Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kritik an EU: Besser als ihr Ruf
> Der Europäischen Union wird oftmals ein Demokratiedefizit bescheinigt.
> Dabei haben Abgeordnete dort teilweise mehr Handlungsmacht als in Berlin.
Bild: Tag der offenen Tür im EU-Parlament in Brüssel im Mai 2024
In vielen deutschen Medien werden auch im Jahr 2024 noch Bilder der
Europäischen Union abgerufen, die zwar verständlich sind, aber doch nicht
immer zutreffend: Typische Beschreibungen beinhalten nichttransparente
Verhandlungen, beklagen die Überregulierung durch Bürokraten der
Europäischen Kommission oder das Gemauschel zwischen Parlament und den
Mitgliedstaaten.
Tatsächlich scheint es von außen nicht so einfach zu sein, den
Politikprozess zu verfolgen. Als Reaktion darauf wird leider häufig die
ganze Keule ausgepackt: Der Pauschalvorwurf, da herrsche ein großes
Demokratiedefizit. Doch die heutige Verfasstheit der EU ist nicht das
Problem. Die EU ist nicht weniger demokratisch als die Bundesrepublik
Deutschland.
In der Landesvertretung NRWs fand kürzlich eine gemeinsame Veranstaltung
mit der EU-Kommission zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit statt. Es
ging um einen überarbeiteten Verordnungsvorschlag. Und jetzt kommt’s: Der
neue Vorschlag basiert auf einer Initiative des Europäischen Parlaments.
Wer hätte das gedacht?
Mitgliedstaaten sollen in den Grenzregionen Koordinierungsstellen
einrichten, um strukturelle Probleme – beispielsweise für Grenzpendler – zu
beheben. Das Parlament hatte hier mit einer Resolution Druck gemacht und
eine ausgearbeitete neue Version des Gesetzestextes vorgelegt, die in
Teilen von der Kommission übernommen wurde.
[1][Sandro Gozi], ein liberaler Italiener (der in Frankreich gewählt wurde)
hat federführend an diesem Text gearbeitet. Das Beispiel zeigt den Einfluss
einzelner Abgeordneter. Es ist also gar nicht so wesentlich, ob das
Europäische Parlament nun ein formales Initiativrecht hat oder nicht.
Dieses Parlament ist in den meisten Politikbereichen gleichberechtigter
Gesetzgeber und kann auch Gesetze anstoßen. Und die Mitglieder des
Parlamentes gestalten die Gesetzestexte mit ihren Änderungsvorschlägen mit.
So hat die deutsche Grüne [2][Ska Keller] als sogenannte
Schatten-Berichterstatterin im Umweltausschuss ein [3][Gesetz zur
Verringerung der Umweltverschmutzung durch Mikroplastik] mitformuliert, der
in erster Lesung angenommen wurde.
Umso mehr hat mich gewundert, dass in der taz stand, die EU habe die einst
so „rebellisch“ gestartete [4][Ska Keller „verschluckt“], sie mache jet…
„irgendwas mit Fischerei“. Stimmt. Sie war neben dem Umweltausschuss auch
im Fischereiausschuss tätig. Sie hat sogar in einem Interview ihr Motiv für
den Rücktritt von der Fraktionsspitze dargelegt: Sie wollte stärker an der
Gesetzgebung mitarbeiten.
## Das Saarland und die Berliner Hinterzimmer
Dazu hatte sie im EU-Parlament wahrscheinlich sogar bessere Möglichkeiten
als im Bundestag, wo tatsächlich die Mehrheitsfraktionen vieles abnicken,
was aus den Ministerien kommt. Dagegen kam im EU-Parlament eine Mehrheit
für das Renaturierungsgesetz zustande, weil außer Grünen, Liberalen,
Sozialdemokraten und Linken am Ende doch auch einige Abgeordnete der
Europäischen Volkspartei (EVP) dafür stimmten. Und obwohl Manfred Weber,
der Fraktionsvorsitzende der EVP, das eigentlich hatte kippen wollen. Das
heißt: Es geht in der EU und bei der Wahl vor allem um politische
Mehrheiten. Und wenn sich die Mehrheiten ändern, ändert sich die Politik.
Vielen taz-Leserinnen mag die Politik der EU nicht links genug sein. Das
hat allerdings nichts mit einem Demokratiedefizit zu tun, sondern mit den
Mehrheiten der letzten Jahrzehnte: darum die [5][Maastricht-Kriterien] und
das [6][Griechenland-Desaster]. Die Bundesrepublik ist ja auch nicht wegen
der Schuldenbremse undemokratisch.
