# taz.de -- Desinformation auf Messengerdienst: Wer kontrolliert Telegram? | |
> Hier dürfen alle alles schreiben. Mit diesem Versprechen wurde der | |
> Messengerdienst Telegram zur wohl wichtigsten Plattform für Hetze. Die | |
> einzudämmen, ist nicht so leicht. | |
STOCKHOLM/BERLIN taz | Es war der 26. März, gegen 1.30 Uhr morgens, als der | |
Frachter „Dali“, beladen mit Tausenden Containern, [1][die | |
Francis-Scott-Key-Brücke in Baltimore rammt]e. Einer der wichtigsten Häfen | |
der USA ist nun unbefahrbar, der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Zum | |
Zeitpunkt des Unglücks tobte in den USA der politische Streit um ein von | |
den Republikanern blockiertes Ukraine-Hilfspaket für 60 Milliarden Dollar. | |
Wer wissen wollte, wer hinter dem Unglück steckte, der bekam die heißesten | |
News beim Messengerdienst Telegram. Nur Stunden nach dem Vorfall kursierte | |
auf vielen Social-Media-Plattformen die Falschmeldung, dass – „BREAKING“ … | |
der Kapitän der „Dali“ ein Ukrainer war. Selbst auf Musks Plattform X gab | |
es allerdings schnell Warnhinweise, dass der fragliche 52-jährige | |
ukrainische Kapitän die „Dali“ nur bis 2016 steuerte. Auf Telegram aber | |
übernahm scheinbar der ukrainische Widerstand die Verantwortung: Unter | |
einem Bild der eingestürzten Brücke, mit stolzem Bizeps-Emoji, hieß es: | |
„Wir werden euch noch beibringen, wie man die Demokratie verteidigt.“ Die | |
Gruppe mit einem Banner der ukrainischen Armee im Profil bejubelte den | |
angeblichen gelungenen Sabotageakt. | |
Solche Posts waren Wasser auf die Mühlen der Gegner der Ukraine-Hilfen. Die | |
Falschmeldung konnte sich auf Telegram ungehindert verbreiten und von dort | |
immer wieder auf andere Plattformen gelangen. Denn Telegram, das auf eine | |
Milliarde Nutzer:innen weltweit zusteuert, kennt keine Regeln. Kein | |
Portal dieser Größe verzichtet so konsequent auf die Moderation von | |
Inhalten und Faktenchecks. Mit nur 50 Beschäftigten, darunter 30 | |
Programmierern, betreibt der Gründer und Alleininhaber Pawel Durow, ein | |
russischer Software-Entwickler, die Plattform aus Dubai. | |
Die Freiheit, in den Gruppen mit bis zu 200.000 Nutzern und in Kanälen von | |
unbegrenzter Größe alles zu verbreiten, hat Durow zum Markenkern erhoben. | |
Telegram kämpfe für die Redefreiheit, heißt es in der Selbstdarstellung. Es | |
habe so eine „prominente Rolle“ in prodemokratischen Bewegungen etwa in | |
Iran, Russland, Belarus, Myanmar und Hongkong gespielt. | |
## Die zwei Gesichter von Telegram | |
Das ist nicht falsch. An Orten, an denen freie Meinungsäußerungen kaum | |
möglich sind, bietet Telegram einen offenen Raum. Doch gleichzeitig ist es | |
heute die global womöglich wichtigste Plattform für Fake News, | |
Verschwörungsideologie und Online-Hetze. | |
Unter den heute zehn größten Telegram-Channels [2][in Deutschland etwa sind | |
mindestens acht rechtsextrem], offene Kreml-Propaganda oder | |
verschwörungsideologisch. Ihre jeweils sechsstellige Reichweite lässt dabei | |
jene großer Tageszeitungen locker hinter sich. Die Plattform entwickle sich | |
„zunehmend zu einem Medium der Radikalisierung“, schrieb das | |
Bundeskriminalamt (BKA) schon 2022 und beklagte unter anderem die Zunahme | |
von Mordaufrufen. | |
„Die auf der Plattform geteilten prorussischen Desinformationen schaffen es | |
weit über die Chatverläufe hinaus, tief in die politischen Diskurse und | |
Einstellungen Einfluss zu nehmen“, heißt es in einer [3][Analyse des | |
Berliner CeMAS-Instituts]. Rechtsextreme „Alternativmedien“ erreichen über | |
