# taz.de -- Vom Umgang mit Karl Mays Erzählungen: Die Deutschen und ihr Winnet… | |
> Ein Dutzend Freilichtbühnen zeigt jeden Sommer Karl-May-Geschichten. Geht | |
> das noch, in Zeiten von Debatten über Redfacing und kulturelle Aneignung? | |
Bild: Seit 1993 werden in der Waldbühne Bischofswerda Stücke nach Karl May ge… | |
Die Zuschauerreihen der Waldbühne Bischofswerda sind eng besetzt an diesem | |
Montagabend Anfang Juli. „Wer von euch weiß, wer Karl May war?“, fragt der | |
Moderator. Nur wenige Hände heben sich. Es ist kurz vor 18 Uhr, mehrere | |
Schulklassen und viele Familien sind gekommen, um sich eine | |
Open-Air-Aufführung von „Winnetou I“ anzusehen, nach dem wohl bekanntesten | |
Roman des Schriftstellers. Von der Tribüne blickt man auf ein | |
Wildwest-Naturpanorama, das in der Abendsonne liegt; hier werden später | |
Winnetou, Old Shatterhand und allerhand weiße Schurken einen Weg | |
runtergelaufen oder -geritten kommen. | |
Die Waldbühne, einst eine Sandgrube am Rand der sächsischen Kleinstadt | |
Bischofswerda, ist historisch gewachsen. Über die Jahre kamen eine | |
Felsformation, ein Wasserfall, die Sandschlucht und Holzbauten dazu, neu | |
ist ein terrassenförmig ansteigendes Pueblo in Sand- und Orangetönen, mit | |
großen Kakteen davor. Linkerseits steht die Westernstadt mit Saloon, aus | |
der in diesem Jahr die Küchengehilfen und Barfrauen die Ganoven mit | |
Bratpfannen und Fußtritten vertreiben. Slapstick statt Showdown, die Kinder | |
johlen. | |
„Winnetou I“, 1893 erschienen, erzählt vom Beginn der Freundschaft zwischen | |
einem weißen Vermessungsingenieur, genannt Old Shatterhand, und dem | |
Häuptlingssohn Winnetou – mitsamt falschen Verdächtigungen und gemeinsamen | |
Kämpfen, Heldentoden, Eisenbahnbau und Goldraub im „Land der Apachen“. In | |
Bischofswerda tragen die Apachen schwarze Perücken und rote Stirnbänder, | |
die Weißen Anzug und Zylinder oder Colt und schwere Stiefel. Die | |
Inszenierung kombiniert Komik und Action, Wildwestflair und Liveerlebnis, | |
auch eine Pferdekutsche und ein lebender Adler haben Auftritte. Vor Beginn | |
werden die Zuschauer.innen darauf hingewiesen, keine Abfälle liegen zu | |
lassen: „Auch die Indianer lebten im Einklang mit der Natur.“ | |
[1][Seit im vorigen Sommer] der Ravensburger Verlag die Begleitbücher zum | |
Film „Der junge Häuptling Winnetou“ – der nichts mit Karl May zu tun hat… | |
nach einem öffentlichen Aufschrei zurückzog, [2][ist die Aufmerksamkeit | |
größer] und der Karl-May-Szene klar geworden, dass man nicht weitermachen | |
kann wie bisher. Schon seit einigen Jahren wird diskutiert: Dürfen sich | |
Kinder zu Karneval [3][noch als „Indianer“ verkleiden]? Sollten Weiße im | |
Theater und Film Rollen von Schwarzen oder Indigenen verkörpern? Wo beginnt | |
kulturelle Aneignung, und wie entgegnet man ihr? | |
Wer Karl May auf die Bühne bringen will, ist mit diesen Fragen | |
konfrontiert. Dass die Menschen vom „Volk der Apachen“ nicht in Pueblos | |
gelebt haben, weiß Ben Hänchen, 35, der seit Kindesalter [4][bei den | |
Karl-May-Spielen Bischofswerda] dabei ist. Sein Vater Uwe gründete die | |
Spiele 1993 und leitet sie bis heute. [5][In einer MDR-Podcastreihe] ist | |
Ben Hänchen der Frage nachgegangen, ob und wie man Karl May heute noch | |
spielen sollte. Die Verfälschung historischer Gegebenheiten, eine Fort- und | |
Festschreibung von Indianerklischees wirft man dem Erfolgsautor vor, die | |
bis heute in unseren Köpfen wirken. | |
Karl May lebte von 1842 bis 1912 in Sachsen. Er war ein smarter | |
Trivialautor mit Faible für ferne Länder, ein Abenteuerschriftsteller, der | |
selbst ein abenteuerliches Leben hatte, das ihn wegen Betrügereien einige | |
