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# taz.de -- Gewalt im Westjordanland: „Außer ihrem Leben nichts zu verlieren…
> Die junge Generation der Palästinenser im Westjordanland sieht kaum
> politische Perspektiven mehr. In der Stadt Dschenin sprechen vor allem
> die Waffen.
Bild: Der „Friedhof der Märtyrer“ in Dschenin: Viele junge militante Männ…
Dschenin taz | Die 40 Kilometer von Nablus nach Dschenin waren früher in
einer Stunde zu schaffen. Abeed Quisini schaut, wie immer wenn er dieser
Tage in seinen Wagen steigt, in eine der vielen Telegram-Chat-Gruppen auf
seinem Smartphone. In den sozialen Medien teilen Palästinenser im
Westjordanland Neuigkeiten über Kontrollpunkte oder Razzien der
israelischen Armee oder Zwischenfälle mit Siedlern. Aus Dschenin kommen wie
so oft schlechte Nachrichten: Die Landstraße in den äußersten Norden des
Westjordanlands ist gesperrt.
Warum die israelische Armee dort niemanden durchlässt, bleibt an diesem Tag
unklar. Aber als ehemaliger Fotograf einer internationalen
Nachrichtenagentur kennt Quisini die Schleichwege, vorbei an den
israelischen Patrouillen.
„Die Routen im Westjordanland zu kennen, ist nicht nur für Journalisten
überlebenswichtig“, sagt er. „Für uns Palästinenser birgt jede Fahrt ein
gewisses Risiko.“ An einem einsamen Kontrollpunkt kurz vor dem Ortseingang
von Dschenin stehen fünf Soldaten und winken die Reisenden nach einem Blick
in den Wagen wortlos durch.
„Seit dem 7. Oktober gibt es zwischen der Armee und uns praktisch keine
Kommunikation mehr“, sagt der 58-jährige Quisini. „Im Westjordanland ist
etwas fundamental zerbrochen, obwohl doch hier niemand etwas mit dem
Hamas-Angriff zu tun hatte.“
## Porträts toter Kämpfer hängen an Halsketten
Auf den ersten Blick herrscht in Dschenin normaler Alltag. Stockend schiebt
sich der Feierabendverkehr durch die 40.000-Einwohner-Stadt, fliegende
Händler bieten den Vorbeifahrenden schreiend ihre Waren an. Doch mit
Anbruch der Dunkelheit versuchen die Familien in Eile ihre Einkäufe in den
vielen mit grellem Neonlicht erleuchteten Läden zu erledigen.
Fotos von jungen Männern kleben an den Häuserfassaden. Die Texte unter den
Porträts preisen sie als Verteidiger der Stadt, gefallen als Märtyrer.
Viele sind kaum volljährig und halten große Automatikwaffen in den Händen.
Sie starben durch Kugeln der israelischen Armee.
„Es sind die neuen Ikonen der palästinensischen Jugend“, sagt Familienvater
Abeed Quisini. Er schaut besorgt auf die von Händlern angebotenen
Halsketten mit Porträts der toten Kämpfer im Miniaturformat.
Zuvor hätte die palästinensische Jugend mehrheitlich vor einer Playstation
oder X-Box gesessen, sagt der Familienvater, oder hätte Popstars
angehimmelt. „Sie hatten Interessen wie Gleichaltrige in Seoul oder
Berlin“, sagt er. Viele haben mittlerweile andere Idole. Seinen 18-jährigen
Sohn hat Quisini selbst vor ein paar Wochen zu seinem Bruder in die USA
geschickt. Quisini lebt in Nablus, andernorts ist die Situation noch
schwieriger.
## „1948“ steht an den Wänden geschrieben
In dem [1][Flüchtlingslager von Dschenin] hat „die Krise“ nicht erst am 7.
Oktober begonnen. Im letzten Sommer lieferten sich Bewaffnete von Hamas,
dem „Islamischen Dschihad“ und anderen lokalen Milizen Kämpfe mit
israelischen Sondereinheiten. Bis heute sind immer wieder Kampfjets und
Drohnen über dem nur einen halben Quadratkilometer großen Gebiet im
Einsatz.
Seit der [2][Gründung des Staates Israel] leben die aus dem heutigen Tel
Aviv-Jaffa oder Haifa vertriebenen Palästinenser hier, mittlerweile in
selbstgebauten Häusern. Die angrenzende Stadt und das Lager gehen
ineinander über und sind oft nur anhand der unterschiedlichen Graffiti auf
den Häusern zu unterscheiden. „1948“ steht an den Wänden in den engen
Gassen des Lagers geschrieben. Und „Recht auf Rückkehr“.
