| # taz.de -- Nahostkonflikt und Studierende: Wenig Raum für Zwischentöne | |
| > Aktuell entsteht das Bild, Studierende seien beim Thema Nahost stark | |
| > polarisiert. Tatsächlich bewegen sich viele zwischen den extremen | |
| > Positionen. | |
| Bild: Schwarzes Brett an der FU: Was bleibt, sind die schreienden Extremen | |
| Schaut man sich die öffentliche Debatte an, so kann man leicht den Eindruck | |
| gewinnen, dass der Nahostkonflikt in den letzten Monaten das beherrschende | |
| Thema an deutschen Hochschulen war. Je nachdem, wem man zuhört, werden | |
| Studierende pauschal entweder als geschichtsvergessene Israel-Hasser:innen | |
| oder als geschichtsvergessene „Genozid“-Leugner:innen dargestellt. | |
| Tatsächlich dauerte es Monate, bis ich in meinem linken Freundeskreis von | |
| Studierenden zum ersten Mal über den 7. Oktober sprach. Nicht aus | |
| mangelnder Betroffenheit. Ganz im Gegenteil: Mehrmals stündlich | |
| aktualisierte ich in den ersten Wochen den Live-Ticker. Doch zu groß war | |
| die Angst, angesichts der aufgeheizten Stimmung, die in den sozialen | |
| Netzwerken zu beobachten war, etwas Falsches zu sagen. | |
| Bis zum Abend des 6. Dezember, als es plötzlich aus einer Freundin | |
| herausplatzte. Über Whatsapp schrieb sie mir: „Was hältst du eigentlich von | |
| der Israel-Debatte? Ich bin so hin- und hergerissen.“ Ein Gefühl der | |
| Erleichterung machte sich in uns breit, als wir feststellten, dass wir eine | |
| sehr ähnliche Position vertraten. | |
| ## Aufgeheizte Stimmung in sozialen Netzwerken | |
| Solche Situationen sollte ich in den folgenden Tagen noch häufiger erleben. | |
| Studierende wie ich und viele meiner Bekannten verurteilen den grausamen | |
| Angriff auf Israel. Sie sehen die Hamas nicht als Befreiungsorganisation, | |
| sondern als terroristische Vereinigung, die sich hinter der Bevölkerung | |
| versteckt. Zugleich kritisieren sie die in Teilen rechtsradikale Regierung | |
| Israels für ihr gnadenloses militärisches Vorgehen. | |
| [1][Über 28.000 Tote im Gazastreifen meldet] die von der Hamas geführte | |
| Gesundheitsbehörde seit Beginn des Krieges. [2][Rund 1,3 Millionen Menschen | |
| sind auf] Anordnung des israelischen Militärs in den Süden geflohen. Genau | |
| dorthin also, wo Benjamin Netanjahu jetzt eine Offensive angekündigt hat. | |
| In der Nacht zu Montag konnten Spezialeinheiten zwei Geiseln in Rafah | |
| befreien. | |
| Doch [3][etwa 130 Menschen befinden sich noch immer in der Gewalt der | |
| Hamas]. Ihnen, den Zivilist:innen auf beiden Seiten, gilt unsere | |
| Solidarität. Mit den Protesten an den Universitäten können wir uns jedoch | |
| nicht identifizieren. Denn sie lassen wenig Raum für Zwischentöne, zeigen | |
| kaum Empathie für die andere Seite und distanzieren sich nicht entschieden | |
| genug von Gewalt. | |
| Vorletztes Wochenende wurde Lahav Shapira, ein jüdischer Student der Freien | |
| Universität, [4][im Ausgehviertel Berlin-Mitte mutmaßlich von einem | |
| propalästinensischen Kommilitonen zusammengeschlagen] und musste ins | |
| Krankenhaus gebracht werden. Der Staatsschutz ermittelt wegen einer | |
| antisemitisch motivierten Straftat. | |
| ## Kaum Empathie für andere Seite | |
| Am darauffolgenden Donnerstag versammelten sich rund 100 | |
| propalästinensische Demonstrierende vor der Uni-Mensa der FU zu einer | |
| Kundgebung unter dem Motto „Schluss mit den Lügen und der Heuchelei“. | |
| Sie skandierten „Zionisten sind Faschisten“, sprachen von „Nazi-Deutschla… | |
| 2024“ und nannten den FU-Präsidenten Günter Ziegler einen Antisemiten, „w… | |
| er im Buche steht“. Über die Gewalt gegen Shapira verloren sie, zumindest | |
| öffentlich, kein einziges Wort. In der gleichen Woche randalierten | |
| Unbekannte im Ruheraum der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, | |
| der von Muslim:innen als Gebetsraum genutzt wird. Die Polizei ermittelt, | |
| ob ein politisches Motiv vorliegt. | |
