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# taz.de -- Grünen-Politiker Saleh zu Nahost-Debatte: „Eine unerträgliche S…
> Als im Irak geborener Grünen-Politiker steckt Kassem Taher Saleh beim
> Thema Nahost zwischen zwei Welten. Er fordert von seiner Partei eine
> differenziertere Haltung.
Bild: Kritisiert den grünen Vizekanzler: Kassem Taher Saleh
taz: Herr Taher Saleh, anders als viele Kolleg*innen haben Sie sich in
den letzten Monaten nicht öffentlich zum [1][Nahost-Krieg] geäußert. Warum
nicht?
Kassem Taher Saleh: Erstens hatte ich in den letzten Monaten in meinem
Fachgebiet, der Baupolitik, viel zu tun. Zweitens standen bei uns
sächsischen Grünen die Vorbereitungen auf die Wahlkämpfe dieses Jahres an.
Ich wusste: Wenn ich mich öffentlich zum Nahen Osten äußere, brauche ich
dafür meine volle Kraft und die gesamte Power meines Teams. Die habe ich
erst jetzt.
Warum fordert Ihnen das Thema Kraft ab?
Ich befürchte, dass ich von Springer und Co in eine Ecke gedrängt werden
könnte: Dass ich wegen meiner Positionen, meiner Biografie und meines
religiösen Hintergrunds als muslimischer Antisemit betitelt werde.
Woher kommt diese Befürchtung?
Mir ist klar, dass Deutschland in einer historischen Verantwortung steht.
Das heißt aber nicht, dass wir alles, was Israel macht, [2][zu 100 Prozent
unterstützen müssen]. Ich lehne das israelische Vorgehen im Gazastreifen
und den Bruch des Völkerrechts ab. Seit Monaten sterben Zivilisten. Leider
entstand aber nach dem 7. Oktober in der migrantischen Community und bei
mir der Eindruck: Wir müssen uns jetzt ohne Wenn und Aber zu Israel
bekennen – sonst sind wir nicht mehr Teil dieses Landes.
Es gab Fälle von Profisportlern und Künstlern, die sich nicht mehr frei
äußern konnten. Auf Demos wurden Menschen von der Polizei herausgezogen,
weil sie den falschen Schal trugen. Jugendliche bekamen in der Schule
unangenehme Fragen gestellt, bloß weil sie einen muslimischen Hintergrund
haben. Das waren schmerzhafte Erfahrungen, und von politischer Seite wurde
diese spalterische Stimmung auch noch befeuert.
Was meinen Sie damit?
Ich meine damit auch [3][die Social-Media-Rede von Robert Habeck], die im
November viral ging. Darin hat er gesagt, Muslime in Deutschland müssten
sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen
Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen. Warum so pauschal? Und was ist mit
antisemitischen Anschlägen wie dem in Halle? Der Täter dort war kein
Migrant, sondern ein Nazi. Ich habe in den letzten Monaten eine
unerträgliche Stimmung erlebt, in der Muslime pauschal als Antisemiten
bezeichnet wurden.
Es gab und gibt auf migrantisch geprägten Demonstrationen aber nun mal
antisemitische Vorfälle – und einen Mangel an Empathie für die jüdischen
Opfer der Hamas.
Da gebe ich Ihnen recht. Ich hätte mir auf den Demonstrationen auch klarere
Positionen zu den Morden des 7. Oktober gewünscht, genauso wie eine klare
Distanzierung von all jenen, die das Massaker gefeiert haben. Die Hamas ist
eine Terrororganisation, will den Staat Israel auslöschen und muss
vernichtet werden.
Trotzdem frage ich mich, warum Israel in Kauf nimmt, dass durch den
Beschuss von Krankenhäusern und Schulen so viele Unschuldige sterben.
Daneben hätte ich mir gewünscht, dass man das und den Schmerz der
migrantischen Communitys stärker in unsere politischen Debatten aufnimmt.
Auch da hat es mir an Empathie gefehlt, gerade von Regierungsmitgliedern
und insbesondere von Bundeskanzler Olaf Scholz.
Sie sind im Irak geboren und mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Ihr
Vater ist Kurde, Ihre Mutter Araberin. Wie genau prägt Ihre Biografie Ihre
Sicht auf den Konflikt?
Seit meiner Geburt ist das Thema Israel und Palästina immer wieder
Gesprächsthema in meiner Familie – verstärkt natürlich nach Militäraktion…
im Westjordanland und im Gazastreifen. Ehrlicherweise habe ich da nicht
immer ein differenziertes Bild mitbekommen. In der Hinsicht hätte ich mir
als Gegengewicht in der Schule mehr Aufklärungsarbeit in Deutschland
gewünscht.
Die gab es nicht?
Was bedeutet es, jüdisch zu sein in Deutschland? Was bedeutet es, jüdisch
zu sein in Israel? Das hätte ich gerne in der Schule erfahren, aber das hat
komplett gefehlt. Und das gibt es bis heute nicht genug. Bei einem Besuch
in einer Schule hier in Dresden-Johannstadt haben mir die Lehrerinnen und
Lehrer offen gesagt: Bitte halten Sie mal eine Stunde ein Referat über den
Konflikt – wir sind in der Hinsicht überfordert.