Auf vielen Eingangstüren sind aufgesprühte Symbole, etwa das Logo der
UNWRA-Mission der Vereinten Nationen zu sehen, die sich um die Flüchtlinge
in dritter Generation kümmert. Ihre Heimatorte, meist keine 60 Kilometer
entfernt, liegen nun in dem von Palästinensern meist „48iger-Gebiet“
genannten Israel. Woher die Bewohner des Lagers in Dschenin herkommen, ist
auf dem Denkmal mit Städtenamen auf der Hauptstraße nur noch schwer zu
entziffern, israelische Armeebulldozer haben es zerstört.
„Wir sind hier Gäste, uns gehört der Grund und Boden nicht“, sagt Abla Ba…
Garah. „Dass wir auf das Recht auf Rückkehr pochen, macht uns zum
besonderen Ziel.“ Die Lehrerin unterrichtet seit mehr als 20 Jahren
Jugendliche in Schauspiel und Selbstdarstellung, nach der Schule. „Wir
versuchen hier inmitten von Arbeitslosigkeit und Trauma ein bisschen
Hoffnung zu schaffen.“
## Wöchentlich finden Razzien im Jugendzentrum statt
Das von Bani Garah und ihren Kolleginnen betriebene Jugendzentrum ist Teil
des sogenannten Theaters der Freiheit. Das Gebäude der Bürgerinitiative
wurde Anfang Januar von der israelischen Armee gestürmt. Theaterdirektor
Mustafa Scheta wurde von den Soldaten mitgenommen und zu sechs Monaten Haft
verurteilt. „Bei ihren fast wöchentlich stattfindenden Razzien nimmt die
Armee immer Männer aus dem Lager mit“, sagt Abla Bani Garah.
„Zur Abschreckung zerstören Bulldozer die Straßen und reißen Gebäude ein.
Auch einige meiner Schüler wurden an einen unbekannten Ort verschleppt“,
sagt die 44-Jährige. Einige ihrer ehemaligen Schüler sind mittlerweile auf
dem wenige hundert Meter entfernten Friedhof der Märtyrer begraben. „Ich
habe die Befürchtung, dass auch die jetzige Generation meiner Schüler dort
endet“, sagt sie.
Ihre Freundin Halima Zuwaida begleitet sie. Über die engen Gassen gehängte
Stoffbahnen sollen vor Drohnen der Armee schützen, erzählt diese. Den
Soldaten würden die Drohnen zu Dutzenden und in allen Größen vorgeschickt.
Sie würden sogar durch Fenster in die Häuser fliegen und explodieren,
behauptet Zuwaida und zeigt auf ein beschädigtes Nachbarhaus.
Die Palästinenserin macht auf dem Weg zum Supermarkt einen kleinen Umweg zu
einer zerstörten Moschee. Auch hier ist die Straße aufgerissen, ein
Armeebulldozer hat bei der Zerstörung des mutmaßlichen Treffpunkts von
bewaffneten Milizionären eine Mauer des Nachbarhauses aufgerissen. Die
Einrichtung der Moschee liegt in Trümmern. „Zerstörungen wie diese im
letzten Dezember geschehen ohne jegliche Kommunikation zwischen uns und der
Armee“, sagt Zuwaida. „Die Soldaten tauchen urplötzlich mit Jeeps auf,
besetzen die Straßen und kommen in die Häuser“, erklärt sie.
## Strafmaßnahmen Israels für die Autonomiebehörde
Vor zehn Tagen wurde auch die Tür ihres eigenen Hauses eingetreten. Der
Schrecken dieser Nacht steht ihr noch ins Gesicht geschrieben. Die Zuwaidas
wurden während der Durchsuchung ihres Hauses in einem Raum eingesperrt.
„Niemand von uns fühlt sich seitdem mehr sicher“, sagt die Mutter von drei
minderjährigen Söhnen. Sie ergreift mittlerweile Vorsichtsmaßnahmen: „Bevor
es dunkel wird, schicke ich meine Kinder zu meiner Schwester außerhalb des
Lagers.“
„Die für 60 Prozent des Westjordanlands zuständige Autonomiebehörde ist
unsere letzte Hoffnung auf zukünftige staatliche Strukturen“, sagt der
Aktivist Mahmud Talal. Der hagere Mann ist eine Art inoffizieller Sprecher
der selbsternannten bewaffneten Widerstandskämpfer im Lager. Die jungen
Männer zeigen sich zwar auf den Straßen, doch wollen nicht selber sprechen.
„Israel zahlt der Autonomiebehörde von Mahmud Abbas als Strafmaßnahme nur
noch 60 Prozent der ihr zustehenden Steuereinnahmen aus“, klagt Talal.
„Damit höhlt sie ihre eh schon schwache Autorität endgültig aus.“ Die
wirtschaftlich prekäre Lage im Lager sei seit dem [3][7. Oktober]
hoffnungslos, bestätigen viele Bewohner. „Die Razzien und die Armut haben
dazu geführt, dass sich die bewaffneten Gruppen in Dschenin erstmals
zusammengetan haben“, berichtet Mahmud Talal.
