# taz.de -- Frieden in Nahost: Die Nahost-Formel | |
> Wegen des Gazakriegs befindet sich ganz Nahost in Aufruhr. Ohne dass die | |
> Palästinenser mehr Rechte bekommen, bleibt Stabilität in der Region aus. | |
Bild: Ein israelischer Soldat geht an der Grenze zum Gazastreifen im Süden Isr… | |
Wir haben uns in den letzten Wochen an eine gefährliche Eskalation in | |
Nahost gewöhnt, die weit über Israel und den Gazastreifen hinausgeht. | |
[1][US-Kampfflugzeuge bombardieren inzwischen Stellungen schiitischer | |
Milizen im Irak und in Syrien], die zuvor vermehrt Basen der dort | |
verbliebenen US-Armee angegriffen haben. Amerikanische und britische | |
Kriegsschiffe [2][beschießen Positionen der Huthi-Rebellen] im Jemen, von | |
denen diese in den letzten Monaten immer wieder Handelsschiffe im Roten | |
Meer angegriffen haben. | |
Die Ereignisse haben eines gemeinsam: Die Gruppierungen, die dafür | |
verantwortlich sind, rechtfertigen ihre Aktionen damit, dass sie Druck | |
aufbauen wollen, den Gazakrieg zu einem Ende zu bringen. Dabei bekommen | |
diese Gruppen nicht nur offenen logistische Unterstützung aus dem Iran und | |
agieren als dessen Satelliten. Sie finden auch Zustimmung in weiten Teilen | |
der arabischen Öffentlichkeit – gerade weil sie eine [3][Verknüpfung mit | |
der Palästinenserfrage] herstellen. | |
Das militärische Vorgehen der USA gegen diese Gruppen wird fast als | |
Mittäterschaft im Gazakrieg interpretiert. Eine ganze Region befindet sich | |
wegen dieses Krieges und dem Leiden der Bevölkerung im Gazastreifen im | |
Aufruhr. Es ist heute klarer denn je: Ohne dass die Palästinenser mehr | |
Rechte bekommen, wird es in der Region keine Stabilität geben. | |
Vorbei sind die Zeiten, als man im Westen die Hoffnung hegte, dass man die | |
Nahost-Region stabilisieren und [4][die Palästinenserfrage dabei einfach | |
ausklammern könnte]. Man feierte die sogenannten Abraham-Verträge, in denen | |
die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko und Bahrain ihre Beziehungen zu | |
Israel normalisierten als neuen Weg zum Frieden und hoffte, [5][dass bald | |
auch Saudi-Arabien dazustoßen würde]. Man hatte die Rechnung allerdings | |
ohne den palästinensischen Wirt gemacht und ohne die arabische öffentliche | |
Meinung, für die die Palästinenserfrage auch 75 Jahre nach der Gründung | |
Israels noch im Zentrum steht. | |
Damit stellt sich nicht nur die Frage, [6][was mit dem Gazastreifen nach | |
dem Krieg geschehen wird], sondern auch, welche Szenarien es derzeit für | |
die gesamte Palästinenserfrage gibt. Denn sieben Millionen israelische | |
Juden und sieben Millionen Palästinenser werden sich mit ihren Ansprüchen | |
nicht in Luft auflösen. Im Wesentlichen gibt es hier vier mögliche | |
Szenarien. | |
Szenario 1: Status Quo | |
Das erste Szenario wäre eine fortgeführte israelische Besatzung des | |
Westjordanlands und ein weiterer Ausbau der dortigen israelischen | |
Siedlungen. Dazu kommt ein weiteres Absperren des Gazastreifens, mit der | |
großen Unbekannten, wer die dortigen Ruinen und die dort lebenden 2,3 | |
Millionen Menschen nach dem Krieg verwalten soll. | |
Der Status Quo beinhaltet auch eine fortgesetzte Ungleichbehandlung der | |
Palästinenser, die in Israel leben und einen israelischen Pass besitzen. | |
Sie machen mittlerweile ein Fünftel der Bevölkerung in Israel aus. | |
Das größte Problem der Beibehaltung des Status Quo: Er war nie nachhaltig | |
für die Palästinenser. Spätestens seit dem 7. Oktober ist auch klar, dass | |
