# taz.de -- Traditionspflege beim Schützenfest: Reine Männersache | |
> An der Schützengilde geht in Wildeshausen nichts vorbei. Die Rollen sind | |
> klar: Männer schießen, Frauen schauen zu. Weil die Gilde keine Frauen | |
> zulässt. | |
Bild: Schützenfest in Wildeshausen | |
Ja, alt ist unser Wildeshausen, / Ja, alt ist unser Schützenfest, / Drum | |
lassen wir es uns nicht rauben, / Wir halten treu am Alten fest! | |
Sophie kneift die Augen zusammen, verzieht den Mund, hält Daumen und | |
Zeigefinger vors Auge und zielt über den hohen Stehtisch. „Peng!“, ruft | |
sie. „Ja! Ich möchte auch peng, peng machen.“ Sie grinst – jetzt und hier | |
an der Wurstbude am Markt hat die geschätzt Neunjährige nur Lust, | |
herumzualbern, sie wartet auf Pommes und darauf, dass dieser Tag an Fahrt | |
gewinnt, und oh, gewiss, das wird er noch. Wir sind in Wildeshausen, und es | |
ist Pfingsten und: Pfingsten ward fiert! Also: Pfingsten wird gefeiert. | |
Ihr Vater wird später durch die Stadt ziehen, mit Frack und Zylinder und | |
Gewehr und mit 3.000 anderen Männern, und sie und ihre Mutter und ihr | |
kleiner Bruder werden am Straßenrand stehen und winken, und wenn Sophie | |
noch fünf Jahre wartet, dann kann sie vielleicht auch ihrem kleinen Bruder | |
zuwinken, wenn der loszieht, zum Kinderschützenfest, um den Vogel | |
abzuschießen, den Papagoy, wie er hier heißt. | |
Oder: Wer weiß! Vielleicht wird Sophie sogar selbst mal schießen dürfen. | |
Vielleicht werden in den nächsten paar Jahren in der Wildeshauser Gilde die | |
Statuten geändert. Nein, das ist zu unwahrscheinlich, aber vielleicht, | |
möglich wär’s, wird zumindest die Geschäftsordnung geändert und vielleich… | |
warum denn nicht, passiert das, bevor Sophie 14 ist, und dann, dann könnte | |
sie wirklich noch selbst mitschießen beim Kinderschützenfest. Als Mädchen. | |
Es wäre eine Revolution. | |
623 Jahre gibt es die Schützengilde im niedersächsischen Wildeshausen jetzt | |
– wahrscheinlich sogar noch viel länger. Entstanden ist sie wohl aus einer | |
Brüderschaft der 10.000 Ritter: Um die Stadtrechte zu behalten, musste | |
Wildeshausen dem Erzbistum Bremen bewaffnete Leute zur Verfügung stellen. | |
Der Zweck der Gilde heute, laut ihrer eigenen Statuten: die Heimatpflege. | |
Die Pflege des Brauchtums. Die Pflege des Vogelschießens. All das | |
kulminiert im Gildefest: Eine ganze Woche lang wird jedes Jahr ab | |
Pfingstsamstag in Wildeshausen aufmarschiert, Rekruten werden verpflichtet | |
und Offiziere geehrt, ein König wird ausgeschossen, es wird getanzt und | |
getrunken und an die Kirchenmauer gepinkelt. Das alles „in traditioneller | |
Weise unter Wahrung der alten Sitten und Gebräuche“, so wie es in den | |
Statuten steht. Und das heißt vor allem: ohne Frauen in der Gilde. | |
Zumindest ein bisschen was daran hätten einige Menschen aus Wildeshausen | |
[1][ganz gern geändert] – wenn schon nicht für Erwachsene, so doch für | |
Kinder. Die „gleichberechtigte Teilnahme von Mädchen am Kinderschützenfest�… | |
fordert die Initiative [2][„Gilde für alle“] über eine Petition auf der | |
Plattform „We act“ von Campact. Seit Anfang April sind online über 1.400 | |
Stimmen zusammengekommen. | |
Aktuell dürfen Jungs zwischen 10 und 14 auf dem Kinderschützenfest am | |
Samstag nach Pfingsten beim Schießen auf den „Papagoy“ den Kinderkönig | |
küren. Mädchen dagegen sind nur als „Ehrendamen“ mit von der Partie: Mit | |
