| # taz.de -- Desinformation auf Messengerdienst: Wer kontrolliert Telegram? | |
| > Hier dürfen alle alles schreiben. Mit diesem Versprechen wurde der | |
| > Messengerdienst Telegram zur wohl wichtigsten Plattform für Hetze. Die | |
| > einzudämmen, ist nicht so leicht. | |
| Stockholm/Berlin taz | Es war der 26. März, gegen 1.30 Uhr morgens, als der | |
| Frachter „Dali“, beladen mit Tausenden Containern, [1][die | |
| Francis-Scott-Key-Brücke in Baltimore rammt]e. Einer der wichtigsten Häfen | |
| der USA ist nun unbefahrbar, der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Zum | |
| Zeitpunkt des Unglücks tobte in den USA der politische Streit um ein von | |
| den Republikanern blockiertes Ukraine-Hilfspaket für 60 Milliarden Dollar. | |
| Wer wissen wollte, wer hinter dem Unglück steckte, der bekam die heißesten | |
| News beim Messengerdienst Telegram. Nur Stunden nach dem Vorfall kursierte | |
| auf vielen Social-Media-Plattformen die Falschmeldung, dass – „BREAKING“ … | |
| der Kapitän der „Dali“ ein Ukrainer war. Selbst auf Musks Plattform X gab | |
| es allerdings schnell Warnhinweise, dass der fragliche 52-jährige | |
| ukrainische Kapitän die „Dali“ nur bis 2016 steuerte. Auf Telegram aber | |
| übernahm scheinbar der ukrainische Widerstand die Verantwortung: Unter | |
| einem Bild der eingestürzten Brücke, mit stolzem Bizeps-Emoji, hieß es: | |
| „Wir werden euch noch beibringen, wie man die Demokratie verteidigt.“ Die | |
| Gruppe mit einem Banner der ukrainischen Armee im Profil bejubelte den | |
| angeblichen gelungenen Sabotageakt. | |
| Solche Posts waren Wasser auf die Mühlen der Gegner der Ukraine-Hilfen. Die | |
| Falschmeldung konnte sich auf Telegram ungehindert verbreiten und von dort | |
| immer wieder auf andere Plattformen gelangen. Denn Telegram, das auf eine | |
| Milliarde Nutzer:innen weltweit zusteuert, kennt keine Regeln. Kein | |
| Portal dieser Größe verzichtet so konsequent auf die Moderation von | |
| Inhalten und Faktenchecks. Mit nur 50 Beschäftigten, darunter 30 | |
| Programmierern, betreibt der Gründer und Alleininhaber Pawel Durow, ein | |
| russischer Software-Entwickler, die Plattform aus Dubai. | |
| Die Freiheit, in den Gruppen mit bis zu 200.000 Nutzern und in Kanälen von | |
| unbegrenzter Größe alles zu verbreiten, hat Durow zum Markenkern erhoben. | |
| Telegram kämpfe für die Redefreiheit, heißt es in der Selbstdarstellung. Es | |
| habe so eine „prominente Rolle“ in prodemokratischen Bewegungen etwa in | |
| Iran, Russland, Belarus, Myanmar und Hongkong gespielt. | |
| ## Die zwei Gesichter von Telegram | |
| Das ist nicht falsch. An Orten, an denen freie Meinungsäußerungen kaum | |
| möglich sind, bietet Telegram einen offenen Raum. Doch gleichzeitig ist es | |
| heute die global womöglich wichtigste Plattform für Fake News, | |
| Verschwörungsideologie und Online-Hetze. | |
| Unter den heute zehn größten Telegram-Channels [2][in Deutschland etwa sind | |
| mindestens acht rechtsextrem], offene Kreml-Propaganda oder | |
| verschwörungsideologisch. Ihre jeweils sechsstellige Reichweite lässt dabei | |
| jene großer Tageszeitungen locker hinter sich. Die Plattform entwickle sich | |
| „zunehmend zu einem Medium der Radikalisierung“, schrieb das | |