Ich halte es mit dem [7][Staatsrechtler Alexander Thiele]: Die EU weist mit
ihren beiden formalen Legitimationssträngen – dem direkt gewählten
Europäischen Parlament einerseits und dem indirekt demokratisch
legitimierten Rat (mit den Regierungen) andererseits ein beachtliches
Legitimationsniveau auf. Wer anderer Meinung ist, soll das belegen, vor
allem im Vergleich zur Verfasstheit der Mitgliedstaaten. Fun-Fact: Der
Bundestag muss sich in Deutschland die Gesetzgebungsarbeit mit dem
Bundesrat teilen, also einer Versammlung der Exekutive mit merkwürdiger
Stimmengewichtung – ich sage nur: Saarland. Und dieser merkwürdige
Bundesrat, der kann sogar mit Blick auf das Haushaltsrecht mitmischen! Im
Vermittlungsausschuss im Hinterzimmer.
Klar ist: Die Systeme sind natürlich nicht perfekt, dennoch wird nicht bei
jeder Wahl die Bundesrepublik infrage gestellt. Was allerdings mit Blick
auf die EU tatsächlich fehlt, ist eine solide Parlamentsberichterstattung
zu laufenden Gesetzesvorhaben, die zivilgesellschaftliche Debatten in
Europa möglich macht. Und natürlich Personalisierung. Die
Wahlberichterstattung in Deutschland ist in dieser Hinsicht unterirdisch.
Keine europäischen Debatten, nirgends. Oder kennen Sie [8][Nicolas Schmit]?
Das ist der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten und Herausforderer von
Ursula von der Leyen.
Zugegeben – wer in der EU was reißen möchte, muss sich mit den Details und
Unzulänglichkeiten der Politik beschäftigen. Es handelt sich nämlich um
eine politische Arena, inklusive politischen Streits, unterschiedlicher
Ziele und eisenharten Kampfs um Mehrheiten. Wer beispielsweise linke
Politik will, sollte für politische Mehrheiten dafür kämpfen. Wer mehr
Klimaschutz möchte, braucht entsprechend Klimaschutz-Mehrheiten.
Die europäischen Rechtsaußen Geert Wilders und Marine Le Pen haben das
übrigens verstanden, und sich deshalb von der AfD getrennt. Wie Giorgia
Meloni wollen sie jetzt umschalten, vom EU-Bashing zum Anschluss an
Mehrheiten in den Institutionen der Union. Und dann könnte tatsächlich was
grundsätzlich falsch laufen in der EU. Aber nicht, weil das EU-Parlament
den Haushalt zusammen mit den Mitgliedstaaten verabschiedet, sondern weil
sich Mehrheiten radikal verschieben.
4 Jun 2024
## LINKS
[1] https://www.europarl.europa.eu/meps/de/204419/SANDRO_GOZI/home
[2] https://www.europarl.europa.eu/meps/de/96734/SKA_KELLER/home
[3] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2024-0307_EN.html
[4] /EU-Wahlen/!6010005
[5] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/recht-a-z/323714/maastricht-kriterien/
[6] /Schwerpunkt-Krise-in-Griechenland/!t5008625
[7] https://www.businessschool-berlin.de/news-detail/neue-publikation-zur-zukun…
[8] https://nicolasschmit.eu/
## AUTOREN
Martin Unfried
## TAGS
Schwerpunkt Europawahl
Europäische Union
Demokratie
EU-Parlament
Social-Auswahl
Naturschutz
Schwerpunkt Europawahl
Schwerpunkt Europawahl
Schwerpunkt AfD
Kolumne Der rote Faden
## ARTIKEL ZUM THEMA
Renaturierungsgesetz der EU: Österreich rettet Umweltgesetz
Pläne für den EU-Naturschutz standen bis zuletzt auf der Kippe. Nun sorgt
die österreichische Klimaschutzministerin für eine Entscheidung.
EU-Spitzenkandidat der Sozialdemokraten: Europa ist Schmits Schicksal
Im Wahlkampf tauchte der Luxemburger kaum auf. Bis Schmit
Kommissionspräsidentin von der Leyen anging: Wegen fehlender Abgrenzung
gegen rechts.
Europawahl, Klimaschutz und Green Deal: Klima mobilisiert die Falschen
Vor fünf Jahren zogen die Fridays for Future durch die Straßen. Wer wehrt
sich jetzt vor der EU-Wahl gegen die Anti-Klimaschutz-Bewegung?
Podcast Bundestalk: Rückt Europa nach rechts?
Die deutschen Parteien absolvieren den Europawahlkampf ziemlich routiniert.
Höhepunkte fehlen bislang. Dabei geht es dieses Mal um viel.
EU-Wahlen: In Brüssel geht es nur mit Alkohol
Die EU hat immense Demokratiedefizite. Linke meiden kritische Fragen, um
den Rechten nicht in die Hände zu spielen – das ist ein Fehler.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.