weißem Kleid und weißem Schirm begleiten sie den Kinderkönig des Vorjahres | |
zum Festplatz. | |
Ändern wollten das zunächst vier Oberstufenschüler*innen: 2021 traten sie | |
mit dem Gildevorstand zusammen und fragten, ob nicht in Zukunft auch | |
Mädchen mitschießen dürften beim Schützenfest. Man hörte sie an, ging | |
auseinander, dann passierte – nichts. Erst Ende 2023 versuchten es die vier | |
mit einem neuen Anlauf – dieses Mal mit etwas Öffentlichkeit durch lokale | |
Berichterstattung. Gespräche gab es – aber die Gilde verschob das Anliegen | |
von General- zu Offiziersversammlung und wieder zurück. | |
„Überall will man das Alte erhalten und gibt dafür viel Geld aus“, sagt | |
Oberst Friedrich Ahlers, der Vorstand des Schützenvereins, am Telefon. | |
„Denkmalschutz zum Beispiel. Und hier haben wir jetzt etwas, was seit | |
Jahrhunderten in fast gleicher Form gefeiert wird, und das will man ändern. | |
Da sträuben sich mir die Nackenhaare. Da bin ich nicht für zu haben.“ | |
Immerhin: Mit den Abiturientinnen sei man „im Gespräch“, da werde es sehr | |
konstruktiv weitergehen. Eine Arbeitsgruppe soll gegründet werden, | |
ergebnisoffen. „Ich denke, die Öffentlichkeit war am Ende notwendig“, so | |
Emma Beckmann aus der Gruppe der vier Abiturientinnen. „Vorher ist wenig | |
passiert“ | |
„Müssen Frauen und Mädchen bei dem Rumgeknalle echt mitmachen? Ignoriert | |
die Veranstaltungen möglichst.“ (Leserbrief) | |
Gut 20.000 Einwohner*innen hat Wildeshausen, es gibt einen kleinen | |
Brunnen in der Innenstadt, ein paar Gaststätten, ein paar historische | |
Gebäude. Ein Antrag der Grünen auf probeweise Einrichtung einer | |
Fußgängerzone wurde im Rat gerade abgeschmettert: Der Bürgermeister hatte | |
„einen nicht reparierbaren Schaden für das Gefüge der Innenstadt“ | |
prognostiziert. Heute ist die kleine Innenstadt trotzdem autofrei – es ist | |
Pfingsten. Ganz genau genommen ist Pfingsten schon vorbei, es ist ja schon | |
Dienstag. Aber die Buchhandlung hat geschlossen. Spiel- und Haushaltswaren | |
Schnittker ebenfalls. Mode Arlinghaus, „tredy fashion“, ein Schuhgeschäft, | |
sogar der Drogeriemarkt hat zu. | |
An den verschlossenen Türen der Läden steht keine Begründung, aber in | |
Wildeshausen weiß eben jeder, was die Stunde geschlagen hat: Das ganze Jahr | |
über hat die Uhr am Westertor die Tage heruntergezählt und jetzt, jetzt ist | |
Gildefest. Egal, dass im Rest der Republik am Dienstag wieder gearbeitet | |
wird, hier gibt es bestenfalls Notbesetzung. Wildeshausen macht seine | |
eigenen Regeln. | |
Organisiert in der Gilde sind 3.700 Schützen. Nicht alle von ihnen sind | |
Wildeshauser: Viele, die einmal Mitglied geworden sind, bleiben der Gilde | |
ewig treu und kommen alljährlich zum Gildefest zurück in die Stadt. | |
„Das Kinderschützenfest war eine unserer ersten Partys“, erinnert sich | |
Hendrik Boldt. In der späteren Jugend dann gründen die Jungs ihre | |
Gildeclubs, die oft über Jahrzehnte Bestand haben und sozialen Zusammenhalt | |
bieten können. „Men in Black“ heißen die oder „Gildeholiker“, „Pulp | |
Pfingsten“ oder „Die Chronisch Unterhopften“. | |
„In meinem Freundeskreis wollten plötzlich manche durchsetzen, dass wir uns | |
auch außerhalb des Gildefests als Club treffen“ – ohne Frauen. „Die | |
Abgrenzung zog sich durch ganze Freundeskreise, die gelebte Kultur drum | |
herum ändert sich“, sagt Boldt. Der Endzwanziger ist noch immer | |