| Bundeskriminalamt (BKA) schon 2022 und beklagte unter anderem die Zunahme | |
| von Mordaufrufen. | |
| „Die auf der Plattform geteilten prorussischen Desinformationen schaffen es | |
| weit über die Chatverläufe hinaus, tief in die politischen Diskurse und | |
| Einstellungen Einfluss zu nehmen“, heißt es in einer [3][Analyse des | |
| Berliner CeMAS-Instituts]. Rechtsextreme „Alternativmedien“ erreichen über | |
| Telegram ein sechsstelliges Publikum und schaffen es so, selbst größere | |
| Redaktionen zu finanzieren, so CeMAS. | |
| Weltweit verbreiten sich zweifelhafte Inhalte über die Plattform: Hamas, | |
| der IS, organisierte Kriminelle, Neonazis, sie alle nutzen die Freiheit von | |
| Telegram. Hier gibt es Bombenbauanleitungen, Todeslisten, Drogen, Waffen. | |
| In autoritären Gesellschaften ist Telegram ein Werkzeug des Kampfes für | |
| Rechte und Demokratie. Wo die Gesellschaften liberal verfasst sind, schafft | |
| sie hingegen einen Raum für Lügen und Hass. Wer sich dem zu lange aussetzt, | |
| wendet sich von der Demokratie ab. | |
| ## Ein EU-Gesetz soll helfen | |
| Seit dem 17. Februar ist nun in der EU ein Regelwerk in Kraft, das die | |
| Plattformen regulieren soll: das [4][Gesetz über digitale Dienste]. Der | |
| Digital Service Act (DSA) werde eine „sicherere und transparentere | |
| Online-Welt gestalten“, sagte Digital-Kommissarin Margrethe Vestager. Wer | |
| in Brüssel und Berlin heute herumfragt, wie die Politik gegen Hass und | |
| Desinformation auf Telegram und den anderen Plattformen vorzugehen gedenkt, | |
| bekommt fast immer die gleiche Antwort: mit dem DSA. | |
| 2020 hatte Vestager dessen ersten Entwurf vorgelegt. Sie stand vor der | |
| Schwierigkeit, jeden Eindruck staatlicher Zensur vermeiden zu müssen und | |
| gleichzeitig ein wirksames Instrument gegen Desinformation und Hetze zu | |
| schaffen. Vestager präsentierte eine kluge Lösung. Der DSA listet | |
| „systemische Risiken“ auf – Bereiche in denen ein unkontrollierter | |
| Informationsfluss der Gesellschaft schaden kann: Grundrechte, Privatsphäre, | |
| Kinderrechte, Diskriminierung, öffentliche Gesundheit, Wahlen, öffentliche | |
| Sicherheit und der „zivile Diskurs“. | |
| Die großen Onlineplattformen müssen gegenüber der Kommission darlegen, was | |
| sie gegen diese Risiken tun. Eine eigens aufgebaute Abteilung der | |
| EU-Kommission unter Leitung des Deutschen Prabhat Agarwal prüft, ob die | |
| Anstrengungen ausreichend sind. Sind sie es nicht, drohen Bußgelder von bis | |
| zu 6 Prozent des jährlichen Konzernumsatzes. | |
| Diese Verpflichtung greift aber erst ab einer Nutzerzahl von 45 Millionen | |
| in der EU. Telegram behauptete im Februar 2024, nur 41 Millionen Nutzer zu | |
| haben. Fachleute bezweifeln dies, der EU reicht die Selbstauskunft aber | |
| vorerst. „Wir beobachten die Marktentwicklung“, sagt ein Sprecher der | |
| Kommission auf Anfrage der taz. Telegram jedenfalls kann so bisher dem | |
| „Risikomanagement“ entgehen. | |
| ## Bislang nur Verluste | |
| Das muss nicht so bleiben. Telegram ist kostenlos, Werbung gibt es kaum. | |
| Der Eigner Pawel Durow rechnet damit, bis 2025 weiter Verluste zu machen. | |
| Bisher sponsert er den Betrieb aus seinem Privatvermögen. Mitte März aber | |
