| # taz.de -- Verkehrswende in Städten: Die Poller-Politik | |
| > In Leipzig sollen „Superblocks“ für weniger Autoverkehr und Platz für | |
| > Begegnungen sorgen. Doch manche Anwohner:innen fühlen sich davon | |
| > überfahren. | |
| Bild: Autoblockade: Der Verkehr rollt nicht mehr, er läuft | |
| Leipzig taz | Ariane Jedlitschka steht mitten auf der Straße zwischen | |
| Wohnblocks aus malerischen Altbauten. Vor ihr zehn diagonal aufgereihte | |
| Poller auf einer Kreuzung. Hinter ihr, „die umkämpftesten 60 Meter in | |
| Leipzig“, sagt sie: das Superblock-Pilotprojekt im Osten der Stadt. | |
| Es ist ein lauwarmer Freitag Ende April und Jedlitschka präsentiert bei | |
| einer kleinen Konferenz den Verkehrsversuch vor Ort. Ein bronzefarbener SUV | |
| rauscht hinter ihr um die Kurve, er drosselt sein Tempo fürs Abbiegen kaum. | |
| Ein Radfahrer schlängelt sich durch die Poller. | |
| Das Superblock-Projekt gibt es hier seit gut einem Jahr. Jedlitschka und | |
| ihr Verein, „Superblocks Leipzig“, haben es angeleiert und sich mit der | |
| Stadt zusammengetan. Der Autoverkehr, vor allem der Durchgangsverkehr durch | |
| das Wohngebiet, soll reduziert werden. Menschen sollen aber mobil und das | |
| Viertel zugänglich bleiben, deshalb herrscht keine vollständige | |
| Autofreiheit. | |
| Trotzdem gibt es dagegen in Leipzig lauten Widerstand. Eine Petition | |
| fordert, das Projekt zu stoppen, Gewerbetreibende sorgen sich um Ladezonen | |
| und Parkflächen, Anwohner:innen fühlen sich übergangen. Am Vorabend hat | |
| eine deutliche Mehrheit im Stadtrat beschlossen, das Projekt schrittweise | |
| von den 60 Metern auf das ganze Wohnquartier auszuweiten, die Menschen im | |
| Viertel sollen sich daran beteiligen können. | |
| ## Vorbild Barcelona | |
| Die Idee der Superblocks kommt aus Barcelona. Viel Verkehr, dichte | |
| Besiedlung, wenig Grün, dreckige Luft, hohe Lärmbelastung: Damit kämpft die | |
| katalanische Großstadt schon seit Jahrzehnten. Mitte der 2010er Jahre sah | |
| sich die Stadtverwaltung gezwungen zu handeln und organisierte den | |
| Autoverkehr in Wohnvierteln um. | |
| Weite Teile Barcelonas bestehen aus quadratischen Häuserblocks. Für einen | |
| Superblock, Katalanisch Superilla, werden dort drei mal drei dieser | |
| Häuserblocks zusammengefasst. Die Hauptstraßen um den Superblock herum | |
| werden wie vorher befahren. Innerhalb des Blocks führen Diagonalsperren an | |
| Kreuzungen, Einbahnstraßen und Tempolimits dazu, dass Autos nicht mehr mit | |
| voller Geschwindigkeit geradeaus durch das Wohngebiet abkürzen können. | |
| Fußgänger:innen und Radfahrende haben Vorrang. | |
| Zweispurige Straßen werden einspurig, auf der äußeren Spur wird Platz | |
| gemacht für Parkbänke zum Kaffeetrinken, für Hochbeete und Bäume. Der erste | |
| Superblock entstand 2017 im Stadtviertel Poblenou. Anfangs war der | |
| Widerstand groß – auch hier vor allem in den Reihen der Gewerbetreibenden. | |
| Das befürchtete Geschäftssterben blieb jedoch aus. | |
| Nach Barcelonas Vorbild haben sich deutschlandweit Initiativen für ähnliche | |
