| # taz.de -- Saufen in der Stadt: Eine Stadt trinkt | |
| > Getrunken wird auf der Straße, in Eckkneipen, an langen dunklen Tresen. | |
| > Nur alleine trinken, das will auch in Berlin keiner. | |
| Bild: Passt immer: Bier und Zigarette | |
| Berlin taz | Der Ventilator dreht sich langsam an der Decke, ein Mann steht | |
| am Spielautomaten und der Rauch seiner Zigarette zieht in einer geraden | |
| Linie nach oben. An der Wand hängt ein Herthaschal und alte Fotos von | |
| Fußballmannschaften. Die meisten Gäste haben eine charakteristisch bauchige | |
| Tulpe vor sich, ein Bierglas mit dem Logo der Berliner Brauerei Schultheiss | |
| drauf. Eine Schulle. So auch meine Begleitung und ich. | |
| Es ist Mittwochnacht, halb eins, in der Kupferkanne in Schöneberg. Wir | |
| trinken, weil meine Freundin Liebeskummer hat. Zuerst einige Gläser Wein | |
| auf dem Balkon, dann zog es uns noch raus, auf ein Bier hier. Wir gehen um | |
| halb zwei, der Wirt Necip Çakir wird erst um vier Uhr den Laden | |
| dichtmachen. | |
| Die Kupferkanne ist einer der Orte, wie es sie in jedem Berliner Bezirk | |
| gibt: eine Kneipe. Inselnest, Gießkanne, Zur Quelle, Warthe-Eck und wie sie | |
| alle heißen. Einige Menschen kommen jeden Tag, Stammgäste, andere landen | |
| per Zufall für eine Nacht dort. „Die Leute trinken immer. Kneipen sind das | |
| Herz der Stadt“, sagt Kupferkannen-Wirt Çakir. | |
| Deswegen beginnt dieser Text auch dort. Denn es geht um die Frage: Wie | |
| steht es heute bei der jungen Generation um das Saufen in Berlin? Gibt es | |
| eine Trinkkultur im Jahr 2022 in der Großstadt? | |
| In der Kneipe schon. Das Bier ist mehr oder weniger günstig, um die drei | |
| Euro, das bedeutet Niedrigschwelligkeit. Hier treffen potenziell | |
| verschiedenste Leute aufeinander. Eine Kneipe hat zugleich etwas | |
| Beständiges, Interieur und Atmosphäre sind widerstandsfähig gegen Trends. | |
| Die Berliner Special Edition der Kneipe ist die 24-Stunden-Kneipe, wie das | |
| Urbaneck in Kreuzberg oder der Hecht in Charlottenburg. Sitzt man da um 6 | |
| Uhr morgens, denkt man manchmal: Vor 50 Jahren war das nicht anders. Man | |
| wird zurückgeworfen auf die essenzielle Funktion dieses Ortes – Alkohol | |
| trinken. | |
| ## Konservativ und langweilig | |
| Hat solch ein Ort noch Zukunft? Schließlich hört man immer wieder, die | |
| Jugend sei konservativ und langweilig geworden, denke nur noch an Fitness | |
| und einen gesunden Lifestyle. Das zeigt sich sogar in der Statistik (Stand | |
| 2018): Von den jungen Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren [1][trinken | |
| 33,4 Prozent regelmäßig] – was nicht wenig ist, aber immer noch weniger als | |
| 2004 (da waren es 43,6 Prozent). | |
| Auch Binge-Drinking unter Jugendlichen hat abgenommen. Das ist erfreulich. | |
| Alkohol ist eine Droge, gesundheitlich und sozial genauso gefährlich wie | |
| illegale Drogen, oft verharmlost. Auch in meinem Umfeld, studierende und | |
| berufseinsteigende Mittzwanziger, die eher mehr als weniger am Berliner | |
| Nachtleben teilhaben. | |
| Da trinken die meisten zu viel, auch ich. Das zeigt eine Umfrage, die ich | |
| für diesen Text auf meinem Instagram-Account starte: Wie oft trinkt ihr | |
| Alkohol, frage ich da. Rund hundert Freund*innen und Bekannte antworten. | |
| 72 Prozent davon trinken häufiger als zweimal die Woche. Davon trinken | |
| wiederum 80 Prozent im Schnitt jeden zweiten Tag. Das deckt sich ungefähr | |
| mit dem, was ich bei mir selbst beobachte: Ab Mittwoch gibt es bis zum | |
| Wochenende Alkohol, dann Sonntag bis Mittwoch eher keinen. Das | |
| Anti-Liebeskummer-Trinken in der Kneipe zum Beispiel war ein Mittwoch. | |
| ## Schließlich ist Frühling | |
| Am nächsten Abend, Donnerstag (oder auch: kleiner Freitag), bin ich wieder | |
| unterwegs. Schließlich ist Frühling, nach dem berüchtigten Berliner Winter | |
| ist jeder Sonnentag ein Anlass zum Anstoßen. Es geht nach Mitte, weil dort | |
| zwei Nichtberliner Freund*innen von mir wohnen. Auch ein Klischee. Wir | |
| gehen in die [2][Weinerei am Weinbergspark], wo man sich früher Wein aus | |
| der Flasche einschenken konnte und dann auf Vertrauensbasis zahlte. Das ist | |
| vorbei (noch so eine Binse, dass früher alles besser war). Also kaufen wir | |
| eine Flasche Weißwein und sitzen in alten Stühlen, die nicht | |
| zusammenpassen, auf dem Gehweg. | |