| dachte Durow laut darüber nach, Telegram an die Börse zu bringen. Auf einen | |
| Wert von 30 Milliarden Euro schätzen Analysten den Unternehmenswert. Die | |
| US-Börsenaufsicht dürfte sich indes kaum mit so vagen Auskünften abspeisen | |
| lassen wie heute die EU. Gut möglich, dass Telegram einräumen wird, die | |
| 45-Millionen-Schwelle überschritten zu haben, und „Risikomanagement“ | |
| betreiben muss. | |
| Noch aber ist es nicht so weit. Das Unternehmen ist bekannt dafür, sich | |
| staatlicher Kontrolle zu entziehen. In Dubai „lässt die Regierung uns in | |
| Ruhe“, sagte Durow kürzlich. Das Emirat sei „neutral“. Während der | |
| jahrelangen Beratungen zum DSA schickte Telegram als einzige Plattform | |
| keine Lobbyisten nach Brüssel – eine absolute Ausnahme für Unternehmen | |
| dieser Größe, die sonst praktisch alles tun, um Gesetzgebungsverfahren in | |
| ihrem Sinne zu beeinflussen. | |
| Jahrelang war Telegram für Regierungen schlichtweg nicht erreichbar. Nur | |
| sieben Administratoren sollen für die mehr als 80.000 verschlüsselten | |
| Server zuständig sein, die weltweit verteilt sind. Einzelne Regierungen | |
| können schon rein technisch kaum darauf zugreifen. Vergeblich versuchte | |
| etwa das deutsche BKA lange, Nutzerdaten wegen Verdachtsfällen von | |
| Kinderpornografie und Terrorismus zu bekommen. Erst 2022 verkündete | |
| Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stolz, es sei gelungen, „Kontakt | |
| zur Konzernspitze von Telegram herzustellen“. | |
| In einer Videkonferenz habe es das „erste konstruktive Gespräch zur | |
| weiteren Zusammenarbeit“ gegeben, man habe „vereinbart, den Austausch | |
| fortzusetzen“, so Faeser. Die Strafverfolgungsbehörden traten Telegram als | |
| Bittsteller entgegen. Allerdings nicht ohne Erfolg: Das Unternehmen rühmt | |
| sich zwar bis heute „0 Byte Nutzerdaten an Dritte einschließlich aller | |
| Regierungen“ weitergegeben zu haben. [5][Nach Recherchen des Spiegels | |
| rückte Durow an das BKA aber sehr wohl vereinzelt Daten heraus]. | |
| Der DSA verpflichtet die Plattformen nun, einen Repräsentanten in der EU zu | |
| benennen, an den die Behörden sich wenden können. Telegram beauftragte | |
| dafür einen externen Dienstleister, eine neu gegründete Brüsseler | |
| Briefkastenfirma namens EDSR. Deren Geschäftsmodell ist es, für Plattformen | |
| aus Nicht-EU-Staaten die vom DSA geforderte Repräsentanz darzustellen. | |
| Inhaberin ist die kanadische Anwältin Jane Murphy, die das Geschäft | |
| pünktlich zum Inkrafttreten des DSA startete. | |
| ## Image maximaler Staatsferne | |
| Kann sich künftig an sie wenden, wer etwa auf Telegram mit dem Tod bedroht | |
| oder wessen Privatadresse veröffentlicht wird? Man sei „bedauerlicherweise | |
| nicht in der Lage, irgendetwas über die Klienten oder ihre | |
| Geschäftstätigkeit preiszugeben“, schreibt ein Sprecher Murphys auf | |
| taz-Anfrage. | |
| Vor einem Interview bittet er um ein Vorab-Gespräch per Videokonferenz, | |
| danach um einen vollständigen Fragenkatalog. Schließlich sagt er, Murphy | |
| befinde sich „in einer sehr arbeitsreichen Zeit“ und werde „in naher | |
| Zukunft nicht in der Lage sein, einen sinnvollen Beitrag zu einem Artikel | |