| Projekte gegründet. In Berlin gibt es zum Beispiel Kiezblocks, in Darmstadt | |
| sogenannte Heinerblocks, in Wuppertal und Stuttgart setzen sich Menschen | |
| für einen Superblock ein. Die Idee: Autoverkehr verringern, Lärm und | |
| CO2-Emissionen in der Stadt senken, Hitze bekämpfen, Platz für Pflanzen und | |
| Anwohner:innen schaffen. Letztlich auch: die Klimakrise angehen. | |
| ## Ziel: weniger Autos | |
| „Ein Superblock ist die Verkehrswende im Kleinen“, sagt Hans Hagedorn. Der | |
| Stadtplaner ist für Changing Cities aktiv – eine Organisation, die sich für | |
| einen Verkehrswandel stark macht, der klima- und menschenfreundlich ist. | |
| Changing Cities hat dafür 2023 Richtlinien erarbeitet, an denen sich Städte | |
| orientieren können, wenn sie einen Superblock wollen. Hagedorn hat sie | |
| maßgeblich mitverfasst. | |
| In schwarzer Jacke und schwarzer Hose sitzt er auf einer Parkbank, nur ein | |
| paar hundert Meter entfernt vom 60 Meter langen Verkehrsversuch in Leipzig. | |
| Die Aktivist:innen um Ariane Jedlitschka haben ihn zum Netzwerken | |
| eingeladen. „Superblocks sind zwar nicht komplett autofrei“, erklärt er, | |
| das rechte Bein über das linke geschlagen. | |
| Wenn Pkw aber nur noch langsam und schleifenförmig durch Wohngebiete | |
| fahren, werde der Verkehr nicht nur verlagert. Die Menschen in der Stadt | |
| würden nach einer Weile doch lieber ein anderes Verkehrsmittel nehmen, um | |
| an ihr Ziel zu kommen. „Dadurch wird in absoluten Zahlen weniger Auto | |
| gefahren.“ | |
| Das Pilotprojekt in Leipzig liegt in der Hildegardstraße, die direkt die | |
| bekannte Eisenbahnstraße im Osten der Stadt kreuzt. Vor etwa einem Jahr | |
| malte der Verein dort mitten auf den Asphalt drei bunte Kreise: anderthalb | |
| Meter Radius, einer rosa, einer grün, einer gelb. Darauf landeten runde | |
| Sitzbänke in den gleichen Farben, mit Blumenkübeln in der Mitte und einem | |
| bunten Lampenschirm obendrüber. Spielstraßenschilder sollen die Autos | |
| bremsen, damit Nachbar:innen zusammenkommen können. So die Idee. | |
| ## Die Kaffee auf der gelben Bank | |
| Aber wie kommt das an? An diesem Freitag Ende April erwidert ein Mann mit | |
| einem Fahrradanhänger die Frage mit einem nervösen Lächeln. Er wohnt in | |
| einem der sechs Häuser, die direkt im Superblock-Pilotprojekt liegen und | |
| schließt die Tür auf. Das Projekt, sagt er, sei „eine gute Idee, weniger | |
| Autos ist ruhiger und sicherer für die Kinder.“ | |
| Während er seinen Anhänger die Treppe zum Haus hochzieht, erzählt er, dass | |
| er sich auch hin und wieder auf die Bänke setze. Nur abends, da werde es | |
| jetzt lauter, weil mehr Menschen auf den Straßenmöbeln Alkohol trinken. Er | |
| verzieht das Gesicht. Trotzdem: Das Projekt könne man auch in anderen | |
| Straßen machen. Der Klimawandel sei ein großes Problem. Das könne er auf | |
| Deutsch aber nicht so gut erklären, entschuldigt er sich lächelnd und zieht | |
| den Anhänger die letzte Stufe hoch ins Haus. | |
| Etwas weiter trinken zwei Frauen Kaffee auf der gelben Bank. Die Farbe ist | |
