# taz.de -- Wahlen in Thüringen: „Probleme fallen mir nicht ein“ | |
> In einem kleinen Dorf an der hessischen Grenze ist die Zustimmung für die | |
> AfD für Thüringer Verhältnisse gering. Was kann man von Wahlhausen | |
> lernen? | |
Bild: Horst Zbierski, ehemaliger Bürgermeister von Wahlhausen | |
Wenn man Horst Zbierski fragt, welche Probleme es in seinem Heimatort gibt, | |
muss er lange überlegen. Zbierski ist ein drahtiger Mann mit grauem Haar. | |
77 Jahre ist er alt, 1947 ist er in dem kleinen Thüringer Ort Wahlhausen an | |
der Grenze zu Hessen geboren, sein ganzes Leben hat er dort verbracht. | |
Er hat erlebt, wie ab den 1960er Jahren mitten durch Wahlhausen Zäune und | |
Grenzanlagen gezogen wurden und den Ort einpferchten. Als diese Zäune | |
abgerissen wurden, wurde Horst Zbierski Bürgermeister für die SPD. Das war | |
1990, er blieb es bis 2003. Zwei Bücher hat er über die Gemeinde | |
geschrieben. Wenn jemand Wahlhausen kennt, dann ist es Horst Zbierski. | |
Aber bei der Frage nach den Problemen überlegt er. Er zählt dann auf, was | |
alles gut läuft: Der neue Radweg locke Touristen an. Die Kirche sei dank | |
einer Bürgerinitiative wieder lebendig. Klar, der Sportverein habe | |
schließen müssen – zu wenig Mitglieder. Aber Fußball werde ja trotzdem | |
gespielt. „Also Probleme“, sagt Zbierski schließlich. „Nee, die fallen m… | |
wirklich nicht ein“. | |
Das ist ein bemerkenswerter Satz in einer Zeit, in der sonst viel gemeckert | |
wird. In der „die da oben“ gern für alles Schlechte verantwortlich gemacht | |
werden. | |
In diesem Jahr geht es in Ostdeutschland politisch um so viel wie selten | |
zuvor. In allen Ländern stehen Kommunal- und Europawahlen an, in Thüringen, | |
Sachsen und Brandenburg zudem Landtagswahlen. Als erstes wählt Thüringen am | |
26. Mai kommunal. Damit könnte ein Durchmarsch der AfD beginnen: erst in | |
die Rathäuser und Landratsämter, und im September hin zu einer Mehrheit im | |
Landtag. | |
Über die Frage, warum Menschen die AfD wählen, [1][gibt es viele Theorien]. | |
Mal geht es um den Bus, der nicht mehr fährt und dazu führt, dass Menschen | |
sich abgehängt fühlen. Mal heißt es, dass jene besonders anfällig für die | |
AfD sind, die Angst haben, abzurutschen. | |
## Zwei ähnliche Gemeinden, zwei unterschiedliche Wahlergebnisse | |
Zusammen mit dem Institut für Rechtsextremismusforschung der Uni Tübingen | |
will die taz untersuchen, warum in manchen Gemeinden besonders viele und in | |
anderen wenige Stimmen an die AfD gehen. Die Soziologen haben berechnet, | |
wie die Wahlergebnisse zusammenhängen mit der Einwohnerstruktur von | |
Gemeinden, dem Steueraufkommen, der Entfernung zum nächsten Arzt. | |
Warum die Gemeinden? Sie sind die kleinste Einheit, zu der statistische | |
Daten vorliegen. Wer die Wohngemeinden der Menschen untersucht, ist nah | |
dran an deren Lebenswelt, schreiben die Wissenschaftler um Rolf | |
Frankenberger in einer ersten Auswertung. | |
Die taz wird die Ergebnisse in den kommenden Monaten journalistisch | |
aufarbeiten. Wir werden in Gemeinden fahren, die statistisch besonders | |
auffallen. Wir wollen mit den Menschen sprechen und hören, ob wir das, was | |
die Daten zeigen, vor Ort tatsächlich finden. | |
In Thüringen stechen in der Analyse zwei Gemeinden hervor, die sich auf den | |
ersten Blick stark ähneln. Sie sind mit rund 300 Einwohnern gleich groß, | |
ihre Bewohner gleich alt. In beiden ist die Verteilung von Männern und | |
Frauen gleich, beide haben gleich wenig Arbeitslosigkeit. Beide sind | |
ländlich, liegen am Rand von Thüringen. Was sie unterscheidet, ist ihre | |
politische Ausrichtung. In der einen haben bei der letzten Bundestagswahl | |
14 Prozent die AfD gewählt. In der anderen 49 Prozent. | |
Wahlhausen ist die Gemeinde mit den 14 Prozent. Die mit den 49 heißt | |
Oberstadt und liegt 130 Kilometer südöstlich, im Thüringer Wald. In diesem | |