Telegram ein sechsstelliges Publikum und schaffen es so, selbst größere | |
Redaktionen zu finanzieren, so CeMAS. | |
Weltweit verbreiten sich zweifelhafte Inhalte über die Plattform: Hamas, | |
der IS, organisierte Kriminelle, Neonazis, sie alle nutzen die Freiheit von | |
Telegram. Hier gibt es Bombenbauanleitungen, Todeslisten, Drogen, Waffen. | |
In autoritären Gesellschaften ist Telegram ein Werkzeug des Kampfes für | |
Rechte und Demokratie. Wo die Gesellschaften liberal verfasst sind, schafft | |
sie hingegen einen Raum für Lügen und Hass. Wer sich dem zu lange aussetzt, | |
wendet sich von der Demokratie ab. | |
## Ein EU-Gesetz soll helfen | |
Seit dem 17. Februar ist nun in der EU ein Regelwerk in Kraft, das die | |
Plattformen regulieren soll: das [4][Gesetz über digitale Dienste]. Der | |
Digital Service Act (DSA) werde eine „sicherere und transparentere | |
Online-Welt gestalten“, sagte Digital-Kommissarin Margrethe Vestager. Wer | |
in Brüssel und Berlin heute herumfragt, wie die Politik gegen Hass und | |
Desinformation auf Telegram und den anderen Plattformen vorzugehen gedenkt, | |
bekommt fast immer die gleiche Antwort: mit dem DSA. | |
2020 hatte Vestager dessen ersten Entwurf vorgelegt. Sie stand vor der | |
Schwierigkeit, jeden Eindruck staatlicher Zensur vermeiden zu müssen und | |
gleichzeitig ein wirksames Instrument gegen Desinformation und Hetze zu | |
schaffen. Vestager präsentierte eine kluge Lösung. Der DSA listet | |
„systemische Risiken“ auf – Bereiche in denen ein unkontrollierter | |
Informationsfluss der Gesellschaft schaden kann: Grundrechte, Privatsphäre, | |
Kinderrechte, Diskriminierung, öffentliche Gesundheit, Wahlen, öffentliche | |
Sicherheit und der „zivile Diskurs“. | |
Die großen Onlineplattformen müssen gegenüber der Kommission darlegen, was | |
sie gegen diese Risiken tun. Eine eigens aufgebaute Abteilung der | |
EU-Kommission unter Leitung des Deutschen Prabhat Agarwal prüft, ob die | |
Anstrengungen ausreichend sind. Sind sie es nicht, drohen Bußgelder von bis | |
zu 6 Prozent des jährlichen Konzernumsatzes. | |
Diese Verpflichtung greift aber erst ab einer Nutzerzahl von 45 Millionen | |
in der EU. Telegram behauptete im Februar 2024, nur 41 Millionen Nutzer zu | |
haben. Fachleute bezweifeln dies, der EU reicht die Selbstauskunft aber | |
vorerst. „Wir beobachten die Marktentwicklung“, sagt ein Sprecher der | |
Kommission auf Anfrage der taz. Telegram jedenfalls kann so bisher dem | |
„Risikomanagement“ entgehen. | |
## Bislang nur Verluste | |
Das muss nicht so bleiben. Telegram ist kostenlos, Werbung gibt es kaum. | |
Der Eigner Pawel Durow rechnet damit, bis 2025 weiter Verluste zu machen. | |
Bisher sponsert er den Betrieb aus seinem Privatvermögen. Mitte März aber | |
dachte Durow laut darüber nach, Telegram an die Börse zu bringen. Auf einen | |
Wert von 30 Milliarden Euro schätzen Analysten den Unternehmenswert. Die | |
US-Börsenaufsicht dürfte sich indes kaum mit so vagen Auskünften abspeisen | |
lassen wie heute die EU. Gut möglich, dass Telegram einräumen wird, die | |
45-Millionen-Schwelle überschritten zu haben, und „Risikomanagement“ | |
betreiben muss. | |
Noch aber ist es nicht so weit. Das Unternehmen ist bekannt dafür, sich | |
staatlicher Kontrolle zu entziehen. In Dubai „lässt die Regierung uns in | |
Ruhe“, sagte Durow kürzlich. Das Emirat sei „neutral“. Während der | |
jahrelangen Beratungen zum DSA schickte Telegram als einzige Plattform | |
keine Lobbyisten nach Brüssel – eine absolute Ausnahme für Unternehmen | |
dieser Größe, die sonst praktisch alles tun, um Gesetzgebungsverfahren in | |
ihrem Sinne zu beeinflussen. | |