| nach einem Jahr deutlich ausgeblichen. Wie ihnen der Superblock gefällt? | |
| Eine antwortet prompt. Sie sei Bühnen- und Kostümbildnerin, ihr Atelier | |
| liege direkt um die Ecke. „Ich find’s scheiße!“ | |
| Die Bühnenbildnerin versichert: „Klar ist die Verkehrswende wichtig.“ Aber | |
| sie befürchte zum einen, dass die Mieten steigen, wenn das Viertel durch | |
| einen Superblock aufgewertet werde. Und zum anderen, dass sie ihr Material | |
| nicht länger zum Atelier liefern könne. „Am Ende wohnen nur noch Leute | |
| hier, die sich eine Alternative zum Auto leisten können.“ Während sie | |
| spricht, fährt ein weiterer, weißer SUV dicht und zügig an der gelben Bank | |
| vorbei. | |
| ## Entlastung für die Entlastungsstraße | |
| Wie genau und warum lenkt die Stadt Leipzig hier den Verkehr? Der | |
| Superblock-Abschnitt auf der Hildegardstraße grenzt im Norden an die | |
| Ludwigstraße und südlich an die Eisenbahnstraße. Letztere ist eine der | |
| Hauptverkehrsadern in Leipzigs Osten, mit Tramschienen in beide Richtungen, | |
| Radwegen und jeder Menge Ampeln. Die Ludwigstraße zieht sich parallel dazu | |
| direkt durch das Wohnquartier, etwas enger, aber ohne Tram, ohne Ampeln. | |
| Wenn es Stau auf der Eisenbahnstraße gab, kürzten einige | |
| Autofahrer:innen über die Ludwigstraße ab. Das verhindert jetzt der | |
| Superblock: Vor einem Jahr, zur gleichen Zeit wie die Sitzbänke, hat die | |
| Stadt die zehn weiß-roten Poller installiert. Sie verlaufen auf der | |
| Kreuzung am Ende der Hildegardstraße einmal diagonal über die Ludwigstraße. | |
| Das stoppt die Autos – aber Fahrräder und Fußgänger:innen kommen weiter | |
| durch. | |
| Am anderen Ende des Superblocks röhrt am Freitag die Tram auf der | |
| Eisenbahnstraße vorbei. Von dort biegen immer wieder Autos in die | |
| Hildegardstraße, fahren an den Superblock-Bänken vorbei, bleiben vor den | |
| Pollern stehen. Sie könnten jetzt noch nach rechts abbiegen. Aber sie | |
| wenden und rollen den Weg zurück, den sie gekommen sind. Die meisten sind | |
| dabei deutlich schneller als die sieben Stundenkilometer, die in der | |
| Spielstraße erlaubt sind. | |
| Auf dem Gehweg läuft derweil eine weitere Frau entlang und beäugt die | |
| bunten Bänke auf der Straße. Sie arbeite in der Nähe und kritisiert: Bei | |
| der Entscheidung über das Pilotprojekt seien Anwohner:innen und | |
| Gewerbetreibende nicht einbezogen worden. Ihren Namen wolle sie nicht | |
| sagen. Die Stimmung sei zu aufgeheizt. | |
| ## Immobilien, Kunst und Stadtentwicklung | |
| Etwa 500 Meter weiter steht Ariane Jedlitschka draußen unter hohen Bäumen, | |
| gegenüber einer Schule. Ab und an bahnen sich Sonnenstrahlen den Weg durch | |
| die dünne Wolkendecke. Jedlitschka trägt ein Stirnband, trotz der | |
| Temperaturen, einen türkisfarbenen Baumwollmantel und einen Rucksack, | |
| dunkelorange und funktionell. An einem ihrer Ohrläppchen hängt ein | |
| knallgelber, mondsichelförmiger Ohrring. „Eigentlich ist das Viertel | |
| ruhig“, sagt die 45-Jährige. „Aber der Pendlerverkehr morgens und abends | |
| ist enorm.“ | |