Gildemitglied, gehört aber auch zur Initiative „Gilde für alle“, die sich | |
für eine Öffnung einsetzt. Über Pfingsten haben sie Bänder verteilt, | |
„Kinderschützenfest für alle“ steht drauf. Ein paar Dutzend Schützen tra… | |
sie beim Aufmarsch am Zylinder. Unterschriften gesammelt haben sie auch | |
noch mal vor Ort. Eine der Seiten mit Unterschriften und Klemmbrett wurde | |
ihnen entrissen, von zwei jungen Schützen. „Wir haben Anzeige gestellt“, so | |
Boldt. Und im Dunkeln lief ein Mann in Offiziersuniform an ihnen vorbei, | |
ein Würdenträger der Gilde also. „Für die Aktion kriegt ihr richtig auf | |
den Sack“, soll er gesagt haben. „Wir sehen das schon als Drohung“, so | |
Boldt. | |
Es ist mir schleierhaft, warum Menschen diese Trachtvereine mit | |
Schießleidenschaft umbedingt noch reformieren wollen. Tut der Welt doch | |
einfach ’nen Gefallen und lasst diese Vereine mit ihren Mitgliedern auf | |
natürlichen Weg das Zeitliche segnen. (Leserbrief) | |
Pfingstmontag, 11 Kilometer von Wildeshausen entfernt: Die elfjährige Tiana | |
Hofmann schießt beim Kinderschützenfest in Harpstedt am besten von allen | |
und wird Kinderkönigin. Die Königswürde übernimmt sie von Hanna Bokelmann, | |
der Vorjahressiegerin. | |
55 Kilometer entfernt, in Neuenkirchen-Vörden, wird an diesem Tag Stefan | |
Ruhr Schützenkönig der Erwachsenen. Er übernimmt den Titel von Königin | |
Manuela Stahl, die 2023 einen rein weiblichen Hofstaat in Vörden eingeführt | |
hatte. | |
Viele Schützenvereine haben erst in den vergangenen 10 Jahren Frauen in | |
ihren Reihen akzeptiert. [3][Abwehrkämpfe gab es bei vielen], oft waren | |
mehrere Anläufe nötig. | |
Eine Frau aus dem nahen Visbek in ihrer roten Uniform steht am Bierstand | |
und winkt ab: Sie glaubt nicht, dass Wildeshausen sich bald öffnet. Das | |
Gildefest hat sie mit ihrem Musikverein musikalisch begleitet, sie ist bei | |
sich im Dorf aber auch im Schützenverein. „Denen hier geht’s noch zu gut�… | |
sagt sie. Die meisten Vereine würden sich erst bewegen, wenn es | |
Nachwuchsprobleme gibt, weil keine Männer mehr mitmachen wollten. Am | |
Pfingstdienstag in Wildeshausen wurden 86 neue Rekruten verpflichtet, viele | |
gerade volljährig, ein paar in ihren Zwanzigern, wenige älter. „Das gehört | |
einfach dazu in Wildeshausen“, werden sie von der Lokalzeitung zitiert. Die | |
Gilde hat im Februar 2023 3.724 Mitglieder gezählt: Rekord. | |
„Es gibt Leute von außerhalb, die sagen: Das ist Quatsch, lasst die Frauen | |
da mitschießen und gut ist“, sagt Oberst Friedrich Ahlers beim | |
Telefongespräch mit der taz. „Aber wenn Sie Wildeshauser sind, wenn Sie das | |
alles mitgemacht haben, dann sehen Sie das anders.“ | |
„Die Gilde ist die Stadt. Und die Stadt ist die Gilde“ (Statuten der | |
Schützengilde) | |
Der Bürgermeister von Wildeshausen, so sehen es die Statuten vor, ist immer | |
auch General der Gilde und damit vor dem Oberst der erste Repräsentant des | |
Vereins. „Natürlich muss er Mitglied sein“, sagt Oberst Ahlers. „Aber al… | |
Kandidaten, an die ich mich erinnere, waren Mitglied.“ | |
Und was, wenn nun eine Frau Bürgermeisterin würde, so wie es zweimal fast | |
passiert wäre? „Da wird ein Problem herbeigeredet. Wir haben unsere Satzung | |
entsprechend geändert. Dann würde eben ihr Stellvertreter General“, erklärt | |
Ahlers. | |
Heute sind von 36 Ratsmitgliedern 27 Männer. Der General und Bürgermeister | |
ist Jens Kuraschinski, 51 Jahre alt, Verwaltungsfachwirt, parteilos. | |
