zölibatärer, langhaariger Erlöser mit Friedensgruß, der Opfer | |
| der Weißen wird und sie zugleich von ihren Sünden freispricht. Eine | |
| Selbsttherapie für ein Volk von Rassist:innen und Mörder:innen. Und ein | |
| Empathieversuch. | |
| Mutmaßlich ist der Karl-May-Stoff aus der Zeit gefallen. Vielleicht lässt | |
| er sich aber auch wieder einmal ganz neu denken. Ein postkolonialer | |
| Winnetou, der um seine rassistische Geschichte weiß und sie subversiv | |
| unterläuft; nicht als infantile Parodie, sondern als das homoerotische | |
| Heimatmärchen, das er vielleicht ist, und bei dem es immer um Deutsche ging | |
| und nie um „Indianer“. Diesen Mut zur radikalen Selbstkritik und zur | |
| Entwicklung hätte er verdient. Für die Tonne ist Material dann, wenn es | |
| sich dieser Entwicklung verweigert. | |
| 30 Aug 2022 | |
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| [1] /Aufregung-um-Winnetou-Buch/!5873631 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Aneignung | |
| [3] /Debatte-um-Umgang-mit-Karl-May/!5873052 | |
| [4] https://www.ndr.de/kultur/buch/Ravensburger-zieht-Winnetou-Buecher-zurueck-… | |
| [5] https://en.wikipedia.org/wiki/Fagin | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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