| 2015 ist sie mit Mann und drei Kindern in die Hildegardstraße gezogen – | |
| also dorthin, wo es jetzt verkehrsberuhigt ist. Sie hat | |
| Immobilienwirtschaft studiert. Heute organisiert sie Kunstprojekte und ist | |
| in mehreren Vereinen für kulturelle Bildung aktiv. Seit sie in dem Quartier | |
| wohnt, engagiere sie sich für die Entwicklung des Stadtteils und die | |
| Einbindung der Anwohner:innen, sagt sie. | |
| 2021 haben sie und ihr Mann den Verein „Superblocks Leipzig“ mitgegründet. | |
| Inzwischen hat der Verein zehn feste Mitglieder. Von Oktober 2021 bis April | |
| 2024 förderte eine Initiative des Bundesbauministeriums den „Superblocks | |
| Leipzig“ und das Pilotprojekt. | |
| „Die ganze Kreuzung war mit Autos vollgeparkt“, erzählt Jedlitschka. „Die | |
| Straßen sind nicht so breit, aber man konnte sie trotzdem nicht sicher | |
| überqueren.“ Vor allem Kinder hätten Mühe, zwischen den großen parkenden | |
| Wagen den Verkehr zu überblicken. | |
| ## Lieferverkehr frei | |
| Warum ein Verein für Superblocks – und nicht etwa für Zebrastreifen, | |
| Bodenwellen oder Einbahnstraßen? Nach der Coronapandemie sei das Konzept | |
| der Superblocks in aller Munde gewesen. Man könne es vergleichsweise | |
| einfach umsetzen „und von da aus weiterdenken“, sagt Jedlitschka und deutet | |
| mit den Armen eine Bewegung nach vorne an. | |
| Weiterdenken, das heißt für die Künstlerin, dass der Superblock mehr sein | |
| kann als Verkehrsplanung. Sie wolle das Viertel mitgestalten. Auf der | |
| Straße sollen Menschen zusammenkommen, da soll ein Kulturraum, ein gutes | |
| Leben entstehen, da soll die Gesellschaft krisenfest werden. | |
| Und weiterdenken, das bedeutet auch: Der Superblock hier in Leipzig wird | |
| tatsächlich ausgeweitet. So hat es der Stadtrat am Vorabend überraschend | |
| eindeutig beschlossen, mit Stimmen von Grünen, Linken, SPD und Freibeutern. | |
| „Hier sollen Poller stehen“, sagt Jedlitschka, auf Zehenspitzen, und zeigt | |
| auf eine Straßenecke. „Und hier“, direkt neben der Liefereinfahrt der | |
| Schule. Lieferfahrzeuge hätten so immer noch freie Fahrt. In den Händen | |
| hält sie einen Plan des Viertels, der zeigt, wie es in ein paar Jahren | |
| aussehen soll. | |
| Zuerst sollen die Durchgangssperren vor der Schule aufgestellt werden, | |
| später dann an voraussichtlich sieben weiteren Kreuzungen. Der nächste | |
| Schritt ist eine Fahrradstraße, parallel zur Eisenbahnstraße auf der | |
| Ludwigstraße. Danach könnten noch mehr Spielstraßen kommen, genau wie in | |
| der Hildegardstraße mit bunten, runden Sitzbänken und Hochbeeten. | |
| ## Sind alle gefragt worden? | |
| Und: Vor allem für Lieferfahrzeuge und Pflegedienste sollen | |
| Kurzzeitparkplätze und Ladezonen entstehen. Im Verkehrskonzept, über das | |
| der Stadtrat entschieden hat, ist die Rede von 280 bis 320 Stellplätzen, | |
| die innerhalb der nächsten Jahre „umgewidmet“ werden könnten. Sicher ist | |
| bisher nur: Mit den Pollern vor der Schule fallen erst mal neun Parkplätze | |
| weg. Neue Carsharing-Parkplätze sollen Abhilfe schaffen. Bis Ende 2024 will | |
