| # taz.de -- Krisen und Chancen auf dem Biermarkt: Es ist ein Kraut gewachsen | |
| > Der Biermarkt steckt in einer tiefen Krise, wenn es nach dem Umsatz geht. | |
| > Dabei herrscht heute eine lange vergessene Vielfalt an Sorten und Stilen. | |
| Bild: Ein Grund zum Feiern: In Deutschland wird zwar weniger Bier getrunken –… | |
| hamburg taz | Bier hat nicht den besten Ruf, wie man’s auch dreht und | |
| wendet: Gesundheitlich gilt es als gefährlich alltägliches Suchtmittel und | |
| Dickmacher, sozial als wesentlicher [1][Treibstoff enthemmter | |
| Männerhorden]. Wirtschaftlich betrachtet ist von den einst regionale | |
| Identität und Beschäftigung stiftenden Brauereien keine Rede mehr. Oder | |
| wenn doch, dann sind es Untergangserzählungen: der Absatz auf Talfahrt, | |
| verzweifelte Ramschpreise im Supermarkt, die Konzentration auf immer | |
| weniger, immer größere Konzerngruppen. Die sich dann bekanntlich eher wenig | |
| um die kulturellen Feinheiten ihrer für den Weltmarkt produzierenden | |
| Standorte kümmern. | |
| Ja, selbst geschmacklich erwartet doch kaum wer was vom „Flüssigbrot“. Klar | |
| schnalzt man mal genüsslich zum Feierabend in der Kneipe – aber achten Sie | |
| doch mal auf das verständnislose Gesicht Ihres Kellners in der gehobenen | |
| Gastronomie – auf die Frage, welches Bier am besten zum zweiten Gang passt. | |
| ## Eine ganz andere Geschichte | |
| Natürlich ist das nicht die ganze Geschichte. Aber sie kommt nicht von | |
| ungefähr, sondern spiegelt ungefähr das wider, was man bei | |
| Brauereibesichtigungen, auf Messen und bei Tastings zu hören bekommt, von | |
| denen, die es wissen müssen. Umgekehrt klingt selbst der Enthusiasmus, mit | |
| dem Biersommeliers – also [2][Berufsgenießer:innen mit | |
| Bildungsauftrag] – von der Sache reden, mitunter fast märtyrerhaft: Da | |
| scheinen welche gegen Windmühlen zu kämpfen, selbst wenn sie auch im | |
| ausgehenden Jahr wieder neue Bierkreationen und wiederentdeckte Bierstile | |
| feiern konnten. | |
| Einer, der sich von Branchenkrise und Bierflaute die Laune so gar nicht | |
| verderben lässt, ist John-Patrick Grande aus Hamburg. Er arbeitet bei | |
| Grainli, einem Großhändler für Tiernahrung, aber auch spezielle Braumalze; | |
| ein Zulieferer für Kleinstbrauereien und auch ein paar große. Naja, und | |
| irgendwie auch für sich selbst: Grainli macht inzwischen auch mit eigenem | |
| Bier von sich reden. [3][„Barbarossa I Am“] heißt das Label, unter dem die | |
| Hamburger:innen mit schniekem Büro an der Binnenalster Spezialbiere | |
| der gehobenen Preisklasse produzieren: Gose, Porter, „Hansebock“ und seit | |
| kurzem auch ein Grutbier, das statt Hopfen mit Schafgarbe, Beifuß, | |
| Lavendel, Heidekraut gebraut wird. | |
| Mit einem herkömmlichen Bier hat das satt-dunkle Gebräu auf den ersten | |
| Schluck nicht viel zu tun, selbst wenn man den geschmacklichen Horizont | |
| nicht direkt hinter Pils und Weizen zieht: Der Lavendel dominiert den | |
| Geruch, die Süße vom Malz erinnert ein bisschen an Trockenfrüchte – die | |
| fein abgestimmte Säure wiederum stammt vom Sherry-Fass, in dem das Bier | |
| reift. „Und?“ fragt John-Patrick Grande nach dem dritten Schluck, und kann | |
| sich das Grinsen nicht verkneifen. Dass sein Grutbier nicht jeden Geschmack | |
| trifft, ist ihm klar. Bei den ersten Tastings auf Hamburger Bier-Events war | |
| das Echo noch sehr gemischt. „Es polarisiert“, sagt der Erfinder, doch auch | |
| wenn noch keine professionelle Jury das Grut verkostet hat, pendeln sich | |
| die ersten Bewertungen auf der Publikums-gestützten Bewertungsplattform | |
| Untappd schon [4][deutlich über dem Durchschnitt] ein. | |
| Grande freut das für die Marke, ein bisschen aber wohl auch für sich | |
| selbst. Das Grut ist sein erstes eigenes Bier unter dem eigenen Label. Für | |
| den Massenmarkt ist es trotzdem nichts. Das liegt am Lavendel, aber auch am | |
| Preis: Sieben Euro kostet die 0,33-Liter-Flasche, die große liegt bei 19,95 | |
| Euro, selbst gemessen an Qualitätsweinen nicht gerade ein Schnäppchen. | |
| ## Ein Geschenk des Hauses | |
| Für den Markt waren die Barbarossa-Biere ursprünglich auch gar nicht | |
| gedacht: Mit dem Brauen hat der Großhändler – von wegen Krise – als | |
