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# taz.de -- Vom Umgang mit Karl Mays Erzählungen: Die Deutschen und ihr Winnet…
> Ein Dutzend Freilichtbühnen zeigt jeden Sommer Karl-May-Geschichten. Geht
> das noch, in Zeiten von Debatten über Redfacing und kulturelle Aneignung?
Bild: Seit 1993 werden in der Waldbühne Bischofswerda Stücke nach Karl May ge…
Die Zuschauerreihen der Waldbühne Bischofswerda sind eng besetzt an diesem
Montagabend Anfang Juli. „Wer von euch weiß, wer Karl May war?“, fragt der
Moderator. Nur wenige Hände heben sich. Es ist kurz vor 18 Uhr, mehrere
Schulklassen und viele Familien sind gekommen, um sich eine
Open-Air-Aufführung von „Winnetou I“ anzusehen, nach dem wohl bekanntesten
Roman des Schriftstellers. Von der Tribüne blickt man auf ein
Wildwest-Naturpanorama, das in der Abendsonne liegt; hier werden später
Winnetou, Old Shatterhand und allerhand weiße Schurken einen Weg
runtergelaufen oder -geritten kommen.
Die Waldbühne, einst eine Sandgrube am Rand der sächsischen Kleinstadt
Bischofswerda, ist historisch gewachsen. Über die Jahre kamen eine
Felsformation, ein Wasserfall, die Sandschlucht und Holzbauten dazu, neu
ist ein terrassenförmig ansteigendes Pueblo in Sand- und Orangetönen, mit
großen Kakteen davor. Linkerseits steht die Westernstadt mit Saloon, aus
der in diesem Jahr die Küchengehilfen und Barfrauen die Ganoven mit
Bratpfannen und Fußtritten vertreiben. Slapstick statt Showdown, die Kinder
johlen.
„Winnetou I“, 1893 erschienen, erzählt vom Beginn der Freundschaft zwischen
einem weißen Vermessungsingenieur, genannt Old Shatterhand, und dem
Häuptlingssohn Winnetou – mitsamt falschen Verdächtigungen und gemeinsamen
Kämpfen, Heldentoden, Eisenbahnbau und Goldraub im „Land der Apachen“. In
Bischofswerda tragen die Apachen schwarze Perücken und rote Stirnbänder,
die Weißen Anzug und Zylinder oder Colt und schwere Stiefel. Die
Inszenierung kombiniert Komik und Action, Wildwestflair und Liveerlebnis,
auch eine Pferdekutsche und ein lebender Adler haben Auftritte. Vor Beginn
werden die Zuschauer.innen darauf hingewiesen, keine Abfälle liegen zu
lassen: „Auch die Indianer lebten im Einklang mit der Natur.“
[1][Seit im vorigen Sommer] der Ravensburger Verlag die Begleitbücher zum
Film „Der junge Häuptling Winnetou“ – der nichts mit Karl May zu tun hat…
nach einem öffentlichen Aufschrei zurückzog, [2][ist die Aufmerksamkeit
größer] und der Karl-May-Szene klar geworden, dass man nicht weitermachen
kann wie bisher. Schon seit einigen Jahren wird diskutiert: Dürfen sich
Kinder zu Karneval [3][noch als „Indianer“ verkleiden]? Sollten Weiße im
Theater und Film Rollen von Schwarzen oder Indigenen verkörpern? Wo beginnt
kulturelle Aneignung, und wie entgegnet man ihr?
Wer Karl May auf die Bühne bringen will, ist mit diesen Fragen
konfrontiert. Dass die Menschen vom „Volk der Apachen“ nicht in Pueblos
gelebt haben, weiß Ben Hänchen, 35, der seit Kindesalter [4][bei den
Karl-May-Spielen Bischofswerda] dabei ist. Sein Vater Uwe gründete die
Spiele 1993 und leitet sie bis heute. [5][In einer MDR-Podcastreihe] ist
Ben Hänchen der Frage nachgegangen, ob und wie man Karl May heute noch
spielen sollte. Die Verfälschung historischer Gegebenheiten, eine Fort- und
Festschreibung von Indianerklischees wirft man dem Erfolgsautor vor, die
bis heute in unseren Köpfen wirken.
