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# taz.de -- EU-Wahlen: In Brüssel geht es nur mit Alkohol
> Die EU hat immense Demokratiedefizite. Linke meiden kritische Fragen, um
> den Rechten nicht in die Hände zu spielen – das ist ein Fehler.
Bild: Wahlbanner vor dem Europäischen Parlament in Brüssel
Ich geb’s zu, ich habe gerade einen Durchhänger. Entgegen kommt mir da der
Mai, der dieses Jahr drei Feiertage unter der Woche hat. Der Mai, ein super
Monat für Lohnabhängige. Mein derzeitiger Durchhänger-Status wird leider
gerade durch Europa verstärkt. Falls Sie es vergessen haben – in zwei
Wochen ist EU-Wahl. Aber gibt es eine breite öffentliche Debatte darüber,
wie man dieses an sich tolle Konstrukt namens EU besser machen kann und was
grundsätzlich schiefläuft? Fehlanzeige.
Dabei sind die Wahlen die einzige Gelegenheit für die EuropäerInnen, einmal
mitzureden. Es dominieren Nachrichten über Marine Le Pen und einen
AfD-Spitzenkandidaten, [1][der jetzt keine Wahlkampfauftritte mehr
absolvieren darf], aber trotzdem ins EU-Parlament einziehen wird.
Passend zu meiner Stimmungslage gucke ich mir gerade binge-mäßig Auftritte
[2][des Satirikers, Demotivationstrainers und ausscheidenden
EU-Abgeordneten Nico Semsrott] an („Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie
stirbt“) und lese sein Buch über seine Jahre in Brüssel. Klar, Semsrott
betreibt Markenpflege in eigener Sache, aber er sagt erfrischende und kluge
Sachen zu Europa. Etwa, dass sich „Brüssel“ und die Bevölkerung einfach
nicht verstehen, keinen Kontakt zueinander haben. Der EU-Apparat lebt in
einer abgeschotteten Blase mit eigenen Logiken und einer eigenen Sprache
(mein derzeitiger Lieblings-EU-Begriff ist übrigens „Aufbau- und
Resilienzfazilität“, gemeint sind die Post-Corona-Wirtschaftshilfen).
Es ist ein eigenes System, das auch jene verschluckt, die es mal anders
machen wollten. Oder kann sich noch jemand an Ska Keller erinnern, die 2009
als linke Grünen-Rebellin ins Parlament einzog, mehrere Jahre
Fraktionsvorsitzende war, [3][dann im Parlament irgendetwas mit Fischerei
machte und sich jetzt sang- und klanglos verabschiedet]?
## Was macht der Maschinenraum?
Semsrott beklagt zu Recht, wie mächtig und intransparent die EU-Bürokratie
ist. Der EU-Bürger, die EU-Bürgerin bekommt immer nur die ständigen
„Gipfel“ mit, wo die MinisterInnen kameragerecht plaudern und scherzen,
erhält aber keinerlei Einblick in den Maschinenraum, in dem die vielen
kleinen Entscheidungen getroffen werden.
Bei Europawahlen agieren Medien arg beflissen und pädagogisch und ähneln
dem Politikunterricht in der 10. Klasse: Oh, es sind wieder Europawahlen,
dazu müssen wir jetzt mal was Positives machen. Aus Angst, den Rechten in
die Hände zu spielen, werden grundsätzliche Probleme umgangen, etwa die
eklatanten Demokratiedefizite der EU. No Fun Fact: Der deutsche Reichstag
unter Wilhelm I. und II. hatte mehr Haushaltskompetenzen als das
EU-Parlament; dieses muss sich das Haushaltsrecht mit dem Rat, also den
Einzelstaaten, teilen.
Oder das EU-Dogma, dass auch öffentliche Güter wie Wohnraum oder
Schienenverkehr dem Wettbewerb unterliegen. Wettbewerb, die heilige Kuh der
EU. Sozialen Wohnungsbau darf es laut EU übrigens nur für die ganz Armen
und nicht für die Mittelschicht geben, die ebenfalls schon längst unter
explodierenden Mieten leidet. Aber klar: Der Markt soll es richten, sagt
die EU.
## Kalte Sprache
Was die Angst vor den Rechten angeht, ist das Gegenteil richtig: Wenn die
Linke zu Grundsätzlichem schweigt, überlässt sie den Rechten das Terrain.
Linke, gern konstruktive EU-Kritik ist dringend nötig. Ich habe vor Jahren
mal eine EU-Pressereise nach Brüssel gemacht, die so deprimierend war, dass
mein Gehirn fast alle Erinnerungen an die Reise gelöscht hat. Ich weiß zum
Beispiel überhaupt nicht mehr, in welchem Hotel ich geschlafen habe. Ich
kann mich nur noch an die technokratische, kalte Sprache der Spitzenbeamten
und Abgeordneten, mit denen wir uns in fensterlosen Räumen trafen,
erinnern. Und an die Parlamentskantine, wo schon mittags reichlich Rotwein
ausgeschenkt wurde; anders kann man es da wohl nicht aushalten.
Wenn die Wahlkampfberichterstattungsroutine zu Ende ist und die Rechten
wegen der internen Spaltungen hoffentlich einen Dämpfer bekommen, sollten
wir mal dringend darüber reden, was grundsätzlich falsch läuft in der EU.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
25 May 2024
## LINKS
[1] /Nach-Relativierungen-der-SS/!6012267
[2] https://www.youtube.com/watch?v=MFQPaN3Slws
[3] /Ska-Keller-ueber-EU-Politik/!5983734
## AUTOREN
Gunnar Hinck
## TAGS
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