Jahre ins Gefängnis brachte. Später schrieb er für Zeitungen, wo seine | |
Reiseerzählungen zunehmend erfolgreich waren. May ließ seine Leser:innen | |
glauben, er selbst sei Old Shatterhand und habe all diese Abenteuer erlebt. | |
Tatsächlich reiste er erst spät und nur einmal in die USA. | |
Sein krummer Lebenslauf, seine Selbstinszenierung, sein Riecher für | |
exotische Kulissen und der christlich verbrämte Wunsch nach | |
Völkerverständigung, auf der Höhe des deutschen Kolonialismus, machten May | |
schon zu Lebzeiten zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren – mit | |
dauerhaftem Erfolg. Sowohl in der DDR wie in der BRD entstanden populäre | |
Verfilmungen seiner Romane, die Generationen prägten. Und während Mays | |
„Orientgeschichten“ kaum noch gefragt sind, gibt es bis heute an die zwölf | |
Bühnen, die sich Sommer um Sommer Karl Mays „Indianergeschichten“ widmen. | |
Zur bekanntesten, [6][in Bad Segeberg], kamen im vergangenen Jahr 400.000 | |
Menschen, ungeachtet der öffentlichen Debatte. | |
May war ein Autor mit fortschrittlichen, teils fragwürdigen, von Rassismen | |
seiner Zeit durchsetzten Ansichten. Seine Texte sind Fiktion und | |
Kulturgeschichte. Doch auf die Bühne gebracht, entsteht etwas im Hier und | |
Jetzt, die Stücke stellen neue Bezüge her, reproduzieren alte Muster. | |
Menschen verkörpern fiktive Charaktere, ein Bühnenbild situiert sie, | |
Kostüme identifizieren sie – als einer Gruppe, Klasse, Gesellschaft | |
zugehörig. Wer im Falle eines fiktiven Kunstwerks darf darüber entscheiden, | |
was wie gespielt wird: Die Macher? Die Fans? Die Expert.innen? Diejenigen, | |
um die es geht? | |
Ben Hänchen kam in seiner Podcast-Reihe im Sommer 2022 zu dem Schluss: | |
„Weitermachen – aber nicht weiter so“. Für die nächste Probenzeit künd… | |
er Workshops und Beratung durch Angehörige indigener Gruppen Nordamerikas | |
an. Am Tag nach der Abendvorstellung sitzen die Hänchens zum Mittagessen im | |
großen Saloon, wo die neuen Infotafeln zur Geschichte der First Nations | |
Nordamerikas an der Wand hängen. Sie sind einer der | |
Modernisierungsschritte, ausgearbeitet haben sie zwei Volontär.innen des | |
Karl-May-Museums in Radebeul. | |
Uwe Hänchen: „Apachen tragen keine Federn. Deshalb lassen wir sie auch weg. | |
Bei den Präriestämmen ist das zum Beispiel anders. Aber da haben sie oft | |
auch eine rituelle oder spirituelle Bedeutung.“ Ben Hänchen: „Du weißt, | |
Papa, dass diskutiert wird, ob man Federschmuckhaube oder traditionelle | |
Tänze in Zukunft überhaupt noch zeigen sollte.“ Uwe Hänchen: „Da sind wir | |
verschiedener Meinung. In manchen Stücken haben die Tänze eine Funktion. | |
Wir werden uns wieder beraten lassen. Und wenn es heißt: weglassen, lassen | |
wir sie weg.“ | |
Man merkt, dass es Uwe Hänchen schwerer fällt als seinem Sohn, sich von | |
bestimmten Bildern zu lösen. In diesem Jahr ist er 60 geworden, er lebt und | |
arbeitet als Lehrer in Bischofswerda. Als Schulprojekt fing es mit den | |
Karl-May-Spielen nach der Wende an. Zu lesen gab es Mays Romane in der DDR | |
lange nicht, wohl aber Indianerfime der Defa, die für Hänchens Generation | |
so prägend waren wie die Winnetou-Filme mit Pierre Brice in der BRD. Gojko | |
Mitić war der Star der Defa-Filme, er ist heute der Schirmherr der | |
Karl-May-Spiele Bischofswerda. | |
Im Nachhinein betrachtet, sagt Uwe Hänchen, könnte es schon sein, dass die | |
geografische Beschränkung in der DDR eine Rolle spielte für seine | |
Begeisterung für die USA und den sogenannten Wilden Westen. Der Traum von | |
Freiheit, die fehlende Gelegenheit zu reisen, die Sehnsucht nach der | |
Begegnung mit dem Unbekannten. „Die Enge ist mir erst hinterher bewusst | |
geworden.“ | |
Die Karl-May-Spiele sind sein Lebensprojekt. Familienfreundlich, | |