Jahrelang war Telegram für Regierungen schlichtweg nicht erreichbar. Nur | |
sieben Administratoren sollen für die mehr als 80.000 verschlüsselten | |
Server zuständig sein, die weltweit verteilt sind. Einzelne Regierungen | |
können schon rein technisch kaum darauf zugreifen. Vergeblich versuchte | |
etwa das deutsche BKA lange, Nutzerdaten wegen Verdachtsfällen von | |
Kinderpornografie und Terrorismus zu bekommen. Erst 2022 verkündete | |
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stolz, es sei gelungen, „Kontakt | |
zur Konzernspitze von Telegram herzustellen“. | |
In einer Videkonferenz habe es das „erste konstruktive Gespräch zur | |
weiteren Zusammenarbeit“ gegeben, man habe „vereinbart, den Austausch | |
fortzusetzen“, so Faeser. Die Strafverfolgungsbehörden traten Telegram als | |
Bittsteller entgegen. Allerdings nicht ohne Erfolg: Das Unternehmen rühmt | |
sich zwar bis heute „0 Byte Nutzerdaten an Dritte einschließlich aller | |
Regierungen“ weitergegeben zu haben. [5][Nach Recherchen des Spiegels | |
rückte Durow an das BKA aber sehr wohl vereinzelt Daten heraus]. | |
Der DSA verpflichtet die Plattformen nun, einen Repräsentanten in der EU zu | |
benennen, an den die Behörden sich wenden können. Telegram beauftragte | |
dafür einen externen Dienstleister, eine neu gegründete Brüsseler | |
Briefkastenfirma namens EDSR. Deren Geschäftsmodell ist es, für Plattformen | |
aus Nicht-EU-Staaten die vom DSA geforderte Repräsentanz darzustellen. | |
Inhaberin ist die kanadische Anwältin Jane Murphy, die das Geschäft | |
pünktlich zum Inkrafttreten des DSA startete. | |
## Image maximaler Staatsferne | |
Kann sich künftig an sie wenden, wer etwa auf Telegram mit dem Tod bedroht | |
oder wessen Privatadresse veröffentlicht wird? Man sei „bedauerlicherweise | |
nicht in der Lage, irgendetwas über die Klienten oder ihre | |
Geschäftstätigkeit preiszugeben“, schreibt ein Sprecher Murphys auf | |
taz-Anfrage. | |
Vor einem Interview bittet er um ein Vorab-Gespräch per Videokonferenz, | |
danach um einen vollständigen Fragenkatalog. Schließlich sagt er, Murphy | |
befinde sich „in einer sehr arbeitsreichen Zeit“ und werde „in naher | |
Zukunft nicht in der Lage sein, einen sinnvollen Beitrag zu einem Artikel | |
zu leisten“. Viel gesprächiger ist Telegram selbst auch nicht, und das ist | |
zweifellos der Sinn des Ganzen: Telegram weiterhin so weit abzuschotten, | |
wie das Gesetz es zulässt. | |
Denn Durow pflegt mit Hingabe das Image maximaler Staatsferne. Auch wenn | |
Telegram heute als globales Vehikel russischer Propaganda gilt, weist Durow | |
jede Verbindung zum Kreml strikt zurück. Tatsächlich musste er 2014 | |
Russland verlassen, nachdem es Ärger mit seiner ersten Plattform, dem | |
russischen Facebook-Pendant VKontakte (VK) gab. Durow hatte sich geweigert, | |
Daten an den russischen Geheimdienst FSB weiterzugeben und Inhalte zu | |
löschen. | |
Er musste seinen VK-Anteil kremlfreundlichen Oligarchen verkaufen. 2018 | |
verweigerte Durow der Regierung auch Telegram-Nutzerdaten, woraufhin der | |
Messenger in Russland verboten wurde. Doch Durow vermochte den Bann | |
technisch zu umgehen. Seither gilt er als aufrechter Kämpfer für die freie | |
Meinungsäußerung. | |
Durow kommt heute zugute, dass den Plattformen, die demokratiezersetzender | |
Propaganda Raum geben, im Westen mit Sanftmut begegnet wird. Statt auf | |
Härte setzt die EU auf Kooperation. Das kann funktionieren, solange die | |
Konzerne halbwegs mitziehen. Aber die Tech-Milliardäre haben die Wahl, | |
kooperativ zu sein, wenn es ihnen passt – wie derzeit Mark Zuckerberg mit | |
