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# taz.de -- Gesellschaftliche Mobilität: Es gibt kein Bier auf Hawaii
> Glück im Unglück: In der Quarantäne liegen zwar auch bei unserem
> Kolumnisten die Nerven blank, aber so richtig weit weg von zu Hause
> wollte er ja eh nicht.
Bild: Alle wollen nach Hawaii: Ironman-Schwimmer im Wasser
Vorhin war ich im Getränkemarkt. Und auch wenn das auf den ersten Blick
noch keine gute Geschichte verspricht, war es für mich doch ein ziemliches
Abenteuer nach eineinhalb Wochen im Bett. Ich hatte Corona, etwas heftiger
diesmal mit Fieber, diffusem Ganzkörperschmerz und anderem Mist, den man
auch nicht haben möchte. Na ja. Ich musste jedenfalls dringend mal wieder
an die Luft und hielt den Getränkemarkt für einen guten ersten Schritt.
Und so war’s dann auch: Ich kam 20 Minuten raus aus dem Siff, hab den
„Tapetenwechsel“ genossen und bei den Ramschangeboten im Eingang ein
alkoholfreies IPA gefunden, das wegen dezenter Salz-Beigabe irgendwie nach
Meer schmeckt und ein bisschen hilft, wenigstens kopfmäßig auf Abstand zu
gehen.
Dabei neige ich eigentlich nicht zum Fernweh. Die Urlaube meines Lebens
kann ich an drei Händen abzählen und so wirklich weit weg war ich auch
dienstlich nie. Schon als Jugendlicher fand ich Backpacking scheiße und
eure Palmen auf Instagram lassen mich komplett kalt. Vor ein paar Tagen
geisterte [1][wegen der neuen Wolfgang-Herrndorf-Biografie] ein Zitat des
verstorbenen Schriftstellers durch meine Social-Media-Timeline. „Ich war
nie in Amerika“, heißt es da, „ich stand auf keiner Bergspitze.“ Auf ein…
Berg war ich schon, in Amerika aber auch nicht.
## Sinnsuche im Gaga-Schlager
An Udo Jürgens’ „Ich war noch niemals in New York“ macht mich gerade die
Träumerei reizbar, während mir das gleiche Sujet bei Paul Kuhn Tränen der
Rührung in die Augen treibt: [2][„Es gibt kein Bier auf Hawaii“] und (von
wegen Getränkemarkt) „nur vom Hula-Hula geht der Durst nicht weg“.
Man muss das ernst nehmen, wenn einem selbst der rassistische Gaga-Schlager
mehr zum Herzen spricht als das ganze Gesindel, das einem auch die
allerexistenziellste Krise mit der beknackten Idee zu lösen versucht, doch
einfach mal irgendwo an den Strand zu fliegen.
Wir haben hier vor einer Weile mal „Pick Your Poison“ gespielt. Kennen Sie
das? Das ist ein mittelmäßig spaßiges Partyspiel, bei dem je zwei
Spielkarten mit schrecklichen Dingen drauf gezogen werden und es dann zu
entscheiden gilt, welche von beiden die erträglichere wäre. Der Witz ist
natürlich eigentlich, das Gegenüber einzuschätzen und zu erraten, ob es nun
lieber ausschließlich Popel zu essen bekäme oder nie mehr in die Sonne
dürfe. Meine Soziopathen-Crew spielt’s etwas anders und erklärt sich –
statt sich auf die Ängste und Wünsche des Gegenüber einzulassen – lieber
gegenseitig über Stunden, warum die letzte Entscheidung falsch war und was
man da gerade wieder nicht zu Ende gedacht habe.
Angenervt abgebrochen haben wir die Partie damals über der Frage, ob es nun
schlimmer sei, die Jahre bis zum Lebensende in maximal zehn Kilometer vom
Wohnort zu verbringen oder aber nie wieder laufen zu können. Sie haben
bestimmt eine Meinung dazu. Ich auch. Und es macht mich wirklich traurig,
auch noch ernsthaft darüber diskutieren zu müssen, dass es einen auf
irgendeine Weise weiterbringen könnte, etwas gesehen, gemacht oder abgehakt
zu haben.
## Die Hoffnung stirbt zuletzt
Trotzdem hatte ich eine gute Zeit im Getränkemarkt: nicht mal in der Nähe
der 10-Kilometer-Grenze und trotzdem unter Menschen. Was mich über die
Jahre übrigens immer weniger anrührt, sind die [3][klimapolitischen
Argumente gegen Fliegerei] und globales Sightseeing. Viel schlimmer ist
diese hartnäckig behauptete Legende, man käme da irgendwie open minded
raus, weltmännisch, mit wertvollen Erfahrungen. Man hätte es mitbekommen,
wenn die Flieger aus Thailand oder Malle erleuchtete, vernünftigere oder
wenigstens glücklichere Menschen ausspuckten. Sie tun es aber nicht.
Und zum Schluss: Meine schlechte Laune tut mir leid. Das wird wieder
besser, wenn erst die Coronamüdigkeit überwunden ist. Dann mach ich’s
wieder gut und fahre irgendwo hin. Dann gibt’s wenigstens was zu erzählen.
Ach so, es gab übrigens ein Bier aus Hawaii im Getränkemarkt (Kona Brewing:
sehr gut!), aber das führt jetzt vielleicht doch zu weit.
16 Sep 2024
## LINKS
[1] https://www.rowohlt.de/buch/tobias-ruether-herrndorf-9783737100823
[2] https://www.youtube.com/watch?v=WwmIrQlxZHQ
[3] /Klimaschutz/!6028061
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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