integrativ, niedrigschwellig, wie man heute sagt. Eintrittspreis: 8 Euro | |
für Erwachsene, Kinder die Hälfte. „Wir machen keine große Kunst“, sagt … | |
Hänchen, und sein Vater ergänzt: „Bei uns lernt man, in der Gemeinschaft | |
Verantwortung zu übernehmen. Darum geht es.“ Alle, die sich bewerben, | |
dürfen mitmachen, betonen die Organisatoren. 2018 haben sie kurzfristig die | |
Inszenierung mit Geflüchteten besetzt. Rund 80 Personen umfasst das | |
jährlich neu entstehende Ensemble. In der Morgenvorstellung spielen Kinder, | |
abends Jugendliche und Erwachsene. Es sind drei intensive Wochen mit | |
insgesamt 22 Vorstellungen. | |
„Wir legen den Fokus auf Abenteuer und die humanistische Botschaft Karl | |
Mays“, sagt Ben Hänchen. Sein Vater inszeniert und schreibt jährlich ein | |
neues Textbuch. Neu ist dieses Mal, dass May in einem Prolog und Epilog als | |
Märchenerzähler eingeführt wird – ein Kniff, um die Fiktionalität des | |
Stoffs hervorzuheben. Die Figur Klekih-petra ist nicht mehr „der weiße | |
Vater der Apachen“, „Manitou“ wurde durch den „Großen Geist“ ersetzt, | |
„Howgh“ aus dem Sprechrepertoire verbannt, um nicht glauben zu machen, es | |
gäbe nur eine einzige – infantil wirkende – Indianersprache. Dennoch: „D… | |
Apachen bei uns sehen aus, wie Karl May sie beschrieben hat, nicht wie sie | |
in Wirklichkeit aussahen oder lebten“, sagt Ben Hänchen. „Unser Ansatz ist | |
nicht Authentizität. Das wäre aus meiner Sicht tatsächlich kulturelle | |
Aneignung.“ | |
Sein Vater reiste zum Native American Weekend in die Westernstadt El Dorado | |
in Templin, initiiert von Kendall Old Elk vom Stamm der Apsaalooke (Crow), | |
der dort Tänze seines Volkes zeigte. Mit ihm hat Uwe Hänchen auch das | |
Textbuch „abgeklopft“, Formulierungen geändert oder weggelassen. Offen ist | |
er für neue Erkenntnisse, Änderungen – aber nicht dafür, sein Lebenswerk | |
aufzugeben. „Wenn alles infrage gestellt wird, schmerzt das.“ Neben den | |
Infotafeln liegt in Bischofswerda ein Flyer aus, der die | |
Herkunftsgeschichte und Verwendung des Wortes „Indianer“ erklärt. Warum | |
sollte man es lieber nicht mehr verwenden? Und was kann man stattdessen | |
sagen? Ben Hänchen sagt „Native Americans“, wenn es um die Menschen in den | |
USA geht, Uwe Hänchen findet „First Nations“, wie in Kanada üblich, | |
schöner. Von „Indianern“ sprechen beide, sofern es um das geht, was sie auf | |
der Waldbühne machen: „Indianer spielen“. | |
Frank Usbeck, Amerikanist aus Leipzig mit Schwerpunkt auf den indigenen | |
Kulturen Nordamerikas, sagt: „Die Diskussion ist nicht abgeschlossen und | |
wird es vielleicht nie sein. Im Englischen ist es noch komplizierter, weil | |
man unterscheiden muss zwischen American Indian (Indianer) und Indian | |
(Inder). Außerdem sind rechtliche Fragen an die Bezeichnung gebunden.“ | |
Usbeck spricht von Native Americans, wenn es um die Gruppe geht, und von | |
Indians, Indianern, wenn er das Stereotyp meint. „So lässt sich im | |
Deutschen ohne Anführungszeichen von Indianerbegeisterung sprechen, wenn es | |
um das Konzept, die Idee und nicht um konkrete Personen geht.“ Auch in | |
diesem Text wird dies so gehandhabt. | |
Im vergangenen Jahr schlossen sich die verschiedenen Institutionen der | |
heterogenen Karl-May-Szene – es gibt eine Karl-May-Stiftung, ein | |
Karl-May-Museum, ein Karl-May-Haus, eine Karl-May-Gesellschaft, einen | |
Karl-May-Verlag, diverse Karl-May-Spiele – in [7][der Arbeitsgemeinschaft | |
„Karl May vermitteln“] zusammen. Nicht alle Eingeladenen kamen zum | |
Gründungstreffen. Auf die Nachfrage der taz, ob sie Änderungen an der Art | |
und Weise der Inszenierung vornehmen, verweigerten die Veranstalter der | |
