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# taz.de -- Soziale Ungleichheit: Wie wär's mal mit der Klassenfrage?
> Linke streiten lieber über Kulturkampf-Themen als über soziale und
> wirtschaftliche Konflikte. Das geschieht oft auch aus reiner
> Bequemlichkeit.
Bild: Satirische Demo durch die Berliner Villengegend Nikolassee
Zwei Meldungen schafften es diese Woche nicht in die „Tagesschau“ und
blieben auch sonst ziemlich unbeachtet: Die DAX-Unternehmen [1][schütten an
ihre Aktionäre eine Rekordsumme von 54 Milliarden Euro] an Dividende aus.
Und die Bundesbank berichtet [2][in ihrer neuen Vermögensbilanz], dass die
Ungleichheit in Deutschland wieder angestiegen ist. Trocken notiert die
Bundesbank: „Insgesamt bleibt die Vermögensungleichheit in Deutschland […]
recht hoch – auch im internationalen Vergleich.“
Die alte Frage „Wer besitzt?“ spielt auch in linken Kreisen großenteils nur
noch eine untergeordnete Rolle. Identitäts- und Gesellschaftsthemen stehen
oben. Wenn es was Neues zum Genderverbot an bayerischen oder hessischen
Schulen gibt, weiß ich um 9 Uhr als Meinungsredakteur: Gleich kommen die
empörten Kommentarangebote. Bei Verteilungsthemen ist es viel schwieriger,
einen Kommentarwilligen oder einen freien Platz zu finden.
„Links“ befindet sich in einer Pendelbewegung: In den 1970er Jahren haben
westdeutsche Linke alles durch die marxistische Brille gesehen; Themen wie
der Feminismus wurden als „Nebenwiderspruch“ abgetan. Das war zu einseitig.
Inzwischen ist das Pendel in das andere Extrem ausgeschlagen: Der
Kulturkampf hat den Verteilungskampf abgelöst. Ersterer ist zweifellos
wichtig, er beschäftigt die Leute – aber stimmen die Proportionen noch?
Die Frage, wer besitzt und wer nicht, entscheidet über Einfluss,
Lebenschancen und Lebensqualität. Und sie ist eine massive
Gerechtigkeitsfrage. Es wäre schon viel gewonnen, wenn nur 20 Prozent der
Erregungsenergie über irgendwelche Ausladungen und offene Briefe im
Gazakontext in eine Empörung über materielle Skandale fließen würde, die,
anders als die Erregung über Nancy Fraser und andere, ganz sicher noch in
einem halben Jahr existieren: dass Kapital in Deutschland so extrem
ungleich verteilt ist; dass man durch Vermögen anstrengungslos noch reicher
wird, während die Lohnabhängigen im Hamsterrad hängen; dass Kapitalerträge
und Erbschaften viel weniger besteuert werden als das, was man durch
eigener Hände Arbeit verdient.
## Komplizen des Anlegerkapitalismus
Was Karl Marx nicht ahnen konnte: die Größe und die ambivalente Rolle der
Mittelschicht. Die Angehörigen der Mittelschicht sind meist lohnabhängig,
aber oftmals zu „Komplizen“ des Anlegerkapitalismus geworden, wie der
Soziologe Oliver Nachtwey das mal nannte. Wer sein bürgerliches Leben zu
erheblichen Teilen auf Kapitaleinkünften oder einem zu erwartenden Erbe
aufbaut, wird eine Vermögen- und eine vernünftige Erbschaftsteuer eher
nicht so gut finden. Oder als erbender Linksbürgerlicher in der
Verteilungsfrage mit schlechtem Gewissen stillhalten und sich stattdessen
auf Gesellschafts- oder Identitätsthemen verlegen.
Natürlich ist es schwieriger, die Bedeutung von wirtschaftlichen Zahlen zu
erkennen, als sich über [3][die erwartbare Bemerkung einer CSU-Politikerin
zum Paragrafen 218] aufzuregen. Wahrscheinlich ist das
Ungleichheitsberichterstattungsbusiness auch einfach zu routiniert. Es
reicht nicht, Jahresberichte nachzuerzählen und als kritische Stimme den
Sozialverbandschef Ulrich Schneider (den mit den großen Koteletten) zu
interviewen.
Wie wäre es, nur so als Beispiel, eine Reise von Mietern des
Wohnungskonzerns Vonovia/Deutsche Wohnen nach Oslo zu organisieren und auf
dem Rathausplatz eine zünftige Demo zu organisieren? Euren Wohlstand
bezahlen wir! Warum Oslo? Der norwegische Pensions- und Staatsfonds, in dem
die gewaltigen Öleinnahmen des Landes stecken, [4][ist der größte
Einzelaktionär von, genau, Vonovia]. Norwegische Rentner, denen es ohnehin
schon ziemlich gut geht, können also ihre Edelstahl-Einbauküche in ihrem
Ferienhaus dank der Vonovia-Mieterhöhungen finanzieren – es ist nicht immer
nur der böse Kapitalist, der von der großen globalen Umverteilung von unten
nach oben profitiert.
Aufmerksamkeit wäre garantiert, im reichen Norwegen ist man Sozialdemos
nicht so gewöhnt. Ich wäre auf der Demo dabei, ich male auch die Plakate.
21 Apr 2024
## LINKS
[1] /DAX-Konzerne-schuetten-Gewinne-aus/!6001747
[2] https://www.bundesbank.de/resource/blob/929648/54b8986601dbbedd03d813270944…
[3] /CSU-Politikerin-Baer-zu-Abtreibungen/!6000649
[4] https://www.vonovia.com/en/investors/share-information/shareholder-structure
## AUTOREN
Gunnar Hinck
## TAGS
Kolumne Der rote Faden
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