| Freund:innen schicken mir solche Meldungen privat in sozialen Netzwerken. | |
| Manchmal erhalte ich Nachrichten wie „Schau mal, was für einen Unsinn diese | |
| Person wieder geteilt hat“. Meist sind es Fake News oder antisemitische | |
| beziehungsweise rassistische Äußerungen. | |
| Auch in Gesprächen unter vier Augen geht es inzwischen oft um den | |
| Nahostkonflikt. Allerdings enden diese konstruktiven Unterhaltungen meist | |
| mit dem Zusatz „Das dürfen wir aber nicht sagen, wenn XY dabei ist“ oder | |
| „Mit XY sollte man am besten gar nicht erst über das Thema sprechen“. | |
| ## Sich aus Angst nicht zu Meinung bekennen | |
| Am Dienstag veröffentlichte das K[5][ompetenznetzwerk gegen Hass im Netz | |
| eine Studie], aus der hervorgeht, dass mehr als die Hälfte der 3.000 | |
| befragten Internetnutzer:innen in Deutschland ab 16 Jahren sich aus | |
| Angst online seltener zur eigenen politischen Meinung bekennen und sich | |
| seltener an Diskussionen beteiligen. Ähnliches scheint sich auch an den | |
| Universitäten und in meinem universitären Bekanntenkreis abzuspielen: Immer | |
| mehr Studierende ziehen sich aus dem Diskurs zurück. | |
| Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass Diskussionen meist sinnlos sind. | |
| Stattdessen enden gemütliche Abende in einer größeren Gruppe im Streit. | |
| Wahlweise mit dem Vorwurf des Antisemitismus oder Rassismus. Freundschaften | |
| zerbrechen, weil eine:r den „falschen“ Post auf Instagram geliket hat. | |
| Darüber hinaus gibt es Studierende, die entweder kein Interesse daran | |
| haben, mehr Zeit im Universitätsgebäude zu verbringen, als es die | |
| Vorlesungen und Seminare erfordern, oder die aufgrund beruflicher | |
| Verpflichtungen einfach keine Zeit haben, sich in Hochschulgruppen zu | |
| engagieren. Ich kenne auch Leute, die noch von keinem der Proteste | |
| mitbekommen haben. | |
| Was bleibt, sind die lautstark schreienden Extremen. Ihnen werden sowohl | |
| die Außendarstellung der Universität als auch der interne Diskursraum | |
| überlassen. Antisemitische und rassistische Äußerungen und Handlungen | |
| bleiben unwidersprochen. Nicht nur die Dozierenden, sondern auch die | |
| Studierenden waren immer stolz darauf, Teil einer progressiven Gemeinschaft | |
| zu sein, die sich für die universellen Menschenrechte und einen offenen | |
| Dialog einsetzt. | |
| ## Stolz auf offenen Dialog | |
| Wenn wir dieses Image aufrechterhalten wollen, wenn wir wollen, dass sich | |
| jüdische und muslimische Studierende an der Universität willkommen fühlen, | |
| darf sich der Austausch nicht auf den privaten Bereich beschränken. Es | |
| müssen neue Räume geschaffen werden, an denen alle, auch die in der Mitte, | |
| teilnehmen. | |
| Gelegentlich berichten Bekannte von Seminaren, in denen bereits heute ein | |
| sachlicher Austausch stattfindet. Studierende und Dozierende sollten von | |
| diesem Format in Zukunft vermehrt Gebrauch machen. Denn es bietet | |
| eigentlich die idealen Voraussetzungen: Eine Vielzahl von | |
| interdisziplinären Perspektiven ermöglicht es, sich mit historischen, | |
| politischen und gesellschaftlichen Aspekten des Nahostkonflikts, mit | |
| Definitionen von Antisemitismus und Rassismus auseinanderzusetzen. | |
| Emotionalität tritt hinter der Komplexität der wissenschaftlichen Texte | |
| zurück. Kritische Fragen regen die Teilnehmenden zum Nachdenken an. Ich | |
| erinnere mich an viele Seminarstunden während meiner Studienzeit, nach | |
| denen ich mir dachte: „So habe ich das noch nie gesehen.“ Doch habe ich | |
| noch nie erlebt, dass jemand einfach aufsteht und geht oder eine andere | |
| Person beleidigt. | |
| Wie immer wird es nicht möglich sein, jede:n zu erreichen. Aber man muss | |
| auch damit rechnen, dass es unter denen, die extreme Positionen vertreten, | |
| auch solche gibt, die dies aus Unwissenheit tun. Als im [6][November | |
| letzten Jahres propalästinensische Demonstrierende an der Universität der | |