Karl May lebte von 1842 bis 1912 in Sachsen. Er war ein smarter
Trivialautor mit Faible für ferne Länder, ein Abenteuerschriftsteller, der
selbst ein abenteuerliches Leben hatte, das ihn wegen Betrügereien einige
Jahre ins Gefängnis brachte. Später schrieb er für Zeitungen, wo seine
Reiseerzählungen zunehmend erfolgreich waren. May ließ seine Leser:innen
glauben, er selbst sei Old Shatterhand und habe all diese Abenteuer erlebt.
Tatsächlich reiste er erst spät und nur einmal in die USA.
Sein krummer Lebenslauf, seine Selbstinszenierung, sein Riecher für
exotische Kulissen und der christlich verbrämte Wunsch nach
Völkerverständigung, auf der Höhe des deutschen Kolonialismus, machten May
schon zu Lebzeiten zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren – mit
dauerhaftem Erfolg. Sowohl in der DDR wie in der BRD entstanden populäre
Verfilmungen seiner Romane, die Generationen prägten. Und während Mays
„Orientgeschichten“ kaum noch gefragt sind, gibt es bis heute an die zwölf
Bühnen, die sich Sommer um Sommer Karl Mays „Indianergeschichten“ widmen.
Zur bekanntesten, [6][in Bad Segeberg], kamen im vergangenen Jahr 400.000
Menschen, ungeachtet der öffentlichen Debatte.
May war ein Autor mit fortschrittlichen, teils fragwürdigen, von Rassismen
seiner Zeit durchsetzten Ansichten. Seine Texte sind Fiktion und
Kulturgeschichte. Doch auf die Bühne gebracht, entsteht etwas im Hier und
Jetzt, die Stücke stellen neue Bezüge her, reproduzieren alte Muster.
Menschen verkörpern fiktive Charaktere, ein Bühnenbild situiert sie,
Kostüme identifizieren sie – als einer Gruppe, Klasse, Gesellschaft
zugehörig. Wer im Falle eines fiktiven Kunstwerks darf darüber entscheiden,
was wie gespielt wird: Die Macher? Die Fans? Die Expert.innen? Diejenigen,
um die es geht?
Ben Hänchen kam in seiner Podcast-Reihe im Sommer 2022 zu dem Schluss:
„Weitermachen – aber nicht weiter so“. Für die nächste Probenzeit künd…
er Workshops und Beratung durch Angehörige indigener Gruppen Nordamerikas
an. Am Tag nach der Abendvorstellung sitzen die Hänchens zum Mittagessen im
großen Saloon, wo die neuen Infotafeln zur Geschichte der First Nations
Nordamerikas an der Wand hängen. Sie sind einer der
Modernisierungsschritte, ausgearbeitet haben sie zwei Volontär.innen des
Karl-May-Museums in Radebeul.
Uwe Hänchen: „Apachen tragen keine Federn. Deshalb lassen wir sie auch weg.
Bei den Präriestämmen ist das zum Beispiel anders. Aber da haben sie oft
auch eine rituelle oder spirituelle Bedeutung.“ Ben Hänchen: „Du weißt,
Papa, dass diskutiert wird, ob man Federschmuckhaube oder traditionelle
Tänze in Zukunft überhaupt noch zeigen sollte.“ Uwe Hänchen: „Da sind wir
verschiedener Meinung. In manchen Stücken haben die Tänze eine Funktion.
Wir werden uns wieder beraten lassen. Und wenn es heißt: weglassen, lassen
wir sie weg.“
Man merkt, dass es Uwe Hänchen schwerer fällt als seinem Sohn, sich von
bestimmten Bildern zu lösen. In diesem Jahr ist er 60 geworden, er lebt und
arbeitet als Lehrer in Bischofswerda. Als Schulprojekt fing es mit den
Karl-May-Spielen nach der Wende an. Zu lesen gab es Mays Romane in der DDR
lange nicht, wohl aber Indianerfime der Defa, die für Hänchens Generation
so prägend waren wie die Winnetou-Filme mit Pierre Brice in der BRD. Gojko
Mitić war der Star der Defa-Filme, er ist heute der Schirmherr der
Karl-May-Spiele Bischofswerda.
