# taz.de -- Musikpionierin Lily Greenham: Funken der Avantgarde | |
> Die österreichisch-britische Künstlerin Lily Greenham war eine Pionierin. | |
> Zum 100. Geburtstag gibt es eine Werkschau der Grenzgängerin in | |
> Karlsruhe. | |
Bild: Performance von Lily Greenham und Hugh Davies | |
Lily Greenham hielt Distanz zum Mainstream, setzte aber dennoch als | |
Künstlerin auf Kommunikation. Ihre Aphorismen, [1][die sie mit der Maschine | |
auf bunte, quadratische Karten schrieb], verschenkte sie. Auf einer stand | |
zu lesen: „fixed ideas thwart understanding“, also „festgefahrene Ideen | |
arbeiten der Einsicht entgegen“. In der Ausstellung „Lily Greenham: An Art | |
of Living“ liegen solche Karten zum Mitnehmen bereit. Der 2001 in London | |
verstorbenen Künstlerin hätte das gefallen. | |
Der Name Lily Greenham tauchte bislang eher im Zusammenhang mit der Malerei | |
der Konkreten Kunst auf, die aber nur eine Phase ihres Werks ausmachte. Die | |
1924 in Wien als Tochter polnisch-jüdischer Eltern geborene Sound-Poetin | |
bewegte sich zeit ihres Lebens in unterschiedlichen Avantgardeszenen. Ihr | |
Ziel war es, Grenzen und Konventionen zu überwinden und daraus Funken zu | |
schlagen. Darin liegt auch die Aktualität ihres nun wiederentdeckten, über | |
weite Strecken immateriellen Werks. | |
Zahllose Ankündigungen und Studiorechnungen, Notate und Skripte, | |
Ausweispapiere und private Korrespondenz geben in der Ausstellung neben den | |
Soundeinspielungen Einblick in ihr Leben. Darunter ist eine private | |
Fotografie, sie zeigt das Kind Lily auf den Knien ihres Vaters. Er starb | |
1944 in [2][einem jüdischen Ghetto in Schanghai]. | |
Lily Greenhams Mutter Rena Pfiffer-Lax, eine erfolgreiche Sopranistin, | |
die mit ihrem zweiten Mann in Kopenhagen lebte, war im Jahr zuvor | |
erschossen worden. Lily befand sich damals bereits in Dänemark, wo sie von | |
ihrer Mutter ihren ersten Gesangsunterricht erhielt. Sie war allein über | |
Berlin ins Ausland geflohen. | |
Die junge Frau schaute nicht zurück. Sie zog nach Paris und studierte | |
Kunst. Im Jahr 1951 heiratete sie den Perkussionisten und Dichter Peter | |
Greenham, mit dem sie nach Wien zurückkehrte. Sie wurde zur Stimme der | |
Wiener Lautpoeten. Im Kunstverein erklingt ihr Vortrag von Gerhard Rühms | |
Gedicht „Gebet“, das aus Buchstaben und Silben besteht. | |
## Tief hängende Lautsprecher | |
Die Wiederentdeckung Lily Greenhams ist zwei britischen Künstlern zu | |
verdanken, dem Komponisten James Bulley und dem Typografen und | |
Schriftsteller Andrew Walsh-Lister. Als Lily Greenham starb, bewahrte einer | |
ihrer Musikerfreunde ihren Nachlass auf. Heute befindet er sich im | |
Künstlerarchiv des Goldsmiths, wo Bulley und Walsh-Lister das Werk | |
Greenhams seit vielen Jahren erforschen. Ihre in Kooperation mit [3][dem | |
Badischen Kunstverein] anlässlich des 100. Geburtstags der Künstlerin | |
realisierte Retrospektive ist die erste weltweit. | |
Der große Saal des Kunstvereins ist nun in pinkfarbenes Licht getaucht, von | |
seiner Decke hängen Lautsprecher, Bulley platzierte sie in | |
unterschiedlicher Höhe. Die tiefhängenden würden einen trockenen Klang | |
abgeben, die oberen das ganze Spektrum umfassen. Der Klang bewege sich im | |
Raum. Zu hören ist unter anderem das von Albert Einstein angeregte Stück | |
„Relativity“. | |
Greenhams experimentelle Musik spricht die Hörer unmittelbar an. Ihre | |
„Lingual Music“ baute auf Klängen menschlicher Sprache auf, die sie | |
elektronisch verarbeitete. Sie bezeichnete diese Produktionen als | |
„elektroakustische Kompositionen“. | |
## Eine Außenseiterin im positiven Sinn | |
Ihr Forscherdrang blieb ungebrochen. Die Musikerin arbeitete mit | |
Videokünstlern wie Irm und Ed Sommer zusammen und trat mit dem | |
Jazzsaxofonisten John Tchicai auf. In den 1980er Jahren experimentierte | |
Lily Greenham mit einem Home Computer, stellte Grafiken aus Buchstaben und | |
Satzzeichen her. | |
Sie sei „selftaught“, schrieb sie einmal, sie habe sich ihre Kenntnisse und | |
Strategien selbst angeeignet. Vielleicht wurde sie gerade deshalb zur | |
Pionierin der Sound Art und der elektronischen Musik. Die Leiterin des | |
Badischen Kunstvereins, Anja Casser, verweist auf die acht Sprachen, die | |
Lily Greenham beherrschte. Ihre Übergänge von einem Medium ins andere, von | |
einer Ebene zur anderen verhinderten ein klares Profil. | |
Greenham bezeichnete sich als Außenseiterin – in einem positiven Sinn. „Ist | |
es notwendig, außerhalb zu stehen, um etwas zu begreifen?“, notierte sie | |
einmal. Das war eine rhetorische Frage. | |
19 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Carmela Thiele | |
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