| zu leisten“. Viel gesprächiger ist Telegram selbst auch nicht, und das ist | |
| zweifellos der Sinn des Ganzen: Telegram weiterhin so weit abzuschotten, | |
| wie das Gesetz es zulässt. | |
| Denn Durow pflegt mit Hingabe das Image maximaler Staatsferne. Auch wenn | |
| Telegram heute als globales Vehikel russischer Propaganda gilt, weist Durow | |
| jede Verbindung zum Kreml strikt zurück. Tatsächlich musste er 2014 | |
| Russland verlassen, nachdem es Ärger mit seiner ersten Plattform, dem | |
| russischen Facebook-Pendant VKontakte (VK) gab. Durow hatte sich geweigert, | |
| Daten an den russischen Geheimdienst FSB weiterzugeben und Inhalte zu | |
| löschen. | |
| Er musste seinen VK-Anteil kremlfreundlichen Oligarchen verkaufen. 2018 | |
| verweigerte Durow der Regierung auch Telegram-Nutzerdaten, woraufhin der | |
| Messenger in Russland verboten wurde. Doch Durow vermochte den Bann | |
| technisch zu umgehen. Seither gilt er als aufrechter Kämpfer für die freie | |
| Meinungsäußerung. | |
| Durow kommt heute zugute, dass den Plattformen, die demokratiezersetzender | |
| Propaganda Raum geben, im Westen mit Sanftmut begegnet wird. Statt auf | |
| Härte setzt die EU auf Kooperation. Das kann funktionieren, solange die | |
| Konzerne halbwegs mitziehen. Aber die Tech-Milliardäre haben die Wahl, | |
| kooperativ zu sein, wenn es ihnen passt – wie derzeit Mark Zuckerberg mit | |
| Meta – oder eben nicht, wie eben Durow. | |
| Dabei könnte etwa die EU-Kommission Apple und Google anweisen, die | |
| Telegram-App in der EU aus dem App-Store zu verbannen. Die Plattform ließe | |
| sich in der EU technisch blockieren, ein Zugang wäre dann nur noch | |
| aufwändig per VPN-Tunnel möglich. Doch die Fake News würden sich andere | |
| Plattformen suchen – und der Westen stünde als Zensor da. | |
| ## Hybride Bedrohungen | |
| Dabei ist Telegram heute auch ein Instrument in Kriegen geworden. Die | |
| Plattform sei „fester Bestandteil der Kommunikations- und | |
| Informationskriegsführung der Hamas“, schreibt der israelische Analyst Tal | |
| Hagin. Ähnlich beim Ukrainekrieg. Am 19. Februar hörte Russland ein | |
| Gespräch deutscher Militärs zu möglichen Lieferungen von | |
| Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab. | |
| Zehn Tage später veröffentlichte Margarita Simonjan, die Chefredakteurin | |
| des russischen Staatsmedienkonglomerats Rossija Sewodnja, als Erste den | |
| Mitschnitt – nicht etwa in eigenen Sendern wie Russia Today, sondern auf | |
| ihrem Telegram-Kanal. Für „hybride Bedrohungen“ – etwa echte Information… | |
| die mit falschen gemischt und als Waffe eingesetzt werden – ist Telegram, | |
| wie der Taurus-Leak erneut zeigte, heute eine der ersten Adressen. | |
| Die EU hat einen Chefdiplomaten, der für „Foreign Information Manipulation | |
| and Interference“, für hybride Bedrohungen also, zuständig ist. Es ist der | |
| Deutsche Lutz Güllner. Nach dem Taurus-Leak reist er nach Berlin, um zu | |
| erklären, was die EU Russlands Info-Attacken entgegensetzt. An einem | |
| sonnigen Dienstag im März sitzt er in den Räumen der EU-Kommission in | |
| Berlin und spricht über den „schleichenden Prozess der Destabilisierung“, | |
| mit dem der Westen es zu tun habe. | |