Text soll es vor allem um Wahlhausen gehen. Was kann der Rest des | |
Bundeslands von diesem Ort lernen? | |
Horst Zbierski hat im Gemeindebüro Platz genommen. Es ist ein schmuckloser | |
Raum mit einem langen Tisch. Neben ihm sitzt Steffen Großheim, er ist heute | |
der parteilose Bürgermeister von Wahlhausen. Fragt man die beiden, woran es | |
liegt, dass in ihrer Gemeinde so wenig AfD gewählt wird, weniger als im | |
Rest von Thüringen und weniger als im Wahlkreis, der sie umgibt, dann | |
zucken sie mit den Schultern. | |
Großheim hat auch seinen Gemeinderat gefragt. Dessen Mitgliedern sei das | |
noch nicht einmal bewusst gewesen. „Es ist nicht so, dass wir ein Hort | |
gegen die AfD sind“, sagt er. „Vielleicht sehen die Leute in Wahlhausen | |
keinen Grund, die AfD zu wählen. Es geht uns gut hier.“ | |
## Orientierung Richtung Hessen | |
Wahlhausen liegt im Werratal. Der nächste Ort ist das hessische Bad | |
Sooden-Allendorf, eine Kleinstadt, einen Kilometer entfernt. Dort hat Björn | |
Höcke als Lehrer gearbeitet. Höckes Wohnort, Bornhagen, liegt nur wenige | |
Kilometer entfernt. In Wahlhausens Nachbarort Fretterode wohnt mit Thorsten | |
Heise einer der umtriebigsten Neonazis, vor fünf Jahren haben dort [2][zwei | |
Neonazis Journalisten angegriffen]. Es ist nicht so, als sei die Bedrohung | |
durch die AfD und andere Rechte weit weg. | |
Aber das Eichsfeld, in dem Wahlhausen liegt, [3][wählt traditionell weniger | |
AfD]: Die Gegend ist eine CDU-Hochburg, katholisch, auch wenn Wahlhausen | |
eine evangelische Enklave ist. Doch selbst für Eichsfelder Verhältnisse | |
wählt Wahlhausen wenig AfD. Für den amtierenden Bürgermeister Steffen | |
Großheim erklärt sich das auch durch die Nähe zum hessischen Bad | |
Sooden-Allendorf. Die Kinder aus Wahlhausen gehen dort zur Schule und in | |
den Sportverein. Dafür gehen Kinder aus Bad Sooden-Allendorf in Wahlhausen | |
in den Kindergarten. Die Verbindungen in die Stadt sind eng, seit die Mauer | |
weg ist. | |
Die verlief bis zum 18. November 1989 durch den Ortskern, direkt am Fluss | |
entlang. Viele hier wollten so nicht leben und zogen weg. 1989 wohnten noch | |
198 Menschen in Wahlhausen, heute sind es 320. Nach dem Mauerfall | |
orientierte sich der Ort schnell in Richtung Hessen, erzählt Horst | |
Zbierski. Ein Freundeskreis mit der Nachbarstadt wurde gegründet, gemeinsam | |
wurde Fasching gefeiert und Wanderungen geplant. Die Feuerwehren und | |
Stadtverwaltungen kooperieren bis heute. „Ossi, Wessi, das gibt’s für uns | |
nicht“, sagt Horst Zbierski. | |
## Anti-Windkraft-Proteste treiben die Leute zur AfD | |
Nur, auch Oberstadt, der ähnliche Ort mit den drei mal so hohen | |
AfD-Ergebnissen, liegt nah an einer ost-west-deutschen Landesgrenze, an der | |
zu Bayern. Und trotzdem sind laut den Daten aus Tübingen in Oberstadt die | |
wichtigen Wege länger: der nächste Arzt, die nächste Bahnstation – weiter | |
weg als in Wahlhausen. Aber reicht das, um zu erklären, warum in Oberstadt | |
jeder Zweite AfD wählt? | |
Es ist nicht leicht, mit den Leuten in Oberstadt ins Gespräch zu kommen. | |
Egal wen man anruft, wem man Mails schreibt, dem Bürgermeister, der | |
Bürgerinitiative, dem Kulturverein oder Mitgliedern des Gemeinderats, | |
niemand will mit der taz sprechen. | |
Aber man ahnt, was die Menschen in Oberstadt bewegt. In der Nähe des Dorfes | |
sollen Windräder gebaut werden, eine Bürgerinitiative wehrt sich. Die | |
Vorsitzende bloggt darüber, Videos zeigen Demos vor Ort. Dort wird viel | |
geschimpft über die rot-rot-grüne Landesregierung. Der Tenor ist immer | |
ähnlich: Die Grünen machten die Landschaft kaputt mit ihrer Energiewende. | |
Eine AfD-Landtagsabgeordnete hat sich zur Wortführerin in diesem Kampf | |
gemacht. Sie hat das Thema im Landtag eingebracht, in den sozialen Medien | |
postet sie ihre Reden, mehrmals war sie in Oberstadt zur | |
Bürgersprechstunde, zuletzt im April. Ihr Einsatz scheint hier zu | |