zweitgrößten Karl-May-Spiele im sauerländischen Elspe eine Stellungnahme. | |
Aus Bad Segeberg ging eine ausführliche Antwort ein: „Die Karl-May-Spiele | |
entwickeln sich seit ihrer Gründung im Jahre 1952 stetig weiter“, heißt es | |
darin. „Karl Mays Abenteuer sind fiktive Geschichten – und wir haben auch | |
noch nie behauptet, die Realität abzubilden. (…) Der mitunter geäußerte | |
Vorwurf, bei Karl May würden die tatsächlichen Verhältnisse verschwiegen, | |
stimmt einfach nicht – im Gegenteil: Landraub, Vertreibung, die Zerstörung | |
heiliger Stätten und das rücksichtslose Ausbeuten von Bodenschätzen sind | |
die Themen seiner Romane (…)“ | |
Die deutsche Indianerbegeisterung fing lange vor Karl May an, mit | |
Philosophen der Aufklärung wie Jean-Jacques Rousseau, der im 18. | |
Jahrhundert das Narrativ vom Edlen Wilden vertrat. Die | |
„Lederstrumpf“-Romane von James Fenimore Cooper erschienen in den 1820er | |
Jahren und sehr bald darauf auch erste Übersetzungen ins Deutsche. Karl May | |
wusste gut 70 Jahre später um die Popularität dieser Stoffe und brachte es | |
so zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren. In den USA ist er indes | |
kaum bekannt. | |
Was hält ein Native American von einer Adaption des Stoffs für die Bühne? | |
[8][Kevin Manygoats], 54, ist in der Navajo Nation Reservation in Arizona | |
aufgewachsen. Eins von sieben Kindern und der Einzige seiner Familie, der | |
überhaupt außerhalb von Arizona lebt, wie er bei einem ersten Treffen im | |
Juni in einem Café nahe dem Bahnhof Dresden-Neustadt sagt. Der Vater | |
Eisenbahner, die Mutter Lehrerin. „Sie hat darauf gedrängt, dass wir | |
studieren“, erzählt Manygoats, der seine dunklen Haare in einem Zopf | |
zurückgebunden trägt. Der Chemiker arbeitet in einer Firma, die Medikamente | |
prüft. Während des Studiums lernte er seine spätere Frau kennen, eine | |
Deutsche, mit der er vor 20 Jahren in ihre Heimat zog. Er hat zwei Söhne, | |
mit ihnen spricht er Englisch, seine erste Muttersprache versteht er zwar, | |
spricht sie aber nicht mehr. | |
Manygoats vermisst seine Heimat, mehr als früher, gibt er zu. In Dresden | |
lebt niemand seines Volkes, das eigentlich nicht Navajo heißt – dies war | |
eine Fremdbezeichnung durch die spanischen Kolonisatoren –, sondern Diné, | |
was „das Volk“ bedeutet. „Wir haben eine starke Verbindung zu unserer | |
Vergangenheit“, sagt Manygoats. „Ich fühle die Verpflichtung, Wissen und | |
Informationen über unsere Geschichte und Kultur weiterzugeben, um gegen die | |
ganze Romantisierung und die vielen Indianerklischees anzugehen.“ Seit | |
einigen Jahren gibt er Workshops und hält Vorträge über die rechtliche | |
Diskriminierung seiner Landsleute, berichtet vom „Long Walk“, der brutalen | |
Vertreibung der indigenen Stämme von fruchtbarem Territorium in karge | |
Reservatsgebiete, so auch am Karl-May-Museum, das den Kontakt zu ihm | |
vermittelt hat. Man hat ihn für Ende des Monats nach Bischofswerda zur | |
Premiere eingeladen. „Sie wollen meine Meinung hören“, sagt er. | |
Manygoats ist entspannt, aber klar, was den Umgang mit der Thematik angeht. | |
Wenn sich Kinder als Indianer verkleiden, hat er kein Problem damit, anders | |
bei Erwachsenen, das findet er „problematisch“. Das Gesicht rot schminken | |
sei „eine rote Linie“. Mit den in der DDR entstandenen Hobbyistengruppen, | |
die sich der vermeintlich authentischen Nachahmung des Lebens indigener | |
Stämme verschrieben haben, arbeitet er nicht zusammen. „Die Stämme, die sie | |
repräsentieren, leben schon seit 150 Jahren nicht mehr so. Das hat mit | |
unserer Wirklichkeit nichts zu tun. Wir haben mit so viel Diskriminierung | |
und Rassismus zu kämpfen.“ Was ihn an der hiesigen Karl-May- und | |