| Künste Berlin] ihre Handflächen rot anmalten, wird nicht allen klar gewesen | |
| sein, welches Zeichen sie damit setzten. | |
| ## Extreme Positionen aus Unwissenheit? | |
| Im Jahr 2000 wurden zwei israelische Reservisten im Westjordanland von | |
| einem palästinensischen Mob gelyncht. Einer der Täter hielt anschließend | |
| stolz seine blutigen Hände in die Kamera. Den Teilnehmern zufolge sollte | |
| die Botschaft lauten, dass deutsche Politiker:innen Blut an ihren | |
| Händen haben. | |
| Neben dem wissensbasierten Dialog braucht es aber auch mehr Zivilcourage. | |
| Als Studierende, die sich eine differenzierte Auseinandersetzung wünschen, | |
| müssen wir darüber nachdenken, wie wir unsere Kommiliton:innen besser | |
| schützen können, wo Konfrontation angebracht ist, auch wenn sie Mühe | |
| kostet, und welche [7][Ansprüche wir an die Universität und die Politik] | |
| stellen. | |
| Am Freitag beginnen die Semesterferien der FU. Studierende und Dozierende | |
| haben dann zwei Monate Zeit zum Reflektieren, bevor sie Mitte April | |
| hoffentlich mit einem neuen Konzept an die Universität zurückkehren. | |
| 15 Feb 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5991444 | |
| [2] /Fluechtlingscamp-im-Gazastreifen/!5988750 | |
| [3] /Geisel-Verhandlungen-in-Nahost/!5988996 | |
| [4] /Antisemitischer-Ueberfall-auf-FU-Student/!5987284 | |
| [5] https://kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de/lauter-hass-leiser-rueckzug/ | |
| [6] /Einseitiger-Protest-an-der-UdK-Berlin/!5977251 | |
| [7] /Kulturkampf-an-den-Hochschulen/!5973749 | |
| ## AUTOREN | |
| Clara Löffler | |
| ## TAGS | |
| Freie Universität Berlin | |
| Humboldt-Universität | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| GNS | |
| Universität der Künste Berlin | |
| Antisemitismus | |
| Antisemitismus | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Freie Universität Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debatte an der UdK Berlin: Diskurs? Festgefahren | |
| Kann man derzeit an Hochschulen wirklich offen diskutieren? Ein Lagebericht | |
| aus der Universität der Künste in Berlin. | |
| Antisemitismusbekämpfung an Hochschulen: Ausschöpfen oder erweitern | |
| Niedersachsen will auf antisemitische Vorfälle schneller mit | |
| Exmatrikulation reagieren. Bremen kann das längst, andere Nord-Länder | |
| warten ab. | |
| Angriff auf jüdischen Studenten: Die Grenzen der Freien Universität | |
| Seit Monaten suchen jüdische Studierende das Gespräch mit der Leitung der | |
| FU Berlin. Jetzt verspricht Präsident Ziegler ein systematisches Vorgehen. | |
| Grünen-Politiker Saleh zu Nahost-Debatte: „Eine unerträgliche Stimmung“ | |
| Als im Irak geborener Grünen-Politiker steckt Kassem Taher Saleh beim Thema | |
| Nahost zwischen zwei Welten. Er fordert von seiner Partei eine | |
| differenziertere Haltung. | |
| +++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Ägypten baut Riesenlager | |
| Kairo plant angeblich gigantisches Auffanglager. Israel wirft UN | |
| Behinderung von Gaza-Hilfe vor. Netanjahu spricht sich gegen | |
| Zweistaatenlösung aus. | |
| +++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: USA wollen Schutzkonzept für Rafah | |
| Baerbock trifft in Israel auf Präsident Herzog. UN-Vertreter warnt vor | |
| Gemetzel in Rafah. USA und Israel sprechen über Schutz für Menschen in | |
| Rafah. | |
| Proteste bei Lesung im Hamburger Bahnhof: Grenzen des Gesprächs austesten | |
| Museen sollten sichere Orte für kontroverse Debatten sein. Alle müssen zu | |
| Wort kommen dürfen, auch beim Thema Nahost-Konflikt. | |
| Anti-israelischer Tumult an Berliner Uni: „Beschämend gegenüber den Gästen… | |
| Aktivisten brachten eine Diskussion mit der israelischen | |
| Verfassungsrichterin Barak-Erez an der Humboldt-Uni zum Abbruch. Jetzt | |
| äußert sich die Uni-Leitung. | |
| Pro-palästina Demos an der FU: „Free, free, free FU“ | |
| Propalästinensische Student*innen demonstrieren gegen die FU. Sie fühlen | |
| sich von der Universität unterdrückt. |