Im Nachhinein betrachtet, sagt Uwe Hänchen, könnte es schon sein, dass die
geografische Beschränkung in der DDR eine Rolle spielte für seine
Begeisterung für die USA und den sogenannten Wilden Westen. Der Traum von
Freiheit, die fehlende Gelegenheit zu reisen, die Sehnsucht nach der
Begegnung mit dem Unbekannten. „Die Enge ist mir erst hinterher bewusst
geworden.“
Die Karl-May-Spiele sind sein Lebensprojekt. Familienfreundlich,
integrativ, niedrigschwellig, wie man heute sagt. Eintrittspreis: 8 Euro
für Erwachsene, Kinder die Hälfte. „Wir machen keine große Kunst“, sagt …
Hänchen, und sein Vater ergänzt: „Bei uns lernt man, in der Gemeinschaft
Verantwortung zu übernehmen. Darum geht es.“ Alle, die sich bewerben,
dürfen mitmachen, betonen die Organisatoren. 2018 haben sie kurzfristig die
Inszenierung mit Geflüchteten besetzt. Rund 80 Personen umfasst das
jährlich neu entstehende Ensemble. In der Morgenvorstellung spielen Kinder,
abends Jugendliche und Erwachsene. Es sind drei intensive Wochen mit
insgesamt 22 Vorstellungen.
„Wir legen den Fokus auf Abenteuer und die humanistische Botschaft Karl
Mays“, sagt Ben Hänchen. Sein Vater inszeniert und schreibt jährlich ein
neues Textbuch. Neu ist dieses Mal, dass May in einem Prolog und Epilog als
Märchenerzähler eingeführt wird – ein Kniff, um die Fiktionalität des
Stoffs hervorzuheben. Die Figur Klekih-petra ist nicht mehr „der weiße
Vater der Apachen“, „Manitou“ wurde durch den „Großen Geist“ ersetzt,
„Howgh“ aus dem Sprechrepertoire verbannt, um nicht glauben zu machen, es
gäbe nur eine einzige – infantil wirkende – Indianersprache. Dennoch: „D…
Apachen bei uns sehen aus, wie Karl May sie beschrieben hat, nicht wie sie
in Wirklichkeit aussahen oder lebten“, sagt Ben Hänchen. „Unser Ansatz ist
nicht Authentizität. Das wäre aus meiner Sicht tatsächlich kulturelle
Aneignung.“
Sein Vater reiste zum Native American Weekend in die Westernstadt El Dorado
in Templin, initiiert von Kendall Old Elk vom Stamm der Apsaalooke (Crow),
der dort Tänze seines Volkes zeigte. Mit ihm hat Uwe Hänchen auch das
Textbuch „abgeklopft“, Formulierungen geändert oder weggelassen. Offen ist
er für neue Erkenntnisse, Änderungen – aber nicht dafür, sein Lebenswerk
aufzugeben. „Wenn alles infrage gestellt wird, schmerzt das.“ Neben den
Infotafeln liegt in Bischofswerda ein Flyer aus, der die
Herkunftsgeschichte und Verwendung des Wortes „Indianer“ erklärt. Warum
sollte man es lieber nicht mehr verwenden? Und was kann man stattdessen
sagen? Ben Hänchen sagt „Native Americans“, wenn es um die Menschen in den
USA geht, Uwe Hänchen findet „First Nations“, wie in Kanada üblich,
schöner. Von „Indianern“ sprechen beide, sofern es um das geht, was sie auf
der Waldbühne machen: „Indianer spielen“.
Frank Usbeck, Amerikanist aus Leipzig mit Schwerpunkt auf den indigenen
Kulturen Nordamerikas, sagt: „Die Diskussion ist nicht abgeschlossen und
wird es vielleicht nie sein. Im Englischen ist es noch komplizierter, weil
man unterscheiden muss zwischen American Indian (Indianer) und Indian
(Inder). Außerdem sind rechtliche Fragen an die Bezeichnung gebunden.“
Usbeck spricht von Native Americans, wenn es um die Gruppe geht, und von
Indians, Indianern, wenn er das Stereotyp meint. „So lässt sich im
Deutschen ohne Anführungszeichen von Indianerbegeisterung sprechen, wenn es
um das Konzept, die Idee und nicht um konkrete Personen geht.“ Auch in
diesem Text wird dies so gehandhabt.