Indianerdebatte erstaunt: „Hier sind die Indianer die Guten, in den USA | |
waren wir immer die Bösen.“ | |
Doch auch positive Stereotype sind vor allem eins: stereotyp. Sie | |
verkitschen, verharmlosen, liefern keinen differenzierten Kontext, der zum | |
Verständnis der Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas wichtig wäre – | |
eben, weil sich das Stereotyp zäh und widerborstig hält. | |
„Die positiven Klischees führen dazu, dass die American Natives in | |
Deutschland nicht gesehen werden“, führt Carmen Kwasny, Sprecherin [9][der | |
Native American Association of Germany (NAAoG)], am Telefon aus. „Und wehe, | |
man weicht davon ab!“ Es sei erschreckend, dass bei Kitafesten heute noch | |
„mit kitschigbuntem Federschmuck und wildem Geheul ums Feuer getanzt wird“. | |
Das sei sehr verletzend für viele Natives, die vor dem Hintergrund des | |
Völkermords und der Boarding Schools – bis in die 1970er Jahre hinein war | |
die Ausübung ihrer Religion verboten – ein transgenerationales Trauma mit | |
sich herumtrügen. „Ein großes Problem ist die Vermarktung und Aneignung | |
indigener Spiritualität“, sagt Kwasny weiter. „Sich über die Wünsche der | |
Native Americans hinwegzusetzen, die das nicht wollen, ist auch eine Form | |
von Rassismus.“ | |
Kwasny, 58, eine Deutsche ohne indigene Wurzeln, ist seit mehr als 30 | |
Jahren für ihren Verband aktiv, der in den 70er Jahren der BRD von | |
indigenen GIs und ihren Familien gegründet worden war. Sie ist jung | |
dazugekommen, arbeitete als Pressesprecherin für den Verein. „Ich dachte | |
früher, ich müsste das alles beschützen.“ Zwischendurch habe sie aktiv in | |
Tracht mitgetanzt, heute ein No-go – es gab 2007 einen entsprechenden | |
Beschluss der Organisation, die sich nach Truppenreduzierungen der US-Armee | |
neu orientieren musste. Viele indigene GIs und ihre Familien gingen zurück. | |
Die NAAoG fordert nicht, auf das Wort „Indianer“ zu verzichten. „In den U… | |
gibt es 182 Stammesnationen und Communities, die das Wort Indian in ihren | |
Bezeichnungen tragen“, sagt Kwasny. Anders die Menschen [10][hinter dem | |
Instagram-Account #NativesinGermany], die das Wort gar nicht benutzt sehen | |
möchten. Sie vertreten Indigene aus Nord- und Südamerika. Unter [11][dem | |
Hashtag #DankeKarlMay] werden Rassismus-Erfahrungen Indigener im Alltag | |
gesammelt. Ein Gespräch auf Anfrage der taz kommt nicht zustande, man will | |
die indigene Perspektive nicht marginal in einem Pressebericht | |
wiederfinden. Schwer vorstellbar, dass jemand von #NativesinGermany bei | |
den Hänchens am Mittagstisch im Saloon säße. | |
Karl May und die Indianerfrage ist eine innerdeutsche Debatte, sagt Carmen | |
Kwasny von der NAAoG. Die Entwicklung in den USA sei schon viel weiter | |
fortgeschritten. „Die US-Innenministerin Deb Haaland, selbst eine Native | |
American, hat im November 2021 das Wort ‚Squaw‘ offiziell zu einem | |
abwertenden Begriff erklärt. Mehr als 660 geografische Stätten in den USA | |
werden deshalb umbenannt.“ | |
Kwasny hat den Leuten in Bischofswerda Beratung angeboten. Eine direkte | |
Zusammenarbeit kam nicht zustande. Kwasny wünschte indigene Berater vor Ort | |
– und dass die Inszenierung auf die Namen der Stammesnationen verzichtet. | |
„Wenn es Fiktion ist, warum erfindet man dann keine neuen Namen?“ Ben | |
Hänchen ist da skeptisch. „Das wäre ein ziemlicher Eingriff ins Werk“, sa… | |
er. „Ich setze lieber auf mehr Aufklärung und Kontextualisierung.“ Dem | |
Kontakt zu Kwasny verdanken die Hänchens aber die Verbindung zu Kendall Old | |
Elk aus Templin, dessen Ratschläge ansatzweise in die Inszenierung | |
eingeflossen sind. „Wir wollen ihn weiter konsultieren.“ | |
Ohne Winnetou kein Winnetou-Spektakel. Der Naturalismus der | |