verfangen. Und Oberstadt wäre nicht die einzige Gemeinde, in der | |
Anti-Windkraft-Protest die Menschen in die Arme der AfD treibt. | |
## Erosion der politischen Kultur | |
Die Frage, warum Menschen AfD wählen, beschäftigt auch den Soziologen Axel | |
Salheiser. Er leitet das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in | |
Jena. Salheiser hat auch festgestellt, was die Statistiken der Uni Tübingen | |
zeigen: Allein mit Gemeinde-Daten lässt sich der Erfolg der AfD nicht | |
erklären. | |
Nach seiner Forschung ist die lokale politische Kultur ausschlaggebender. | |
Wenn rassistische Aussagen alltäglich seien, wenn im Nachbarort regelmäßig | |
Rechtsrockkonzerte stattfänden, wenn in der Gemeinde schon früher rechte | |
Parteien gewählt wurden, dann, sagt Salheiser, nutzt das der AfD. In | |
Südthüringen, wo auch Oberstadt liegt, würden Umfragen auf eine solche | |
Erosion der politischen Kultur hinweisen, anders als im Eichsfeld. | |
In Wahlhausen zieht Horst Zbierski Luft durch die Zähne. Wie er auf die | |
Landtagswahlen im September blickt? „Mit gemischten Gefühlen“, sagt er | |
zögerlich. Zbierski ist aus der SPD ausgetreten, als die in Thüringen mit | |
den Linken in eine Regierung gegangen ist. Den Linken nimmt er übel, dass | |
sie sich nie wirklich vom Parteigeld der SED distanziert hätten. Sahra | |
Wagenknecht traue er auch nicht, wegen ihrer Nähe zu Russland. Aber die | |
AfD, sagt er, sei keine Alternative. „Die AfD bietet Stammtischparolen. Das | |
verfängt hier im Ort nicht.“ | |
Wahlhausen, könnte man sagen, war ein Wendegewinner. Mit den Fördergeldern | |
für den Aufbau Ost wurde der Ort nach dem Mauerfall neu vermessen, die | |
Grundstücke neu verteilt. Verloren habe dabei niemand, sagt Horst Zbierski. | |
Als die Kirche zu verfallen drohte, sammelte Zbierski Spenden, daraus wurde | |
eine Bürgerinitiative. Zbierski erzählt das stolz, während er den Schlüssel | |
in die dicke Kirchentür steckt. Drinnen erinnern Fotos an das Engagement | |
der Wahlhausener. | |
Neben der Kirche steht heute eine große Linde. Die Menschen in Wahlhausen | |
haben sie gepflanzt, am 18. 11. 1990, ein Jahr, nachdem die Grenze aufging. | |
Jedes Jahr am 18. November stoßen sie hier mit Leuten aus Bad | |
Sooden-Allendorf auf den Mauerfall an. | |
Vielleicht ist es das, was Wahlhausen ausmacht: Eine aktive | |
Zivilgesellschaft, die sich selbst nicht als links oder als Alternative zur | |
AfD versteht. Die getragen ist vom Selbstverständnis, die Entwicklung ihres | |
Ortes selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht macht auch die | |
Grenzerfahrung die Wahlhausener skeptischer gegenüber einer Partei, die | |
Deutschland am liebsten einmauern würde. | |
## Wahlhausen geht es finanziell gut | |
Und, ganz banal: das Geld. Wahlhausen geht es gut. Mehrere lokale Betriebe | |
spülen Geld in die Gemeindekasse. 160 Arbeitsplätze gibt es im Ort. Den | |
Kindergarten betreibt die Gemeinde in Eigenregie. Die Häuser entlang der | |
Hauptstraße sind wie poliert, Fachwerk, das sich an die Hügel des | |
Eichsfelds schmiegt. | |
Auch Oberstadt glänzt vor schöner Kulisse. Aber die Gemeinde ist ärmer, das | |
zeigen die Daten der Tübinger Soziologen. Wahlhausen und Oberstadt | |
unterscheiden sich nicht nur in ihren Wahlergebnissen, sondern auch in | |
ihren Steuereinnahmen pro Einwohner. | |
Der Sportplatz von Wahlhausen liegt am Rand der Gemeinde. Ein Mähroboter | |
fährt über die Wiese, den hat der Hersteller gesponsert. „Seitdem freuen | |
sich alle über den perfekten Rasen“, sagt Steffen Großheim und bleibt am | |
Spielfeldrand stehen. Im Vereinsheim ist Baustelle, zwei neue Duschen und | |
eine Heizung werden eingebaut. Auf dem Spielplatz nebenan heben Bauarbeiter | |
gerade ein großes Trampolin in ein Loch. Die Kinder in Wahlhausen haben | |
jetzt noch ein Spielgerät mehr. | |
18 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
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