| Die Nacht ist lau, das Publikum Mitte zwanzig bis Mitte dreißig, sehr | |
| gepflegt, nicht über-hip. Das hier ist mein Guckfenster in die | |
| Berlin-Mitte-Start-up-Welt: Mein einer Freund arbeitet in einem Start-up | |
| und trinkt an diesem Tag seit 16 Uhr Bier, weil im Büro kollektiv die | |
| Balkonmöbel für die Terrasse eingeweiht wurden. Sowas gibts tatsächlich | |
| oft, sagt er: „Ich kenne kein Start-up-Gebäude, das keinen Bierkühlschrank | |
| hat.“ | |
| Später bin ich mit einem anderen Freund verabredet, über den ich wiederum | |
| in die Kunstwelt blicken kann. Wir laufen die Potsdamer Straße in | |
| Schöneberg entlang, als wir eine Party über einem Woolworth sehen. Eine | |
| Ausstellungseröffnung in einer riesigen leerstehenden Halle mit Blick auf | |
| den Sexshop LSD. Hier sind auch mal Leute über vierzig am Tanzen und | |
| Trinken. Sie strahlen eine zeitlose Coolness aus. Aber man muss im Stehen | |
| trinken. Meine Begleitung kennt die Situation. Er sagt: „Ein Drink auf | |
| einem Opening tut gut, weil er dich auflockert. Aber du kannst ihn nie | |
| richtig genießen, gerade weil du ihn so dringend brauchst.“ | |
| Also ab in die [3][Victoria Bar ein paar Hausnummern weiter], wo die Drinks | |
| teuer und stark sind. Ein langer, dunkler Tresen ist das Herz des Raumes, | |
| an den Wänden hängt wechselnde zeitgenössische Kunst und die | |
| Barkeeper*innen tragen Hemd und Krawatte. Heute tummeln sich vor der | |
| Tür ein paar um die zwanzigjährige Fashion-Kids, es ist gut was los und | |
| tatsächlich: Es sei voll, wir müssten warten, sagt ein Türsteher | |
| unfreundlich und macht den gepflegten Cocktail zum [4][Berghain-Erlebnis]. | |
| Womit ich an Friedrichshain-Kreuzberg denken muss, Heimat nicht nur des | |
| berühmten Clubs am Ostbahnhof, sondern vieler anderer guter Clubs. In die | |
| Richtung zieht es uns an diesem Donnerstag nicht mehr, aber in den | |
| vergangenen Jahren habe ich mir genug Nächte um die Ohren geschlagen, um | |
| allgemein sagen zu können: Drinks in Berliner Technoclubs sind was | |
| Interessantes. Denn hier sind sie nur eines von vielen Rauschmitteln, die | |
| Menschen sich reinfahren. In Kombination mit illegalen Substanzen wie GHB | |
| oder Ketamin wird Alkohol sogar lebensgefährlich. Trotzdem bleibt er der | |
| Grundstock der Nacht. | |
| Die meisten Leute in den Clubs trinken Bier. Mein Favorit, um in einen | |
| Partyabend zu starten, ist hingegen ein Long Island Ice Tea. Er schmeckt | |
| süß und, wenn man Glück hat, nicht zu sehr nach Alkohol, hat es aber | |
| faustdick hinter den Ohren. Davon nur einen oder zwei, dann Bier oder Sekt. | |
| Dazwischen sind Shots prima, weil sie in Berlin nicht wie in anderen | |
| Städten sechs Euro kosten, man somit auch mal einen ausgeben kann und sie | |
| wunderbar gesellig sind. | |
| Denn Trinken, das hat mir die Recherche für diesen Text gezeigt, ist vor | |
| allem ein soziales Ereignis. Mit Freund*innen, Mitbewohner*innen, | |
| Kolleg*innen. Auch in meiner Instagram-Umfrage gaben das viele an. Alleine | |
| Alkohol zu konsumieren, ist die unsichtbare Grenze, die keiner | |
| überschreiten will. | |
| In großen Gruppen aber werden sie hemmungslos: Vergangenen Sommer trafen | |
| sich in Berliner Parks massenweise Jugendliche und junge Erwachsene zum | |
| Saufen. Auch das [5][guckte ich mir für die taz an], unter anderem im | |
| Mauerpark in Prenzlauer Berg. Der Reiz war schnell klar: Dort lernt man so | |
| schnell wie nirgends sonst neue Leute kennen. Ein „Warum seid ihr hier?“, | |
| und schon darf man mittrinken und hat Instagram-Kontakte ausgetauscht. | |
| Neben der Crowd ist das Geld einer der entscheidenden Faktoren. Ein Bier im | |
| Discounter kostet 69 Cent, im Park zu sitzen ist gratis. | |
| Die Alternative dazu ist der Späti, [6][eine berlinweite Institution] wie | |
| die Kneipe, nur draußen. Ein Tisch, Biere und ein paar Freund*innen, mehr | |
| braucht es nicht. Ein Glück, dass die Saison dafür wieder begonnen hat. | |
| 21 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bzga.de/presse/pressemitteilungen/2019-05-08-ruecklaeufiger-alk… | |
| [2] https://www.weinerei.com/ | |
| [3] https://www.victoriabar.de/welcome | |
| [4] /Berghain/!t5013364 | |
| [5] /Partys-in-Parks-in-Berlin/!5794021 | |
| [6] /Spaeti/!t5019850 | |
| ## AUTOREN | |
| Cristina Plett | |
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