Im vergangenen Jahr schlossen sich die verschiedenen Institutionen der
heterogenen Karl-May-Szene – es gibt eine Karl-May-Stiftung, ein
Karl-May-Museum, ein Karl-May-Haus, eine Karl-May-Gesellschaft, einen
Karl-May-Verlag, diverse Karl-May-Spiele – in [7][der Arbeitsgemeinschaft
„Karl May vermitteln“] zusammen. Nicht alle Eingeladenen kamen zum
Gründungstreffen. Auf die Nachfrage der taz, ob sie Änderungen an der Art
und Weise der Inszenierung vornehmen, verweigerten die Veranstalter der
zweitgrößten Karl-May-Spiele im sauerländischen Elspe eine Stellungnahme.
Aus Bad Segeberg ging eine ausführliche Antwort ein: „Die Karl-May-Spiele
entwickeln sich seit ihrer Gründung im Jahre 1952 stetig weiter“, heißt es
darin. „Karl Mays Abenteuer sind fiktive Geschichten – und wir haben auch
noch nie behauptet, die Realität abzubilden. (…) Der mitunter geäußerte
Vorwurf, bei Karl May würden die tatsächlichen Verhältnisse verschwiegen,
stimmt einfach nicht – im Gegenteil: Landraub, Vertreibung, die Zerstörung
heiliger Stätten und das rücksichtslose Ausbeuten von Bodenschätzen sind
die Themen seiner Romane (…)“
Die deutsche Indianerbegeisterung fing lange vor Karl May an, mit
Philosophen der Aufklärung wie Jean-Jacques Rousseau, der im 18.
Jahrhundert das Narrativ vom Edlen Wilden vertrat. Die
„Lederstrumpf“-Romane von James Fenimore Cooper erschienen in den 1820er
Jahren und sehr bald darauf auch erste Übersetzungen ins Deutsche. Karl May
wusste gut 70 Jahre später um die Popularität dieser Stoffe und brachte es
so zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren. In den USA ist er indes
kaum bekannt.
Was hält ein Native American von einer Adaption des Stoffs für die Bühne?
[8][Kevin Manygoats], 54, ist in der Navajo Nation Reservation in Arizona
aufgewachsen. Eins von sieben Kindern und der Einzige seiner Familie, der
überhaupt außerhalb von Arizona lebt, wie er bei einem ersten Treffen im
Juni in einem Café nahe dem Bahnhof Dresden-Neustadt sagt. Der Vater
Eisenbahner, die Mutter Lehrerin. „Sie hat darauf gedrängt, dass wir
studieren“, erzählt Manygoats, der seine dunklen Haare in einem Zopf
zurückgebunden trägt. Der Chemiker arbeitet in einer Firma, die Medikamente
prüft. Während des Studiums lernte er seine spätere Frau kennen, eine
Deutsche, mit der er vor 20 Jahren in ihre Heimat zog. Er hat zwei Söhne,
mit ihnen spricht er Englisch, seine erste Muttersprache versteht er zwar,
spricht sie aber nicht mehr.
Manygoats vermisst seine Heimat, mehr als früher, gibt er zu. In Dresden
lebt niemand seines Volkes, das eigentlich nicht Navajo heißt – dies war
eine Fremdbezeichnung durch die spanischen Kolonisatoren –, sondern Diné,
was „das Volk“ bedeutet. „Wir haben eine starke Verbindung zu unserer
Vergangenheit“, sagt Manygoats. „Ich fühle die Verpflichtung, Wissen und
Informationen über unsere Geschichte und Kultur weiterzugeben, um gegen die
ganze Romantisierung und die vielen Indianerklischees anzugehen.“ Seit
einigen Jahren gibt er Workshops und hält Vorträge über die rechtliche
Diskriminierung seiner Landsleute, berichtet vom „Long Walk“, der brutalen
Vertreibung der indigenen Stämme von fruchtbarem Territorium in karge
Reservatsgebiete, so auch am Karl-May-Museum, das den Kontakt zu ihm
vermittelt hat. Man hat ihn für Ende des Monats nach Bischofswerda zur
Premiere eingeladen. „Sie wollen meine Meinung hören“, sagt er.