| Coronaprojekt angefangen: als hochwertiges Gimmick für Geschäftskunden. Das | |
| ungewöhnliche Bier in durchdesignten schwarzen Flaschen kam gut an und | |
| findet inzwischen auch über Hamburg hinaus Fans. | |
| „Unsere Biere erzählen Geschichten“, sagt Grande und das gilt fürs Grut | |
| ganz besonders. Kräuterbiere haben eine lange Tradition, speziell im | |
| deutschen Norden. Auch wenn das Barbarossa-Grut eher inspiriert ist von | |
| vorindustriellen Rezepten, als eines konkret nachzubauen, steckt doch ein | |
| Stück Kulturgeschichte in der neuen Sorte. | |
| Mit dem Versuch, über die vergessene Vielfalt von einst, Marktnischen zu | |
| besetzen, ist „Barbarossa I am“ selbstredend nicht allein. In Bremen etwa | |
| beliefert die vor zehn Jahren neu gegründete Freie Brau Union | |
| Getränkemärkte und Kneipen nicht mehr nur mit Pils und Kräusen, sondern | |
| auch mit belgisch inspiriertem Witbier oder verschiedenen IPAs. Gerade erst | |
| hat man hier für den Bremer Freimarkt ein eigenes Festbier kreiert. | |
| Ebenfalls in norddeutschen Supermärkten vertreten ist die Insel-Brauerei | |
| auf Rügen, die mit Porter, Stout, Champagnerbier, Saison, Triple oder | |
| Bitter nahezu die gesamte Palette europäischer Bierstile führt. Und von | |
| wegen Lokalkolorit: In Oldenburg braut die Ols-Brauerei neben | |
| Standardbieren für die lokale Gastronomie auch so was wie den „Grünen | |
| Anton“; dessen süffig-milde Säure stammt, klar, vom Grünkohl im Braukessel. | |
| Aber zurück zur Krise: Die gibt es nämlich trotzdem, wie sich unmittelbar | |
| ablesen lässt am seit Jahren kontinuierlich fallenden | |
| Pro-Kopf-Bierverbrauch: 1980 lag der bei fast 150 Litern, heute sind es | |
| noch gut 80. Dazu kommt, dass die Branche auch von grundsätzlichen | |
| Schwierigkeiten wie steigenden Energiepreisen und Fachkräftemangel nicht | |
| verschont wird. | |
| Gegen diese Tendenz mit Spezialisierung anzugehen, ist keine Frage von | |
| individueller Liebhaberei, sondern auch ein ganz bewusst gesetzter Schwenk. | |
| Vorbild sind hier die USA, wo dem über Jahrzehnte bis zur Ungenießbarkeit | |
| verwässerten Industriegebräus heute eine massiv wachsende Craftbier-Szene | |
| gegenübersteht, was wiederum wichtiger Impulsgeber ist für hiesige Kreativ- | |
| und Kleinstunternehmen. | |
| ## Ist das noch Bier? | |
| Aber ist das überhaupt noch Bier, kann man sich fragen. Wenn das eine nach | |
| Lavendel riecht und das andere nach Koriander schmeckt? Gerade in | |
| Deutschland hatten historische Stile und Kreativbiere lange einen schweren | |
| Stand, weil man das [5][Halbwissen über Reinheitsgebot] hierzulande ja nun | |
| schon mit der Mutter-, ähm, -milch aufsaugt: Wasser, Malz, Hopfen, Hefe und | |
| das war’s. Aber das war eine historische Setzung – nach ein paar Tausend | |
| Jahren Biergeschichte: nicht völlig willkürlich, ein bisschen aber eben | |
| doch. Ländersache ist es noch dazu und außerhalb von Bayern gibt es | |
| grundsätzlich Ausnahme- und Sonderregeln. | |
| Fest steht: Das berühmte Reinheitsgebot von 1516 und seine Vorläufer waren | |
| ein historisches Verdienst gegen Panscherei. Spätestens seit seiner | |
| PR-mäßig lancierten Renaissance im 20. Jahrhundert muss es aber vor allem | |
| als Versuch gelten, deutschem Bier einen Marktvorteil gegenüber günstigerer | |
| und – wie manche sagen – auch besserer Konkurrenz aus den EU-Nachbarländern | |
| zu verschaffen. Neun von zehn belgischen Produkten etwa sind nach deutschen | |
| Vorstellungen kein Bier. Außerdem ist die Frage auch nicht unberechtigt, | |
| was das für eine Reinheit sein soll, die mit Glyphosat im Malz und | |
| Filterung durch Mikroplastik weniger Probleme hat als mit Kräutern oder | |
| Haferflocken. | |
| Man muss sich da nicht für eine Wahrheit entscheiden – wichtiger ist, dass | |
| man sich heute wieder für ein Bier entscheiden kann. Und wer weiß: | |
| Vielleicht liegt ja auch die wirtschaftliche Zukunft des ältesten | |
| Kulturgetränks der Welt nicht darin, dass alle wieder mehr trinken, sondern | |
| besser. Und interessanter. | |
| 27 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
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