Was er davon hält, dass Mädchen mitschießen können dürften? Er halte den | |
„Ansatz des gemeinsamen Dialoges“ für gut und richtig, lässt er über sei… | |
Pressestelle mitteilen. Ansonsten sei „die Gilde ein eingetragener Verein | |
im Sinne des BGB, der seine Angelegenheiten autonom bzw. eigenständig | |
regelt – was Herr Kuraschinski natürlich respektiert“, heißt es weiter. | |
Der Schützenplatz wirkt bescheiden für den ganzen Rums, der um die Sache | |
gemacht wird. Hohe Bäume stehen rund um den Festplatz und spenden Schatten. | |
Ein Schießstand, zum Königsschießen auf den Papagoy. Ein Schießstand in | |
Kirmesmanier für alle anderen, mit kleinen Sternen, die abgeschossen werden | |
sollen. Ein eher schlecht besuchtes Kinderkarussell, ein Glücksrad. | |
Wurstbude, Softeisstand, Bierzelte. | |
Nun, am späten Nachmittag des Hauptfesttages, nach Ausmarsch und Ehrungen, | |
sind nur noch etwa ein Drittel der Besucher*innen Schützen. Mit all den | |
Zylindern und Fräcken sieht die Festwiese trotzdem noch aus wie in einer | |
Buddenbrooks-Verfilmung. | |
Irgendwelche Blumen haben alle an ihrem Gewehr, am Zaun steht ein Gewehr, | |
auf dem eine Salatgurke steckt. Spaßige Leute sind hier offenbar unterwegs, | |
Schützen, die das Militärische nicht allzu ernst nehmen, eine Gruppe so | |
Anfang, Mitte 30. „Sollen die Frauen doch ihre eigene Gilde gründen“, meint | |
einer von ihnen, nein, er möchte nicht sagen, wie er heißt. „In 600 Jahren | |
ist die dann auch 600 Jahre alt.“ | |
„Wir können die Tradition nicht umwerfen, nur weil die Dinge gerade | |
gesellschaftlich so sind“, sagt sein Freund geschichtsbewusst, Gurke am | |
Gewehr hin oder her. „Warten wir doch 100 Jahre, dann haben sie sich | |
vielleicht schon wieder geändert.“ Dann ist Gleichstellung nicht mehr so | |
wichtig? „Vielleicht. Kann gut sein.“ | |
Es ist später Nachmittag, die Schützen trinken seit 8 Uhr am Morgen. | |
Eigentlich sogar durchgehend seit Samstagabend, behaupten einige. Richtig | |
besoffen wirken sie nicht, ein bisschen gelöst, oder besser: enthemmt. | |
Der Gehstock, den der alte Mann an der Hauptstraße nutzt, ist keine Deko, | |
aber er passt gut zum schwarzen Frack und Zylinder. Der ist geschmückt mit | |
einem gelben Band, im ersten Moment sieht das aus, als könnte der Schütze | |
ein Unterstützer sein von „Kinderschützenfest für alle“ – die nämlich | |
tragen heute solche gelben Schärpen am Hut, mit einem Schriftzug darauf. | |
Ein paar Dutzend dieser Hüte sind in der Stadt und beim Aufmarsch zu sehen. | |
Indes bei dem Mann ist das gelbe Band nur ein Erkennungszeichen seines | |
Gildeclubs. Was er davon hält, dass auch Mädchen schießen dürfen? „Unfug | |
ist das“, sagt er und bleibt kurz stehen. „Wir brauchen da nicht drüber | |
reden. Dafür haben wir Statuten, da steht das klar drin, dass nur Jungs | |
schießen beim Kinderschützenfest.“ Ja, sicher … Aber Statuten, die könnte | |
man doch ändern? Jetzt lächelt er ein bisschen. „Joa, das kann man.“ Paus… | |
Er lächelt ein bisschen. „Mit einer Dreiviertelmehrheit.“ | |
Bei der Abstimmung in einer Untergruppierung letzten Dezember über den | |
Vorschlag waren 86 Prozent gegen Mädchen beim Königsschießen. „Ich denke | |
mal, es ist unwahrscheinlich“, sagt der Masn mit Gehstock. „Da können wir | |
uns das auch sparen, darüber zu reden.“ | |
25 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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