Manygoats ist entspannt, aber klar, was den Umgang mit der Thematik angeht.
Wenn sich Kinder als Indianer verkleiden, hat er kein Problem damit, anders
bei Erwachsenen, das findet er „problematisch“. Das Gesicht rot schminken
sei „eine rote Linie“. Mit den in der DDR entstandenen Hobbyistengruppen,
die sich der vermeintlich authentischen Nachahmung des Lebens indigener
Stämme verschrieben haben, arbeitet er nicht zusammen. „Die Stämme, die sie
repräsentieren, leben schon seit 150 Jahren nicht mehr so. Das hat mit
unserer Wirklichkeit nichts zu tun. Wir haben mit so viel Diskriminierung
und Rassismus zu kämpfen.“ Was ihn an der hiesigen Karl-May- und
Indianerdebatte erstaunt: „Hier sind die Indianer die Guten, in den USA
waren wir immer die Bösen.“
Doch auch positive Stereotype sind vor allem eins: stereotyp. Sie
verkitschen, verharmlosen, liefern keinen differenzierten Kontext, der zum
Verständnis der Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas wichtig wäre –
eben, weil sich das Stereotyp zäh und widerborstig hält.
„Die positiven Klischees führen dazu, dass die American Natives in
Deutschland nicht gesehen werden“, führt Carmen Kwasny, Sprecherin [9][der
Native American Association of Germany (NAAoG)], am Telefon aus. „Und wehe,
man weicht davon ab!“ Es sei erschreckend, dass bei Kitafesten heute noch
„mit kitschigbuntem Federschmuck und wildem Geheul ums Feuer getanzt wird“.
Das sei sehr verletzend für viele Natives, die vor dem Hintergrund des
Völkermords und der Boarding Schools – bis in die 1970er Jahre hinein war
die Ausübung ihrer Religion verboten – ein transgenerationales Trauma mit
sich herumtrügen. „Ein großes Problem ist die Vermarktung und Aneignung
indigener Spiritualität“, sagt Kwasny weiter. „Sich über die Wünsche der
Native Americans hinwegzusetzen, die das nicht wollen, ist auch eine Form
von Rassismus.“
Kwasny, 58, eine Deutsche ohne indigene Wurzeln, ist seit mehr als 30
Jahren für ihren Verband aktiv, der in den 70er Jahren der BRD von
indigenen GIs und ihren Familien gegründet worden war. Sie ist jung
dazugekommen, arbeitete als Pressesprecherin für den Verein. „Ich dachte
früher, ich müsste das alles beschützen.“ Zwischendurch habe sie aktiv in
Tracht mitgetanzt, heute ein No-go – es gab 2007 einen entsprechenden
Beschluss der Organisation, die sich nach Truppenreduzierungen der US-Armee
neu orientieren musste. Viele indigene GIs und ihre Familien gingen zurück.
Die NAAoG fordert nicht, auf das Wort „Indianer“ zu verzichten. „In den U…
gibt es 182 Stammesnationen und Communities, die das Wort Indian in ihren
Bezeichnungen tragen“, sagt Kwasny. Anders die Menschen [10][hinter dem
Instagram-Account #NativesinGermany], die das Wort gar nicht benutzt sehen
möchten. Sie vertreten Indigene aus Nord- und Südamerika. Unter [11][dem
Hashtag #DankeKarlMay] werden Rassismus-Erfahrungen Indigener im Alltag
gesammelt. Ein Gespräch auf Anfrage der taz kommt nicht zustande, man will
die indigene Perspektive nicht marginal in einem Pressebericht
wiederfinden. Schwer vorstellbar, dass jemand von #NativesinGermany bei
den Hänchens am Mittagstisch im Saloon säße.