Open-Air-Inszenierungen – mit lebenden Tieren, Felsenbühne oder Sandberg, | |
Lederkleidung mit Fransen – fordert die Veranstalter. Entrümpeln, mit | |
Stereotypen aufräumen, geht nur begrenzt, wenn man das Grundinventar | |
beibehalten und keine Zuschauer.innen verlieren will. „Wir haben | |
Kulturkampf in Sachsen“, sagte Ben Hänchen beim ersten Telefonat. „Das | |
Thema ist sehr heikel. Wir sind im Prozess, auch intern.“ Bisher sei | |
niemand aufgrund der Neuerungen abgesprungen, auch keine Sponsoren. Die | |
politische Atmosphäre ist angespannt in einem Bundesland, wo Gendern an | |
Schulen verboten ist. Die AfD in Bautzen warb mit dem Plakat „Winnetou | |
hätte AfD gewählt“. | |
Der Amerikanist [12][Frank Usbeck], 48, kennt sich nicht nur gut mit den | |
Fallstricken bei der Begriffsbezeichnung von Indigenen aus, er ist auch | |
zuständig für die Staatlichen Ethnografischen Sammlungen Sachsens. An | |
diesem Tag im Juni sitzt er, Brille, stahlblaues Hemd, die ergrauten Haare | |
im Pferdeschwanz, in seinem Büro im Leipziger Grassi-Museum für Völkerkunde | |
und spricht über die Indianerbegeisterung der Deutschen. | |
Während seiner Recherchen ist Usbeck auf ideologische Querverbindungen | |
gestoßen, eine Vereinnahmung des Schicksals der indigenen Völker | |
Nordamerikas durch neurechte Strömungen, wo das Winnetou-AfD-Plakat | |
hervorragend reinpasst: „Sie arbeiten mit dem historischen Vergleich, dass | |
die Pilgerväter, die ersten englischen Einwanderer, sich als religiös | |
Verfolgte ausgegeben hätten, insgeheim aber schon Eroberungspläne für den | |
ganzen nordamerikanischen Kontinent in der Tasche hatten. Und wenn die | |
Indianer die vermeintlichen Flüchtlinge gleich zurückgeschickt hätten, | |
wäre ihnen ihr Schicksal erspart geblieben, dann wären sie jetzt nicht | |
Fremde im eigenen Land.“ Die scheinbare Logik dahinter: „Stoppt die | |
Einwanderung nach Deutschland, sonst landen die Deutschen wie die Indianer | |
in Reservaten.“ | |
In der Migrationsdebatte taucht das Argument seit 2005 wieder verstärkt auf | |
– europaweit. Es gab das Argument jedoch bereits in der Nazizeit, erzählt | |
Usbeck: „Das geht so weit, dass eine obskure Fachdisziplin wie die | |
NS-Rassenseelenkunde behauptete, die Deutschen und die Indianer hätten ein | |
vergleichbar angeborenes Verhältnis zur Natur, beide wären Waldmenschen und | |
kein Wüstenvolk wie die Juden.“ Usbeck hat für seine Forschung unter | |
anderem den Völkischen Beobachter ausgewertet. | |
Die Frage, der sich Usbeck als Kurator der ethnologischen Abteilung eines | |
Völkerkundemuseums stellen muss, ist ähnlich wie die der Theaterleute: | |
Inwiefern reproduziert man Stereotype, indem man alte Lebenswelten | |
darstellt? „Wir Museumsleute haben es leichter“, sagt Usbeck, „weil es im | |
Museum per se darum geht, andere Kulturen zu erklären. Wir können auf | |
Quellenmaterial zurückgreifen. Die Stücke für die Bühne sind nicht darauf | |
angelegt, fremde Kulturen zu erklären, sondern wollen Abenteuergeschichten | |
erzählen.“ | |
Einer Region oder vielmehr einem untergegangenen Land soll mit einem Raum | |
im Grassi besondere Beachtung geschenkt werden: der Indianistik, | |
Völkerkunde und Geschichte des eigenen Hauses in der DDR-Zeit. Um den | |
Antiamerikanismus der SED-Regierung zu stärken, lud man in den 1970ern | |
Vertreter der Red-Power-Bewegung zu den Weltjugendfestspielen ein, schickte | |
Soli-Pakete in die USA und machte Indianerstoffe populär. Usbeck holt ein | |
Indianer-Lehrquartett herbei, das Anfang der 1980er für die Bildungsarbeit | |
entwickelt worden war. „Eine richtige Fankultur“ entstand damals, erzählt | |
er, frühe DDR-Umweltgruppen und Amateurethnologen griffen das Thema auf. | |