| die Stadt die Anwohner:innen weiter beteiligen und so schrittweise | |
| ausloten, wie das Konzept tatsächlich Realität werden kann. | |
| Bisher steht die Beteiligung stark in der Kritik. „Die Menschen und | |
| Unternehmen, die dort leben oder arbeiten, die wurden zum Teil entweder | |
| ganz spät oder überhaupt nicht involviert“, sagt Falk Dossin, CDU-Stadtrat. | |
| Der Verein hatte zwar etwa kleine Kundgebungen in der Hildegardstraße | |
| angemeldet, mit denen er die Anwohner:innen über das Projekt | |
| informieren wollte. Das wisse Dossin. Doch die hätten sich größtenteils an | |
| die eigene Blase gerichtet, bemängelt er, die meisten Anwohner:innen | |
| habe das nicht erreicht. | |
| Der langfristige Superblock soll nördlich der Eisenbahnstraße entstehen, | |
| die sich durch die Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf | |
| zieht. In den vergangenen 20 Jahren hat sich deren Einwohner:innenzahl | |
| verdoppelt, mittlerweile wohnen mehr als 28.000 Menschen dort. Trotzdem | |
| gibt es noch viel Leerstand. Die Mieten sind günstig, das | |
| Durchschnittsalter ist am niedrigsten und der Migrationsanteil mit am | |
| höchsten im Leipziger Vergleich. | |
| Das führt auch zu einer Stigmatisierung der Gegend. In hochgejazzten | |
| Reportagen berichteten ARD, Pro7 und Focus-TV über Kriminalität: Drogen, | |
| Schlägereien, Schießereien. Im Alltag prägen die Viertel aber eher belebte | |
| Gassen, verschiedene Geschäfte, Restaurants, Cafés, Bars, Spätis. | |
| Und das Gebiet, das künftig Superblock werden soll, ist eben vor allem eine | |
| Wohngegend. Dossin berichtet, er habe von Anwohner:innen gehört, der | |
| Superblock bringe Krach und Müll. Bei ihm habe es Beschwerden über | |
| Ruhestörungen gegeben und er habe Fotos gesehen „von Bierflaschen, die | |
| rumlagen und auch Spritzen“. | |
| Dossin sagt, er finde politisches Engagement grundsätzlich gut. Aber die | |
| Stadt habe das Pilotprojekt zu schnell ausgeweitet und sei dabei | |
| intransparent gewesen. „Wie viele Parkplätze bis zum fünften Schritt genau | |
| entfallen, steht nirgendwo. Das wurde immer nur weggeschwiegen“, klagt er. | |
| Die Verkehrsberuhigung sei zwar da, aber auf Kosten der Anwohner:innen, die | |
| ihre Autos bräuchten, um zur Arbeit zu pendeln oder den Einkauf für die | |
| Familie zu erledigen. | |
| Gewerbetreibende in der Gegend haben auch die IHK und die Handwerkskammer | |
| zu Leipzig gegen den Superblock mobilisiert. Auf Nachfrage der taz | |
| versichert die IHK, eine Transformation des Verkehrs sei notwendig, „sollen | |
| die ambitionierten Klimaziele erreicht werden“. Das heiße allerdings auch, | |
| „weiterhin einen reibungslosen Wirtschaftsverkehr“ zu gewährleisten. | |
| Der Stadtrat hat Kritik in den Beschluss des Superblocks aufgenommen. Doch | |
| es gibt Anwohner:innen, die sich trotzdem vollkommen übergangen fühlen. | |
| Denn: Der Superblock kommt, das steht fest. | |
| ## Zweifel an der Demokratie | |
| Ein Gewerbetreibender, mit dem die taz sprechen wollte, klingt erschöpft. | |
| Es sei zu spät, er wolle sich nicht mehr äußern. Eine Anwohnerin sprach | |