| Die Kommission beobachte den „gezielten, langfristigen Aufbau von | |
| Netzwerken zur Manipulation von Informationen“, so Güllner. Desinformation | |
| sei alt, neu seien die technischen Möglichkeiten zur „Ampflizierung“: | |
| Geheimdienst-Operationen auf Plattformen bis hin zu Netzwerken von Usern | |
| mit falschen Identitäten. Russland sei einer der aktivsten Akteure. „Hier | |
| gibt es die größte Evidenz der Beteiligung staatlicher Stellen und ihrer | |
| Dunstkreise.“ | |
| Desinformation müsse dabei nicht faktisch falsch sein. Entscheidend sei die | |
| manipulative Absicht – etwa bei den Bauernprotesten. „Die sind nicht per se | |
| orchestriert von Moskau und niemand wird behaupten, dass da nicht auch | |
| tatsächliche Sorgen dahinterstehen, ob man das nun teilt oder nicht.“ Doch | |
| Desinformations-Netzwerke „springen ganz opportunistisch auf solche | |
| Konflikte auf und verstärken sie“. | |
| Tatsächlich hatten während der Bauernproteste etwa die Putin-begeisterten | |
| rechtsextremen Medien Auf1 – ein österreichischer TV-Sender – und das | |
| Compact-Magazin sich als Sprachrohr der Proteste inszeniert. Auf1 hatte | |
| dabei vor allem auf seinem Telegram-Kanal – 270.000 Abonnenten – von | |
| „tatsächlichen Geheimplänen“ der „globalistischen Eliten“ geraunt, die | |
| „groß angelegten Bevölkerungsaustausch“ anstrebten. Compact hatte während | |
| der Proteste auf Telegram – 60.000 Abonnenten – unter anderem behauptet, | |
| Moskau habe „die Nase gestrichen voll von der deutschen Kriegstreiberei“, | |
| weshalb die „Legitimation für die deutsche Wiedervereinigung“ infrage | |
| gestellt sei. Das ist zweifellos manipulativ. Doch wer „nur auf die Inhalte | |
| schaut, kommt auf die schiefe Ebene, verheddert sich in Fragen, was gesagt | |
| werden darf“, sagt Güllner. „Wer sollte denn entscheiden, was irgendwo | |
| runtergenommen wird?“ | |
| ## Schweden ist schon weiter | |
| Besser sei, auf die Mittel zu schauen: Etwa ob Bots verwendet oder | |
| Identitäten vorgetäuscht werden. „Das ist ein klarer Indikator für | |
| Manipulation, das sind illegitime Mittel.“ Denn schnell ist sonst der | |
| Vorwurf im Raum, die Redefreiheit zu beschränken. Er würde die Logik gern | |
| umkehren, meint Güllner dazu. „Indem wir Manipulation zurückdrängen, | |
| schützen wir die freie Meinungsäußerung der echten, genuinen, authentischen | |
| Stimmen.“ | |
| Denn der Westen sei „nicht schutzlos“, sagt Güllner. „Wir können selber | |
| transparent sein, aufklären, die Muster zeigen.“ Zivilgesellschaft, | |
| Medienkompetenz, Fakt-Checking Organisationen und Forschung müssten | |
| gestärkt werden. Letztlich müssten die Regierungen auch regulieren – und | |
| sanktionieren. Den DSA nennt Güllner „einen sehr wichtigen Schritt nach | |
| vorne, aber nicht ausreichend“. Er müsse „flankiert werden durch andere | |
| Maßnahmen.“ Immerhin nehme die Verordnung die Tech-Unternehmen nun in die | |
| Pflicht. Das Konzept, „das Risiko zum Thema machen, nicht den Inhalt,“ hält | |
| Güllner für einen guten Weg. | |
| Das sieht man auch in Schweden so. Es ist neben Frankreich das einzige | |
| EU-Land, das dafür eine nationale Behörde aufgebaut hat: die zum | |
| Verteidigungsministerium gehörende Agentur für Psychologische Verteidigung | |