„Das macht das Indianerphänomen so langlebig“, sagt Usbeck, „von der | |
Wandervogel-Bewegung über Nazis, Hippies, Antifa bis zu New Agern, alle | |
fanden etwas für sich Nützliches und griffen es heraus.“ So sind im Laufe | |
der Zeit viele, sich überlagernde Projektionsflächen entstanden. | |
Zum DDR-Erbe gehört auch das Karl-May-Museum in Radebeul bei Dresden. Von | |
1956 bis 1984 hieß es schlicht „Indianer-Museum“. Mays Bücher galten in d… | |
DDR zunächst als bourgeois und nationalistisch, sie wurden erst Anfang der | |
1980er neu aufgelegt. Robin Leipold leitet seit drei Jahren das Museum, das | |
eine hundertprozentige Tochter der Karl-May-Stiftung ist. Er führt durch | |
den großen Garten. Im ehemaligen Wohnhaus Karl Mays, der „Villa | |
Shatterhand“, sind dessen private Räume mit Arbeitszimmer und seiner | |
umfangreichen wissenschaftlichen Bibliothek zu besichtigen. | |
Daraus habe der Autor vor allem die Landschaftsbeschreibungen gezogen, | |
erklärt Leipold. „May war kein Ethnologe, er hat Abenteuergeschichten für | |
Zeitungen geschrieben. Er hat das Stereotyp Indianer nicht erfunden, | |
sondern weiterbenutzt und bedient.“ Leipold, studierter | |
Kulturwissenschaftler, steht für einen Generationswechsel im Museum. Wieder | |
jemand, der einen – diesmal langen, dünnen – Zopf trägt, den Leipold jeden | |
Morgen neu flicht. Ein Relikt seiner Jugendzeit. | |
„Wir verteidigen Karl May durchaus“, sagt Leipold, „aber es gibt viel, was | |
man hinterfragen muss: die eurozentristische Perspektive, das | |
Christlich-Missionarische, manche Völker kommen bei ihm sehr schlecht | |
weg.“ Trotzdem: „Er hat modern gedacht. Wir müssen ihn in seiner Zeit | |
kontextualisieren.“ | |
Leipold obliegt nun die Aufgabe, das noch aus den 1960er Jahren stammende | |
Ausstellungskonzept zu überarbeiten und Provenienzforschung für die | |
ethnografische Sammlung zu betreiben. Die Dioramen und Figuren stammen | |
teilweise noch aus den 1930er Jahren. Im Garten stehen zwei nachempfundene | |
Totempfähle, „aus gutem alten DDR-Kunstharz“, bunt angemalt. „Natürlich | |
sind die problematisch“, sagt Leipold, „aber sie haben Bestandsschutz. Wir | |
müssen damit umgehen.“ Das Privatmuseum kämpft mit zurückgehenden | |
Besucherzahlen. | |
Im Garten befindet sich eine Gruppe klischeehafter Indianerfiguren, die bis | |
vor ein paar Jahren als Deko genutzt wurden. „Wir haben überlegt, was damit | |
geschehen soll“, erzählt Leipold. „Wir entschieden uns, die Figuren nicht | |
zu entsorgen, sondern sie zu einer Protestgruppe zusammenzustellen.“ Eine | |
trägt ein Schild um den Hals, darauf steht: „Change the Mascot!“ – Ände… | |
das Maskottchen! „Unsere Form der Intervention, um mit dem Alten zu brechen | |
und aktuelle Bezüge herzustellen“, sagt Leipold. Das Motto geht auf | |
Protestkampagnen Indigener gegen den Missbrauch ihrer kulturellen Identität | |
durch US-amerikanische Sportteams wie die Cleveland Indians oder Washington | |
Redskins zurück. Beide Teams haben sich inzwischen umbenannt. | |
Leipold hat im November 2022 den Arbeitskreis „Karl May vermitteln“ | |
mitbegründet. Mit dem neuen Info-Flyer klappern er und seine Leute diesen | |
Sommer alle Karl-May-Spiele ab, um ins Gespräch zu kommen. Auch die in | |
Bischofswerda. Man ist zufrieden, geht freundlich miteinander um. Ben | |
Hänchen und Leipold sind eine Generation. Sie spüren die Notwendigkeit, | |
etwas zu verändern, aber wollen Karl May nicht aufgeben. Schließlich ist er | |
Teil ihres Lebens, ihres Jobs. Ihn nicht mehr auf die Bühne bringen? Ben | |
Hänchen sagt: „Man sollte die integrative Kraft unseres Projekts nicht | |
unterschätzen.“ Und Uwe Hänchen: „Ich könnte mir vorstellen, dass die | |