| zwar mehrere Stunden mit der taz. Doch sie will nicht, dass daraus zitiert | |
| wird: Die taz verstehe sie nicht und setze die Kritik nicht genug in den | |
| Fokus. | |
| Das Gefühl, nicht mitbestimmen zu können, ist in Sachsen verbreitet. Laut | |
| dem Else Frenkel Brunswik Institut der Uni Leipzig halten es [1][65 Prozent | |
| der Menschen in Sachsen für sinnlos], sich politisch zu engagieren. Eine | |
| wachsende Mehrheit ist laut dem [2][Sachsen Monitor 2023] unzufrieden | |
| damit, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. | |
| Studien zeigen zudem: Mit Einkommen und dem Bildungsabschluss [3][steigt | |
| die Demokratiezufriedenheit]. Das könnte etwa daran liegen: Wer die | |
| Strukturen besser kennt und nicht tagtäglich seinen Lebensunterhalt | |
| verdienen muss, kann sich einfacher beteiligen. | |
| In Leipzig behaupten Befürworter:innen und Gegner:innen des | |
| Superblocks jeweils, die Mehrheit in den betroffenen Stadtteilen auf ihrer | |
| Seite zu haben. Es gibt zwar mehrere Petitionen, aber keine valide | |
| Befragung. Sie werfen sich außerdem gegenseitig vor, mit Unwahrheiten zu | |
| argumentieren. Auch, dass vor allem Weiße den Verein prägen, spielt in der | |
| Kritik immer wieder eine Rolle. | |
| ## Nicht alle kriegen, was sie wollen | |
| Dossin sagt, „beide Welten sind so fern voneinander und haben sich | |
| mittlerweile so angefeindet, dass es auch schwer ist, irgendwie einen | |
| Kompromiss zu finden“. | |
| Doch auch die CDU nutzt nun den Superblock im Wahlkampf um den Stadtrat. Am | |
| 9. Juni geben die Leipziger:innen dafür ihre Stimmen ab. Auf | |
| CDU-Plakaten steht: „Wir stoppen den Superblock!“ Dabei weist der Verein | |
| darauf hin, er habe alle Parteien, auch die Konservativen, vor zwei Jahren | |
| zu Beginn des Projekts um Mitwirkung gebeten. | |
| Bisher zeigte vor allem „Superblocks Leipzig“ Gesicht für das Projekt. „… | |
| wurde eingefordert, dass wir uns als Stadt deutlich stärker positionieren“, | |
| sagt Thomas Dienberg, Leipziger Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau. | |
| „Zu Recht.“ | |
| Die Beteiligung aber werde zu Unrecht kritisiert, meint er. Der Verein | |
| Superblocks Leipzig habe immer wieder Veranstaltungen organisiert, um die | |
| Leute vor Ort einzubinden – auch direkt auf der Straße. Flyer, mit denen | |
| Infos über das Projekt verbreitet werden sollten, habe die Stadt in | |
| mehreren Sprachen verteilt. | |
| Die Gegner:innen hätten beklagt, dass der Superblock auf undemokratische | |
| Weise entstanden sei. „Aber Beteiligungen sind ein Aushandlungsprozess“, | |
| sagt der Grüne Dienberg. „Das kann am Ende bedeuten, dass nicht alle | |
| Belange komplett zu 100 Prozent, sondern eben nur zum Teil in die Planung | |
| eingehen.“ | |
| ## Scheindiskussion? | |
| Die Diskussion um Parkplätze nennt der studierte Raumplaner eine | |
| „Scheindiskussion“: In dem Gebiet seien pro 1.000 Haushalten nur 160 Autos | |
| gemeldet. Aktuell gebe es 1.800 Parkplätze. Auch Dienberg betont, dass es | |