Meta – oder eben nicht, wie eben Durow. | |
Dabei könnte etwa die EU-Kommission Apple und Google anweisen, die | |
Telegram-App in der EU aus dem App-Store zu verbannen. Die Plattform ließe | |
sich in der EU technisch blockieren, ein Zugang wäre dann nur noch | |
aufwändig per VPN-Tunnel möglich. Doch die Fake News würden sich andere | |
Plattformen suchen – und der Westen stünde als Zensor da. | |
## Hybride Bedrohungen | |
Dabei ist Telegram heute auch ein Instrument in Kriegen geworden. Die | |
Plattform sei „fester Bestandteil der Kommunikations- und | |
Informationskriegsführung der Hamas“, schreibt der israelische Analyst Tal | |
Hagin. Ähnlich beim Ukrainekrieg. Am 19. Februar hörte Russland ein | |
Gespräch deutscher Militärs zu möglichen Lieferungen von | |
Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab. | |
Zehn Tage später veröffentlichte Margarita Simonjan, die Chefredakteurin | |
des russischen Staatsmedienkonglomerats Rossija Sewodnja, als Erste den | |
Mitschnitt – nicht etwa in eigenen Sendern wie Russia Today, sondern auf | |
ihrem Telegram-Kanal. Für „hybride Bedrohungen“ – etwa echte Information… | |
die mit falschen gemischt und als Waffe eingesetzt werden – ist Telegram, | |
wie der Taurus-Leak erneut zeigte, heute eine der ersten Adressen. | |
Die EU hat einen Chefdiplomaten, der für „Foreign Information Manipulation | |
and Interference“, für hybride Bedrohungen also, zuständig ist. Es ist der | |
Deutsche Lutz Güllner. Nach dem Taurus-Leak reist er nach Berlin, um zu | |
erklären, was die EU Russlands Info-Attacken entgegensetzt. An einem | |
sonnigen Dienstag im März sitzt er in den Räumen der EU-Kommission in | |
Berlin und spricht über den „schleichenden Prozess der Destabilisierung“, | |
mit dem der Westen es zu tun habe. | |
Die Kommission beobachte den „gezielten, langfristigen Aufbau von | |
Netzwerken zur Manipulation von Informationen“, so Güllner. Desinformation | |
sei alt, neu seien die technischen Möglichkeiten zur „Ampflizierung“: | |
Geheimdienst-Operationen auf Plattformen bis hin zu Netzwerken von Usern | |
mit falschen Identitäten. Russland sei einer der aktivsten Akteure. „Hier | |
gibt es die größte Evidenz der Beteiligung staatlicher Stellen und ihrer | |
Dunstkreise.“ | |
Desinformation müsse dabei nicht faktisch falsch sein. Entscheidend sei die | |
manipulative Absicht – etwa bei den Bauernprotesten. „Die sind nicht per se | |
orchestriert von Moskau und niemand wird behaupten, dass da nicht auch | |
tatsächliche Sorgen dahinterstehen, ob man das nun teilt oder nicht.“ Doch | |
Desinformations-Netzwerke „springen ganz opportunistisch auf solche | |
Konflikte auf und verstärken sie“. | |
Tatsächlich hatten während der Bauernproteste etwa die Putin-begeisterten | |
rechtsextremen Medien Auf1 – ein österreichischer TV-Sender – und das | |
Compact-Magazin sich als Sprachrohr der Proteste inszeniert. Auf1 hatte | |
dabei vor allem auf seinem Telegram-Kanal – 270.000 Abonnenten – von | |
„tatsächlichen Geheimplänen“ der „globalistischen Eliten“ geraunt, die | |
„groß angelegten Bevölkerungsaustausch“ anstrebten. Compact hatte während | |
der Proteste auf Telegram – 60.000 Abonnenten – unter anderem behauptet, | |
Moskau habe „die Nase gestrichen voll von der deutschen Kriegstreiberei“, | |
weshalb die „Legitimation für die deutsche Wiedervereinigung“ infrage | |
gestellt sei. Das ist zweifellos manipulativ. Doch wer „nur auf die Inhalte | |
schaut, kommt auf die schiefe Ebene, verheddert sich in Fragen, was gesagt | |
werden darf“, sagt Güllner. „Wer sollte denn entscheiden, was irgendwo | |