Ich würde mir wünschen, dass die Politik hier ansetzt und die
Bildungsarbeit ausbaut, anstatt nur pauschal zu sagen: Entweder du bekennst
dich zum Existenzrecht Israels oder du bist kein Deutscher. Das
Existenzrecht Israels darf nicht angetastet werden, aber die Menschen
müssen auch verstehen, warum. Für diese Debatte braucht es mehr Aufklärung.
Sie haben Ihre familiäre Prägung erwähnt. Steht der Nahost-Krieg heute
zwischen Ihnen als Grünen-Abgeordnetem und Ihrem Umfeld?
Aus dem Familienkreis höre ich: Warum äußerst du dich nicht? Und warum
sieht die Bundesregierung nur die eine Seite? Mein Freundeskreis ist auch
sehr divers und migrantisch geprägt, dort höre ich ähnliche Fragen.
Was antworten Sie?
Ich antworte verständnisvoll: Ich verstehe euren Schmerz und euer Leid
komplett, ich melde mich zu dem Thema auch in Fraktionssitzungen. Ich bin
aber in vorderster Linie Baupolitiker und nicht Außenminister. Bitte habt
Verständnis dafür, dass ich nicht alle eure Erwartungen erfüllen kann.
Gibt es auch Momente, in denen Sie inhaltlich in den Widerspruch gehen?
Ja, das gab es vereinzelt auch – wenn jemand die Taten des 7. Oktobers mit
dem palästinensischen Leid der letzten Jahrzehnte legitimiert hat. Da muss
man ganz klar widersprechen.
Die Grünen bemühen sich seit Längerem, diverser zu werden und mehr Menschen
mit Migrationshintergrund anzusprechen. Sehen Sie dieses Ziel aktuell in
Gefahr?
Ich fürchte, ja. Ich kenne einige aus der migrantischen Community, die bei
der Bundestagswahl 2021 mit breiter Brust für uns geworben haben und jetzt
nicht mehr wissen, wen sie wählen sollen.
Ist bei den Grünen denn Platz für Positionen wie Ihre?
Ja. Ich war auch nicht der Einzige, der das in Fraktionssitzungen
angesprochen hat. Auch andere haben von Anfang an die zivilen Opfer
gesehen. Nur in der Kommunikation kam das leider kaum vor. Die
migrantischen Communitys wurden nicht mitgenommen.
Im November gab es einen Beschluss des Grünen-Parteitags. Darin geht es
sowohl um das Recht Israels auf Verteidigung als auch um seine
völkerrechtlichen Pflichten und die zivilen Opfer im Gazastreifen. Das
müsste doch in Ihrem Sinne gewesen sein?
Ich habe den Beschluss gerade nicht Wort für Wort vor Augen. Insgesamt kam
aber für mich der Schutz der Zivilistinnen und Zivilisten auch darin nicht
klar genug zum Ausdruck.
Aber mit Ihrer Außenministerin müssten Sie zufrieden sein? Bei ihrem Besuch
in Israel sagte sie diese Woche, die angekündigte Offensive auf die Stadt
Rafah wäre eine „humanitäre Katastrophe mit Ansage“.
Annalena Baerbock hat das Leid der Menschen in Gaza und die hohe Zahl der
zivilen Opfer immer wieder klar benannt. Ich hätte mir das zwar früher
gewünscht, aber mir ist auch bewusst, dass der Zeitpunkt und die Art der
Ansprache gegenüber Israel sehr gut überlegt sein müssen. Das ist
Diplomatie. Das kann ich als politischer Neuling nur begrenzt werten.
Insgesamt hat sich in Deutschland die politische Bewertung des Kriegs in
den letzten Wochen zum Glück stark gewandelt. Ich hätte mir diesen Switch
einfach früher gewünscht.
Wir haben bis hierhin viel über Kommunikation und Gefühle gesprochen.
Welche konkreten Forderungen haben Sie aber an die deutsche Außenpolitik?
In drei Wochen ist Ramadan. Was passiert da mit den Menschen in Gaza? Wie
sollen sie auf halbwegs menschenwürdige Art und Weise ihre Religion
ausüben? Ich würde mir wünschen, dass die Menschen zumindest diesen einen
Monat ohne Angst um ihr Leben, ohne Krieg und ohne Waffen begehen können.
Eine Feuerpause für die Zeit des Ramadan wäre das Mindeste. Das sollte auch
unsere deutsche Außenministerin fordern.
Für Feuerpausen hat sich Annalena Baerbock schon mehrfach ausgesprochen.
Dann braucht es jetzt noch mal mehr Nachdruck.
In den Niederlanden hat ein Gericht gerade Rüstungslieferungen an Israel
unterbunden. Sollte auch die Bundesregierung Exporte an Israel
einschränken?
Lange Zeit habe ich Waffenlieferungen generell kritisch gesehen. Ich habe
aber eine differenziertere Haltung, seitdem ich vor Kurzem in der Ukraine
war und dort einen russischen Raketenangriff miterlebt habe. Israel hat
das Recht, sich zu verteidigen. Insofern würde ich sagen:
Verteidigungswaffen ja. Aber Angriffswaffen an Israel zu liefern, halte ich
persönlich für schwierig. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung
auch hier ihren Kurs ändert.
16 Feb 2024
## LINKS
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[3] /Hamas-Angriff-auf-Israel/!5970551
## AUTOREN
Tobias Schulze
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