| beim Superblock um mehrere Dinge geht: darum, die Lebensqualität im | |
| Wohngebiet zu erhöhen, den Verkehr sicherer zu machen und das Klima zu | |
| schützen. | |
| Bei den Veranstaltungen, die der Verein „Superblocks Leipzig“ in der | |
| Nachbarschaft organisiert hat, spielte der Klimaschutz keine große Rolle. | |
| Die CO2-Emissionen im Verkehrssektor sind aber besonders hoch. Das habe man | |
| im Hinterkopf, sagt ein Vereinskollege von Ariane Jedlitschka. Klima sei | |
| aber „noch so ein Reizthema“, der Konflikt sei sowieso schon so scharf. | |
| „Superblocks Leipzig“ hat sich dazu verpflichtet, den Verkehrsversuch in | |
| der Hildegardstraße auszuwerten. Das Helmholtz Zentrum für Umweltforschung | |
| hat an verschiedenen Tagen Messungen gemacht und geprüft, wie sich die | |
| Durchgangssperre auf Luftschadstoffe, Lärm und Hitze auswirkt. | |
| Die Messdaten sind noch nicht öffentlich, die Forscher:innen verweisen | |
| auf das Vorbild Barcelona. Laut einem Papier des Umweltbundesamtes aus dem | |
| Jahr 2021 ist die Stickstoffdioxidlast in der Luft im Bezirk Eixample um 33 | |
| Prozent gesunken. Im Bezirk Gracia gab es durchschnittlich 5 Dezibel | |
| weniger Lärm, in Poblenou „so gut wie keine Verkehrsunfälle mehr“. | |
| ## Mit der Zeit überzeugt? | |
| Gleichzeitig stieg im Superblock in Poblenou die Anzahl der Einzelhandels- | |
| und Gastronomiebetriebe innerhalb von zwei Jahren um 30 Prozent. Bis 2030 | |
| will Barcelonas Stadtrat privaten Auto- und Mopedverkehr um 21 Prozent | |
| reduzieren und die CO2-Emissionen pro Kopf verglichen mit 2005 um 40 | |
| Prozent drücken – unter anderem mit weiteren Superilles. | |
| Durch die verkehrsberuhigte Zone in Leipzigs Osten schiebt sich ein | |
| dunkelblauer Mercedes-Sprinter. Er parkt mühelos zwischen zwei | |
| Pflanzenkübeln ein. Die bunten Bänke auf der anderen Straßenseite sind | |
| besetzt. Hans Hagedorn von Changing Cities erklärt: Auch in anderen | |
| Städten, in denen Kiez- oder Superblöcke entstanden sind, gebe es Protest | |
| von Anwohner:innen. | |
| Oder von konservativen Politiker:innen, sagt er, die Hände verschränkt auf | |
| den Knien. Für die Städte könne es sich lohnen, diese Konflikte | |
| durchzustehen. Oft überzeuge der Superblock die Kritiker:innen vor Ort | |
| nach einer Weile dann doch. | |
| Hagedorn steht auf, um sich weiter mit den Leipziger Aktivist:innen | |
| auszutauschen. Dann fällt ihm noch ein: „Superblöcke werden zwar im Kleinen | |
| umgesetzt.“ Bürger:innen könnten in ihren Wohngebieten aber merken, dass | |
| sie mit weniger Autoverkehr gut klar kommen. „Dann sind sie auch | |
| aufgeschlossener für große Hebel in der Verkehrswende, zum Beispiel für ein | |
| Tempolimit.“ | |
| 9 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://efbi.de/details/efbi-policy-paper-2023-2-autoritaere-dynamiken-und-… | |
| [2] https://www.staatsregierung.sachsen.de/sachsen-monitor-2023-8897.html?_cp=%… | |
| [3] https://www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie | |
| ## AUTOREN | |
| Nanja Boenisch | |
| David Muschenich | |
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