runtergenommen wird?“ | |
## Schweden ist schon weiter | |
Besser sei, auf die Mittel zu schauen: Etwa ob Bots verwendet oder | |
Identitäten vorgetäuscht werden. „Das ist ein klarer Indikator für | |
Manipulation, das sind illegitime Mittel.“ Denn schnell ist sonst der | |
Vorwurf im Raum, die Redefreiheit zu beschränken. Er würde die Logik gern | |
umkehren, meint Güllner dazu. „Indem wir Manipulation zurückdrängen, | |
schützen wir die freie Meinungsäußerung der echten, genuinen, authentischen | |
Stimmen.“ | |
Denn der Westen sei „nicht schutzlos“, sagt Güllner. „Wir können selber | |
transparent sein, aufklären, die Muster zeigen.“ Zivilgesellschaft, | |
Medienkompetenz, Fakt-Checking Organisationen und Forschung müssten | |
gestärkt werden. Letztlich müssten die Regierungen auch regulieren – und | |
sanktionieren. Den DSA nennt Güllner „einen sehr wichtigen Schritt nach | |
vorne, aber nicht ausreichend“. Er müsse „flankiert werden durch andere | |
Maßnahmen.“ Immerhin nehme die Verordnung die Tech-Unternehmen nun in die | |
Pflicht. Das Konzept, „das Risiko zum Thema machen, nicht den Inhalt,“ hält | |
Güllner für einen guten Weg. | |
Das sieht man auch in Schweden so. Es ist neben Frankreich das einzige | |
EU-Land, das dafür eine nationale Behörde aufgebaut hat: die zum | |
Verteidigungsministerium gehörende Agentur für Psychologische Verteidigung | |
nämlich. Sie residiert in Stockholm in einem unauffälligen gelben Gebäude | |
nördlich der Innenstadt. Gitter und Türen sind dicker als bei Ämtern | |
üblich, der Eingang ist schwerer gesichert, als die zivile Erscheinung | |
erwarten lässt. | |
Das Interieur ist nobel, auf Sideboards stehen Nato-Wimpel. Gäste werden | |
zuvorkommend behandelt, aber keine Sekunde aus den Augen gelassen. „Der | |
Informationskrieg ist eine ernste Sache,“ sagt Andrea Liebman. Sie leitet | |
die Analyse-Abteilung. In Wollpulli und Jeans sitzt sie am Tisch, drei | |
Handys vor sich. Fast hätte sie es nicht in die Stadt geschafft, zu dicht | |
war an diesem Freitag im April noch das Schneetreiben. | |
## Das Recht auf Unwahrheit | |
Seit der Annexion der Krim sei klar gewesen, dass Schweden ins Visier | |
hybrider Angriffe aus Russland geraten könnte, sagt Liebman So begann das | |
Land schon 2014, sich gegen „maligne Desinformation“ systematisch zu | |
wehren. Liebman benutzt die gleiche Vokabel, die im Englischen für | |
bösartige Tumore verwendet wird. Und je stärker das Land in die Nato | |
strebte, desto stärker wurden die Attacken. | |
„Menschen haben das Recht, Unwahrheiten zu sagen“, sagt sie. „Das rühren | |
wir nicht an.“ Relevant werde es erst, wenn „ausländische Akteure unter | |
falscher Flagge versuchen, die schwedische Bevölkerung, schwedische | |
Entscheidungen oder schwedische Interessen zu beeinflussen“. Liebman setzt | |
dagegen vor allem auf eigene Kommunikation. 2022 etwa attackierten | |
islamistische Gruppen Schweden mit massenhaften Falschmeldungen über den | |
angeblichen Entzug von Kindern aus islamischen Familien. | |
Die Kinder würden zur „Zwangschristianisierung“ in staatliche Pflegeheime | |
gesteckt, in denen Pädophile arbeiteten. Das Risiko für Terroranschläge | |
stieg. „Wir haben den Ministerpräsidenten gebrieft, der hat in einer | |
Pressekonferenz zu den Falschbehauptungen Stellung bezogen“, sagt sie. | |
Behörden kommunizierten auf Arabisch – mit Erfolg. „Der Schlüssel war, zu | |
diesem Zeitpunkt selbst eine breite Öffentlichkeit anzusprechen.“ | |
Gegenüber den Plattformen setzt Liebman auf Kooperation. „Es sind | |
gigantische private Unternehmen, die eine unglaubliche Macht haben“, sagt | |