Karl May und die Indianerfrage ist eine innerdeutsche Debatte, sagt Carmen
Kwasny von der NAAoG. Die Entwicklung in den USA sei schon viel weiter
fortgeschritten. „Die US-Innenministerin Deb Haaland, selbst eine Native
American, hat im November 2021 das Wort ‚Squaw‘ offiziell zu einem
abwertenden Begriff erklärt. Mehr als 660 geografische Stätten in den USA
werden deshalb umbenannt.“
Kwasny hat den Leuten in Bischofswerda Beratung angeboten. Eine direkte
Zusammenarbeit kam nicht zustande. Kwasny wünschte indigene Berater vor Ort
– und dass die Inszenierung auf die Namen der Stammesnationen verzichtet.
„Wenn es Fiktion ist, warum erfindet man dann keine neuen Namen?“ Ben
Hänchen ist da skeptisch. „Das wäre ein ziemlicher Eingriff ins Werk“, sa…
er. „Ich setze lieber auf mehr Aufklärung und Kontextualisierung.“ Dem
Kontakt zu Kwasny verdanken die Hänchens aber die Verbindung zu Kendall Old
Elk aus Templin, dessen Ratschläge ansatzweise in die Inszenierung
eingeflossen sind. „Wir wollen ihn weiter konsultieren.“
Ohne Winnetou kein Winnetou-Spektakel. Der Naturalismus der
Open-Air-Inszenierungen – mit lebenden Tieren, Felsenbühne oder Sandberg,
Lederkleidung mit Fransen – fordert die Veranstalter. Entrümpeln, mit
Stereotypen aufräumen, geht nur begrenzt, wenn man das Grundinventar
beibehalten und keine Zuschauer.innen verlieren will. „Wir haben
Kulturkampf in Sachsen“, sagte Ben Hänchen beim ersten Telefonat. „Das
Thema ist sehr heikel. Wir sind im Prozess, auch intern.“ Bisher sei
niemand aufgrund der Neuerungen abgesprungen, auch keine Sponsoren. Die
politische Atmosphäre ist angespannt in einem Bundesland, wo Gendern an
Schulen verboten ist. Die AfD in Bautzen warb mit dem Plakat „Winnetou
hätte AfD gewählt“.
Der Amerikanist [12][Frank Usbeck], 48, kennt sich nicht nur gut mit den
Fallstricken bei der Begriffsbezeichnung von Indigenen aus, er ist auch
zuständig für die Staatlichen Ethnografischen Sammlungen Sachsens. An
diesem Tag im Juni sitzt er, Brille, stahlblaues Hemd, die ergrauten Haare
im Pferdeschwanz, in seinem Büro im Leipziger Grassi-Museum für Völkerkunde
und spricht über die Indianerbegeisterung der Deutschen.
Während seiner Recherchen ist Usbeck auf ideologische Querverbindungen
gestoßen, eine Vereinnahmung des Schicksals der indigenen Völker
Nordamerikas durch neurechte Strömungen, wo das Winnetou-AfD-Plakat
hervorragend reinpasst: „Sie arbeiten mit dem historischen Vergleich, dass
die Pilgerväter, die ersten englischen Einwanderer, sich als religiös
Verfolgte ausgegeben hätten, insgeheim aber schon Eroberungspläne für den
ganzen nordamerikanischen Kontinent in der Tasche hatten. Und wenn die
Indianer die vermeintlichen Flüchtlinge gleich zurückgeschickt hätten,
wäre ihnen ihr Schicksal erspart geblieben, dann wären sie jetzt nicht
Fremde im eigenen Land.“ Die scheinbare Logik dahinter: „Stoppt die
Einwanderung nach Deutschland, sonst landen die Deutschen wie die Indianer
in Reservaten.“
In der Migrationsdebatte taucht das Argument seit 2005 wieder verstärkt auf
– europaweit. Es gab das Argument jedoch bereits in der Nazizeit, erzählt
Usbeck: „Das geht so weit, dass eine obskure Fachdisziplin wie die
NS-Rassenseelenkunde behauptete, die Deutschen und die Indianer hätten ein
vergleichbar angeborenes Verhältnis zur Natur, beide wären Waldmenschen und
kein Wüstenvolk wie die Juden.“ Usbeck hat für seine Forschung unter
anderem den Völkischen Beobachter ausgewertet.