Truppe dann auseinanderbricht. Und der völkerverständigende Ansatz von May | |
lässt sich mit Ritterspielen nicht machen.“ | |
Auf ihre Einladung hat Kevin Manygoats die Premiere in Bischofswerda | |
besucht. Als Ehrengast saß er in einer Reihe mit Ministerpräsident Michael | |
Kretschmer. Wie ihm „Winnetou I“ gefallen hat? „Nice“, sagt er. „Die … | |
waren mit dem Herzen dabei.“ Auch dass alle Generationen mitmachen konnten, | |
hat ihm gefallen. Und die Kostüme, haben sie ihn gestört? „It’s a play. D… | |
ist Teil der Kunstfreiheit.“ Die angedeutete Verbundenheit mit der Natur | |
sei vielleicht etwas klischeehaft, sagt er, aber es stimme ja: Seine | |
Vorfahren hätten mehr davon verstanden. | |
Heute kämpfen seine Landsleute vor allem mit den Folgen der | |
Umweltverschmutzung durch Kohlekraftwerke, die eins nach dem anderen | |
schließen, mit dem anstehenden Strukturwandel. „Die meisten meiner | |
Landsleute haben größere Probleme“, sagt er, „als darüber zu diskutieren, | |
ob man das Wort Indianer verwenden darf oder nicht.“ Aber, gibt Manygoats | |
zu bedenken, „es gibt in dieser Frage keine einheitliche Stimme und | |
Meinung. Ich kann nur für mich sprechen, für meine Gruppe.“ | |
Das Karl-May-Museum hat eine Broschüre für indigene Besucher aus dem In- | |
und Ausland verfasst. Am Ende stehen die Fragen: „Was ist euch wichtig? Wo | |
sind die roten Linien?“ | |
Dies deutet die Richtung an: Fragen stellen, sich beraten lassen. Das heißt | |
aber, dem Rat auch zu folgen. Fronten und Empfindlichkeiten klären. Das | |
Karl-May-Museum und die kleinste der Karl-May-Bühnen haben Bereitschaft | |
signalisiert. Aber reicht die Bereitschaft, Karl May zu entrümpeln, um | |
seine Geschichten mit Respekt für das Schicksal der First Nations auf die | |
Bühne und unter die Leute zu bringen? | |
Es reicht nicht, es ist ein Anfang. | |
6 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Aufregung-um-Winnetou-Buch/!5873631 | |
[2] /Debatte-ueber-Winnetou/!5874868 | |
[3] /Verkleidungen-zum-Karneval/!5658751 | |
[4] https://www.karl-may-spiele-bischofswerda.de/ | |
[5] https://www.ardaudiothek.de/sendung/winnetou-ist-kein-apache/10577467/ | |
[6] /Schauspielerinnen-in-Indianerkostuemen/!5874546 | |
[7] https://www.karl-may-museum.de/wp-content/uploads/2023/06/AG-KM-vermitteln-… | |
[8] https://www.karl-may-museum.de/de/veranstaltung/die-kultur-der-navajo-mit-k… | |
[9] http://www.naaog.de/Deutsch-German/Ueber-uns/ | |
[10] https://www.instagram.com/natives_in_germany/ | |
[11] https://www.instagram.com/explore/tags/dankekarlmay/ | |
[12] https://forschung.skd.museum/wissenschaftler/detail/frank-usbeck/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Karl May an der Berliner Volksbühne: Assoziationen zum Wilden Westen | |
Enis Maci und Mazlum Nergiz durchforsten das Werk Karl Mays. Sie finden | |
viele Stereotype. Toll immerhin, wie Martin Wuttke dazu raucht. | |
Musiker über kulturelle Aneignung: „Da kommt was auf einen zugerollt“ | |
Tom Fronza spielt Didgeridoo. Linke werfen ihm deswegen kulturelle | |
Aneignung vor. Jetzt fühlt er sich von Rechten instrumentalisiert. | |
Debatte über „Winnetou“: Aus der Zeit gefallen | |
Auch im Streit über „Winnetou“ gilt: Es gibt kein Recht auf rassistischen | |
Schrott. Aber wichtiger als Verbannungen sind Kompetenzen im Umgang damit. | |
Schauspieler*innen in Indianerkostümen: Leise rieselt der Kalk | |
Die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg inszenieren einen Wilden Westen, den es | |
nie gab. Kann man das noch machen? | |
Aufregung um „Winnetou“-Buch: Man muss loslassen können | |
Die Welt von Karl May gehört für viele zu lieb gewonnenen | |
Kindheitserinnerungen. Das rechtfertigt aber nicht, gegenüber Unrecht und | |
Rassismus blind zu sein. |