„Die Bewohner des Flüchtlingslagers unter Pauschalverdacht zu stellen,
führt automatisch zu einer Spirale der Gewalt“, sagt Talal. „Vielleicht ist
das ja auch das Ziel der Israelis.“
## „Der Zünder liegt in Dschenin“
Der 47-Jährige fürchtet – ähnlich wie der israelische Verteidigungsminister
Yoav Gallant –, das Pulverfass Westjordanland könne bald hochgehen. Nur
sehen beiden die jeweils andere Seite dafür verantwortlich. „Der Zünder
liegt in Dschenin“, sagt Talal.
Auf dem „Friedhof der Märtyrer“ hält Talal vor dem Grab eines Freundes
inne. Hunderte junge Männer, kaum einer wurde älter als Mitte zwanzig,
liegen hier begraben. Fahnen und Insignien militanter Gruppen, Koransuren
und Porträts mitsamt Handfeuerwaffen aller Art schmücken die Gräber der
Märtyrer.
Das Symbol der Lage im Westjordanland wurde in der letzten Woche ein
[4][Überwachungsvideo aus dem Krankenhaus oberhalb des Flüchtlingslagers].
Zu sehen ist, wie ein als Ärzte, Krankenschwestern und Patienten getarntes
Einsatzkommando der israelischen Sicherheitskräfte um 5 Uhr morgens in das
Ibn-Sina-Krankenhaus stürmt. Kurz darauf exekutieren die Angreifer drei im
dritten Stock schlafende Palästinenser mit schallgedämpften Waffen. Nach
zehn Minuten ist das lautlose Killerkommando wieder weg.
Unterhalb der Klinik, im Flüchtlingslager von Dschenin, durchkämmten
Suchtrupps – wie so oft in den letzten Wochen – mit gepanzerten
Militärjeeps die Gassen und nahmen Verdächtige mit. Auf Tiefladern
mitgebrachte Bulldozer rissen den Asphalt der Hauptstraße auf.
## Kampf um des Kampfes willen
Israelische Medien bejubeln den Einsatz als erfolgreiche Verhinderung eines
Terroranschlages, den Muhammad Dschalamana – laut israelischem Geheimdienst
Schin Bet der Sprecher der Hamas in Dschenin – geplant haben soll. Zusammen
mit Muhammad Gazawi, einer Führungsfigur des „Dschenin-Bataillons“, und
seinem Bruder Bassel Gazawi vom „Islamischen Dschihad“ hätte der 27-Jähri…
einen Überfall im Stile des 7. Oktobers geplant, so ein Armeesprecher. Doch
in Dschenin halten viele die drei für rechtmäßige Verteidiger des
Flüchtlingslagers gegen die Razzien der Armee.
„Die Jugend im Lager kennt nur Gewalt, Perspektivlosigkeit und
Arbeitslosigkeit“, erklärt Aktivist Mahmud Talal und steht neben einem
riesigen Loch im Asphalt der Hauptstraße. Er zeigt auf seinem Smartphone
Fotos, die ihn in Uniform und mit Waffe während der zweiten[5][Intifada] im
Jahr 2002 zeigen.
„Im Unterschied zu heute sahen wir unseren bewaffneten Kampf damals als
Teil eines politischen Projekts. Wir sind wie viele palästinensische
Politiker für eine Zweistaatenlösung eingetreten“, betont er. „Der neuen
Generation fehlt jegliche politische Perspektive. Was bleibt, ist
selbstorganisierter Widerstand. Außer ihrem Leben haben viele nichts zu
verlieren.“
Zum Abschied sagt Talal doch noch einen [6][hoffnungsvollen Satz]. „Ich
möchte wie viele in meiner Generation noch erleben, dass es meinen
Enkelkindern besser geht als uns. Sobald es vereinte palästinensische
Sicherheitskräfte, einen Kompromiss mit Israel und eine geeinte politische
Führung gibt, kann dies gelingen.“ Talal will am Ende des Gesprächs nun
schnell los. Er wirkt, als wäre er in einem Wettlauf gegen die Zeit.
19 Feb 2024
## LINKS
[1] /Vorwuerfe-gegen-UN-Hilfswerk/!5987778
[2] /Palaestinensische-Stickkunst/!5988134
[3] /Clubkommission-ueber-Krieg-im-Nahen-Osten/!5989863
[4] https://x.com/ArafehLaith/status/1752444093798490521?s=20
[5] /Palaestinenserin-und-Jude-ueber-den-Krieg/!5976681
[6] /Frieden-in-Nahost/!5990953
## AUTOREN
Mirco Keilberth
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