Die Frage, der sich Usbeck als Kurator der ethnologischen Abteilung eines
Völkerkundemuseums stellen muss, ist ähnlich wie die der Theaterleute:
Inwiefern reproduziert man Stereotype, indem man alte Lebenswelten
darstellt? „Wir Museumsleute haben es leichter“, sagt Usbeck, „weil es im
Museum per se darum geht, andere Kulturen zu erklären. Wir können auf
Quellenmaterial zurückgreifen. Die Stücke für die Bühne sind nicht darauf
angelegt, fremde Kulturen zu erklären, sondern wollen Abenteuergeschichten
erzählen.“
Einer Region oder vielmehr einem untergegangenen Land soll mit einem Raum
im Grassi besondere Beachtung geschenkt werden: der Indianistik,
Völkerkunde und Geschichte des eigenen Hauses in der DDR-Zeit. Um den
Antiamerikanismus der SED-Regierung zu stärken, lud man in den 1970ern
Vertreter der Red-Power-Bewegung zu den Weltjugendfestspielen ein, schickte
Soli-Pakete in die USA und machte Indianerstoffe populär. Usbeck holt ein
Indianer-Lehrquartett herbei, das Anfang der 1980er für die Bildungsarbeit
entwickelt worden war. „Eine richtige Fankultur“ entstand damals, erzählt
er, frühe DDR-Umweltgruppen und Amateurethnologen griffen das Thema auf.
„Das macht das Indianerphänomen so langlebig“, sagt Usbeck, „von der
Wandervogel-Bewegung über Nazis, Hippies, Antifa bis zu New Agern, alle
fanden etwas für sich Nützliches und griffen es heraus.“ So sind im Laufe
der Zeit viele, sich überlagernde Projektionsflächen entstanden.
Zum DDR-Erbe gehört auch das Karl-May-Museum in Radebeul bei Dresden. Von
1956 bis 1984 hieß es schlicht „Indianer-Museum“. Mays Bücher galten in d…
DDR zunächst als bourgeois und nationalistisch, sie wurden erst Anfang der
1980er neu aufgelegt. Robin Leipold leitet seit drei Jahren das Museum, das
eine hundertprozentige Tochter der Karl-May-Stiftung ist. Er führt durch
den großen Garten. Im ehemaligen Wohnhaus Karl Mays, der „Villa
Shatterhand“, sind dessen private Räume mit Arbeitszimmer und seiner
umfangreichen wissenschaftlichen Bibliothek zu besichtigen.
Daraus habe der Autor vor allem die Landschaftsbeschreibungen gezogen,
erklärt Leipold. „May war kein Ethnologe, er hat Abenteuergeschichten für
Zeitungen geschrieben. Er hat das Stereotyp Indianer nicht erfunden,
sondern weiterbenutzt und bedient.“ Leipold, studierter
Kulturwissenschaftler, steht für einen Generationswechsel im Museum. Wieder
jemand, der einen – diesmal langen, dünnen – Zopf trägt, den Leipold jeden
Morgen neu flicht. Ein Relikt seiner Jugendzeit.
„Wir verteidigen Karl May durchaus“, sagt Leipold, „aber es gibt viel, was
man hinterfragen muss: die eurozentristische Perspektive, das
Christlich-Missionarische, manche Völker kommen bei ihm sehr schlecht
weg.“ Trotzdem: „Er hat modern gedacht. Wir müssen ihn in seiner Zeit
kontextualisieren.“
Leipold obliegt nun die Aufgabe, das noch aus den 1960er Jahren stammende
Ausstellungskonzept zu überarbeiten und Provenienzforschung für die
ethnografische Sammlung zu betreiben. Die Dioramen und Figuren stammen
teilweise noch aus den 1930er Jahren. Im Garten stehen zwei nachempfundene
Totempfähle, „aus gutem alten DDR-Kunstharz“, bunt angemalt. „Natürlich
sind die problematisch“, sagt Leipold, „aber sie haben Bestandsschutz. Wir
müssen damit umgehen.“ Das Privatmuseum kämpft mit zurückgehenden
Besucherzahlen.