| nämlich. Sie residiert in Stockholm in einem unauffälligen gelben Gebäude | |
| nördlich der Innenstadt. Gitter und Türen sind dicker als bei Ämtern | |
| üblich, der Eingang ist schwerer gesichert, als die zivile Erscheinung | |
| erwarten lässt. | |
| Das Interieur ist nobel, auf Sideboards stehen Nato-Wimpel. Gäste werden | |
| zuvorkommend behandelt, aber keine Sekunde aus den Augen gelassen. „Der | |
| Informationskrieg ist eine ernste Sache,“ sagt Andrea Liebman. Sie leitet | |
| die Analyse-Abteilung. In Wollpulli und Jeans sitzt sie am Tisch, drei | |
| Handys vor sich. Fast hätte sie es nicht in die Stadt geschafft, zu dicht | |
| war an diesem Freitag im April noch das Schneetreiben. | |
| ## Das Recht auf Unwahrheit | |
| Seit der Annexion der Krim sei klar gewesen, dass Schweden ins Visier | |
| hybrider Angriffe aus Russland geraten könnte, sagt Liebman So begann das | |
| Land schon 2014, sich gegen „maligne Desinformation“ systematisch zu | |
| wehren. Liebman benutzt die gleiche Vokabel, die im Englischen für | |
| bösartige Tumore verwendet wird. Und je stärker das Land in die Nato | |
| strebte, desto stärker wurden die Attacken. | |
| „Menschen haben das Recht, Unwahrheiten zu sagen“, sagt sie. „Das rühren | |
| wir nicht an.“ Relevant werde es erst, wenn „ausländische Akteure unter | |
| falscher Flagge versuchen, die schwedische Bevölkerung, schwedische | |
| Entscheidungen oder schwedische Interessen zu beeinflussen“. Liebman setzt | |
| dagegen vor allem auf eigene Kommunikation. 2022 etwa attackierten | |
| islamistische Gruppen Schweden mit massenhaften Falschmeldungen über den | |
| angeblichen Entzug von Kindern aus islamischen Familien. | |
| Die Kinder würden zur „Zwangschristianisierung“ in staatliche Pflegeheime | |
| gesteckt, in denen Pädophile arbeiteten. Das Risiko für Terroranschläge | |
| stieg. „Wir haben den Ministerpräsidenten gebrieft, der hat in einer | |
| Pressekonferenz zu den Falschbehauptungen Stellung bezogen“, sagt sie. | |
| Behörden kommunizierten auf Arabisch – mit Erfolg. „Der Schlüssel war, zu | |
| diesem Zeitpunkt selbst eine breite Öffentlichkeit anzusprechen.“ | |
| Gegenüber den Plattformen setzt Liebman auf Kooperation. „Es sind | |
| gigantische private Unternehmen, die eine unglaubliche Macht haben“, sagt | |
| sie. Nicht nur finanzielle Macht, sondern auch eine „unglaubliche Menge“ an | |
| Wissen über die Nutzer. „Sie wissen mehr über die Bevölkerung als das | |
| eigene Land.“ Die Agentur stehe in „ständigem Dialog mit den Plattformen�… | |
| sagt Liebman. Für Telegram gilt das allerdings nicht. | |
| „Aber wir sagen ihnen nicht, was sie tun sollen. Wir schlagen niemals vor, | |
| Informationen zu blockieren.“ Die Redefreiheit sei ein zu hohes Gut. Die | |
| Plattformen hätten schließlich schon vor Jahren begonnen, Mechanismen gegen | |
| Desinformationen einzuführen. Das sei mittlerweile Teil ihrer PR. „Die | |
| Plattformen wollen verstehen, welche enorme Wirkung sie auf unsere | |
| demokratischen Gesellschaften haben, sie wollen sich selbst regulieren“, | |
| glaubt Liebman. Der DSA verstärke dies. | |
| Aber was, wenn nicht – so wie Telegram? Das sei „sicher eine | |
| Herausforderung“, räumt Liebman ein. „Da wir wissen, dass Telegram nicht | |