sie. Nicht nur finanzielle Macht, sondern auch eine „unglaubliche Menge“ an | |
Wissen über die Nutzer. „Sie wissen mehr über die Bevölkerung als das | |
eigene Land.“ Die Agentur stehe in „ständigem Dialog mit den Plattformen�… | |
sagt Liebman. Für Telegram gilt das allerdings nicht. | |
„Aber wir sagen ihnen nicht, was sie tun sollen. Wir schlagen niemals vor, | |
Informationen zu blockieren.“ Die Redefreiheit sei ein zu hohes Gut. Die | |
Plattformen hätten schließlich schon vor Jahren begonnen, Mechanismen gegen | |
Desinformationen einzuführen. Das sei mittlerweile Teil ihrer PR. „Die | |
Plattformen wollen verstehen, welche enorme Wirkung sie auf unsere | |
demokratischen Gesellschaften haben, sie wollen sich selbst regulieren“, | |
glaubt Liebman. Der DSA verstärke dies. | |
Aber was, wenn nicht – so wie Telegram? Das sei „sicher eine | |
Herausforderung“, räumt Liebman ein. „Da wir wissen, dass Telegram nicht | |
ansprechbar ist, beobachten wir eher, welche Schwachstellen damit verbunden | |
sind“, sagt sie. Dialogversuche würden „sowieso nicht funktionieren“, da | |
das Unternehmen die Plattform nicht vor Desinformation schütze. Also müsse | |
man die „Schwachstellen aus der Perspektive der Verwundbarkeit betrachten.“ | |
Soll heißen: Gegenstrategien entwickeln, wenn die hybriden Attacken sich | |
auf Telegram verbreiten. | |
## Druck wirkt | |
Das Dilemma ist groß: Lassen Staaten die Dinge in den sozialen Medien | |
laufen, wenden sich weiter Menschen von der Demokratie ab, kann Russland | |
seinen Einfluss ausbauen. Schreiten die Staaten zu sehr ein, tasten sie die | |
Redefreiheit an. Müssen sie also weiter hinnehmen, wenn auf Telegram der | |
Ukraine die Zerstörung der Baltimore-Brücke oder den Grünen der Geheimplan | |
des „Großen Reset“ in die Schuhe geschoben wird? | |
Ja und Nein, sagt Mauritius Dorn vom Institute for Strategic Dialogue, | |
einer der wichtigsten Institutionen, die über Regeln für soziale Medien | |
nachdenken. Zwar könne Desinformation als „systemisches Risiko“ im Sinne | |
des DSA eingestuft werden, gegen das die großen Plattformen vorgehen | |
müssen. „Das bezieht sich aber nie auf einzelne Inhalte, sondern auf die | |
Dienstleistungen, die zur Entstehung solcher Risiken beitragen“, so Dorn. | |
Allerdings biete das EU-Recht Möglichkeiten, um gegen rechtswidrige Inhalte | |
wie Verleumdung, Volksverhetzung oder terroristische Gewaltaufrufe auf | |
Telegram vorzugehen. | |
Dass Telegram für die Staaten so unantastbar sei, wie die Plattform selbst | |
gern glauben mache, sei ein Irrtum, sagt der Gründer des CeMAS-Instituts, | |
Josef Holnburger. „Bei genügend Druck beugt sich Telegram. Auch wenn sie | |
angeben, dass sie nie mit Staaten kooperieren – die Historie zeigt, dass | |
das nicht stimmt.“ Der [6][Nawalny-Spendenbot] etwa wurde gelöscht, in | |
Indonesien und Brasilien habe die Plattform auch kooperiert. „Telegram | |
knickt bei zu viel Druck ein, zumindest zeitweise.“ Anscheinend habe auch | |
der Druck der EU hier bereits etwas bewegt. Wie viel und wie lange, bleibe | |
abzuwarten. | |
13 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Brueckeneinsturz-in-Baltimore/!6000993 | |
[2] /Kooperation-gegen-Rechtsextremismus/!5929294 | |
[3] https://report.cemas.io/telegram/ | |
[4] /Digital-Markets-und-Digital-Services-Act/!5992274 | |
[5] https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/telegram-gibt-nutzerdaten-an-das-bunde… | |
[6] https://www.rferl.org/a/telegram-navalny-smart-voting/31466263.html | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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