Im Garten befindet sich eine Gruppe klischeehafter Indianerfiguren, die bis
vor ein paar Jahren als Deko genutzt wurden. „Wir haben überlegt, was damit
geschehen soll“, erzählt Leipold. „Wir entschieden uns, die Figuren nicht
zu entsorgen, sondern sie zu einer Protestgruppe zusammenzustellen.“ Eine
trägt ein Schild um den Hals, darauf steht: „Change the Mascot!“ – Ände…
das Maskottchen! „Unsere Form der Intervention, um mit dem Alten zu brechen
und aktuelle Bezüge herzustellen“, sagt Leipold. Das Motto geht auf
Protestkampagnen Indigener gegen den Missbrauch ihrer kulturellen Identität
durch US-amerikanische Sportteams wie die Cleveland Indians oder Washington
Redskins zurück. Beide Teams haben sich inzwischen umbenannt.
Leipold hat im November 2022 den Arbeitskreis „Karl May vermitteln“
mitbegründet. Mit dem neuen Info-Flyer klappern er und seine Leute diesen
Sommer alle Karl-May-Spiele ab, um ins Gespräch zu kommen. Auch die in
Bischofswerda. Man ist zufrieden, geht freundlich miteinander um. Ben
Hänchen und Leipold sind eine Generation. Sie spüren die Notwendigkeit,
etwas zu verändern, aber wollen Karl May nicht aufgeben. Schließlich ist er
Teil ihres Lebens, ihres Jobs. Ihn nicht mehr auf die Bühne bringen? Ben
Hänchen sagt: „Man sollte die integrative Kraft unseres Projekts nicht
unterschätzen.“ Und Uwe Hänchen: „Ich könnte mir vorstellen, dass die
Truppe dann auseinanderbricht. Und der völkerverständigende Ansatz von May
lässt sich mit Ritterspielen nicht machen.“
Auf ihre Einladung hat Kevin Manygoats die Premiere in Bischofswerda
besucht. Als Ehrengast saß er in einer Reihe mit Ministerpräsident Michael
Kretschmer. Wie ihm „Winnetou I“ gefallen hat? „Nice“, sagt er. „Die …
waren mit dem Herzen dabei.“ Auch dass alle Generationen mitmachen konnten,
hat ihm gefallen. Und die Kostüme, haben sie ihn gestört? „It’s a play. D…
ist Teil der Kunstfreiheit.“ Die angedeutete Verbundenheit mit der Natur
sei vielleicht etwas klischeehaft, sagt er, aber es stimme ja: Seine
Vorfahren hätten mehr davon verstanden.
Heute kämpfen seine Landsleute vor allem mit den Folgen der
Umweltverschmutzung durch Kohlekraftwerke, die eins nach dem anderen
schließen, mit dem anstehenden Strukturwandel. „Die meisten meiner
Landsleute haben größere Probleme“, sagt er, „als darüber zu diskutieren,
ob man das Wort Indianer verwenden darf oder nicht.“ Aber, gibt Manygoats
zu bedenken, „es gibt in dieser Frage keine einheitliche Stimme und
Meinung. Ich kann nur für mich sprechen, für meine Gruppe.“
Das Karl-May-Museum hat eine Broschüre für indigene Besucher aus dem In-
und Ausland verfasst. Am Ende stehen die Fragen: „Was ist euch wichtig? Wo
sind die roten Linien?“
Dies deutet die Richtung an: Fragen stellen, sich beraten lassen. Das heißt
aber, dem Rat auch zu folgen. Fronten und Empfindlichkeiten klären. Das
Karl-May-Museum und die kleinste der Karl-May-Bühnen haben Bereitschaft
signalisiert. Aber reicht die Bereitschaft, Karl May zu entrümpeln, um
seine Geschichten mit Respekt für das Schicksal der First Nations auf die
Bühne und unter die Leute zu bringen?
Es reicht nicht, es ist ein Anfang.
6 Aug 2023
## LINKS
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[8] https://www.karl-may-museum.de/de/veranstaltung/die-kultur-der-navajo-mit-k…
[9] http://www.naaog.de/Deutsch-German/Ueber-uns/
[10] https://www.instagram.com/natives_in_germany/
[11] https://www.instagram.com/explore/tags/dankekarlmay/
[12] https://forschung.skd.museum/wissenschaftler/detail/frank-usbeck/
## AUTOREN
Sabine Seifert
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