| ansprechbar ist, beobachten wir eher, welche Schwachstellen damit verbunden | |
| sind“, sagt sie. Dialogversuche würden „sowieso nicht funktionieren“, da | |
| das Unternehmen die Plattform nicht vor Desinformation schütze. Also müsse | |
| man die „Schwachstellen aus der Perspektive der Verwundbarkeit betrachten.“ | |
| Soll heißen: Gegenstrategien entwickeln, wenn die hybriden Attacken sich | |
| auf Telegram verbreiten. | |
| ## Druck wirkt | |
| Das Dilemma ist groß: Lassen Staaten die Dinge in den sozialen Medien | |
| laufen, wenden sich weiter Menschen von der Demokratie ab, kann Russland | |
| seinen Einfluss ausbauen. Schreiten die Staaten zu sehr ein, tasten sie die | |
| Redefreiheit an. Müssen sie also weiter hinnehmen, wenn auf Telegram der | |
| Ukraine die Zerstörung der Baltimore-Brücke oder den Grünen der Geheimplan | |
| des „Großen Reset“ in die Schuhe geschoben wird? | |
| Ja und Nein, sagt Mauritius Dorn vom Institute for Strategic Dialogue, | |
| einer der wichtigsten Institutionen, die über Regeln für soziale Medien | |
| nachdenken. Zwar könne Desinformation als „systemisches Risiko“ im Sinne | |
| des DSA eingestuft werden, gegen das die großen Plattformen vorgehen | |
| müssen. „Das bezieht sich aber nie auf einzelne Inhalte, sondern auf die | |
| Dienstleistungen, die zur Entstehung solcher Risiken beitragen“, so Dorn. | |
| Allerdings biete das EU-Recht Möglichkeiten, um gegen rechtswidrige Inhalte | |
| wie Verleumdung, Volksverhetzung oder terroristische Gewaltaufrufe auf | |
| Telegram vorzugehen. | |
| Dass Telegram für die Staaten so unantastbar sei, wie die Plattform selbst | |
| gern glauben mache, sei ein Irrtum, sagt der Gründer des CeMAS-Instituts, | |
| Josef Holnburger. „Bei genügend Druck beugt sich Telegram. Auch wenn sie | |
| angeben, dass sie nie mit Staaten kooperieren – die Historie zeigt, dass | |
| das nicht stimmt.“ Der [6][Nawalny-Spendenbot] etwa wurde gelöscht, in | |
| Indonesien und Brasilien habe die Plattform auch kooperiert. „Telegram | |
| knickt bei zu viel Druck ein, zumindest zeitweise.“ Anscheinend habe auch | |
| der Druck der EU hier bereits etwas bewegt. Wie viel und wie lange, bleibe | |
| abzuwarten. | |
| Dieser Bericht ist Teil des Rechercheprojekts „[7][Decoding the | |
| disinformation playbook of populism in Europe]“, das vom International | |
| Press Institute in Wien geleitet und in Zusammenarbeit mit Faktograf und | |
| taz durchgeführt wird. Das Projekt wird von dem European Media and | |
| Information Fund finanziell unterstützt, der von der | |
| Calouste-Gulbenkian-Stiftung verwaltet wird. | |
| 13 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Brueckeneinsturz-in-Baltimore/!6000993 | |
| [2] /Kooperation-gegen-Rechtsextremismus/!5929294 | |
| [3] https://report.cemas.io/telegram/ | |
| [4] /Digital-Markets-und-Digital-Services-Act/!5992274 | |
| [5] https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/telegram-gibt-nutzerdaten-an-das-bunde… | |
| [6] https://www.rferl.org/a/telegram-navalny-smart-voting/31466263.html | |
| [7] https://ipi.media/decoding-disinformation-playbook/ | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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