er nicht nachhaltig für die Israelis und deren Sicherheit ist. | |
Dazu kommt, dass der Westen seine Deutungshoheit des Konflikts unter dem | |
jetzigen Status Quo zunehmend verliert. Das beweisen die Abstimmungen in | |
der UN-Generalversammlung. 153 Länder stimmten dort zuletzt für einen | |
Waffenstillstand im Gazastreifen, 10 dagegen, und 23 Länder enthielten | |
sich, darunter Deutschland. Es zeigt sich aber auch an dem von Südafrika | |
angestrengten und vom Internationalen Gerichtshof (IGH) angenommen | |
Verfahren, in dem geprüft wird, ob Israels Vorgehen im Gazakrieg den | |
Tatbestand des Völkermordes erfüllt. | |
Szenario 2: Vertreibung der Palästinenser | |
Das zweite Szenario, das immer wieder von einigen Ministern im ultrarechten | |
Kabinett des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu offen debattiert | |
wird, ist die [7][Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen]. | |
Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale | |
Sicherheit, machen keinen Hehl daraus, dass sie sich die Zukunft Gazas ohne | |
die meisten palästinensischen Einwohner vorstellen. Manche Siedler | |
diskutieren sogar in einem zweiten Schritt deren Vertreibung aus dem | |
Westjordanland. | |
Rein militärisch wäre Israel wahrscheinlich fähig, diese Art von ethnischer | |
Säuberung durchzusetzen. Politisch ist ein solches Szenario allerdings | |
schwer vorstellbar. Zu groß wäre der internationale Aufschrei. Und Israels | |
wichtigste militärische und finanzielle Unterstützer in Washington und | |
einigen europäischen Hauptstädten würden in Bedrängnis geraten und müssten | |
ihre Position überdenken. | |
Szenario 3: Zwei Staaten | |
Das bringt uns zum dritten Szenario, der Zweistaatenlösung, also einem | |
palästinensischen Staat neben Israel. Diese Lösung ist seit zwei | |
Jahrzehnten die offiziell von der EU und der USA geforderte. Sie ist aber | |
in den letzten 20 Jahren zu einem europäischen und amerikanischen | |
Lippenbekenntnis verkommen, einer Art Mantra, die den bisherigen Status Quo | |
begleitet hat. | |
Dabei wollte keine Macht tatsächlich politisch investieren, um diese Lösung | |
gegen Netanjahu durchzusetzen. Denn der hat in seiner Regierungszeit alles | |
daran gesetzt, eine Zweistaatenlösung zu torpedieren, allem voran durch | |
einen massiven Ausbau der nach internationalem Recht illegalen israelischen | |
Siedlungen im Westjordanland. | |
Seit dem Oslo-Abkommen von 1993, das in einem palästinensischen Staat | |
münden sollte, ist die Zahl der Siedler von 264.000 auf 502.000 | |
angestiegen. Blickt man auf eine Karte des Westjordanlandes mit den | |
Siedlungen, den Siedlerstraßen und den militärischen Sperrgebieten Israels, | |
ist kein zusammenhängendes potentielles palästinensisches Staatsgebiet mehr | |
erkennbar. | |
Auch manche Palästinenser sind kritisch gegenüber einer Zweitstaatenlösung. | |
Zwar bekämen sie damit einen eigenen Staat, aber sie müssten ihre | |
nationalen Ambitionen auf das ganze Palästina aufgeben. [8][Sie | |
argumentieren, dass ein solcher Staat auf gerade einmal 22 Prozent ihres | |
ursprünglichen Territoriums gegründet würde.] | |
Trotz vieler Widerstände und der praktischen Frage, ob es überhaupt noch | |
ein ausreichendes Gebiet für eine überlebensfähigen Staat gäbe, hält man | |
international an der Zweistaatenlösung als einzig gangbarem Weg fest. | |
Wirklich denkbar wäre diese nur, wenn zumindest ein Teil der israelischen | |
Siedlungen aufgegeben würde. | |
UN-Generalsekretär Antonio Guterres sagte dazu vor kurzem: „Die | |
Zweistaatenlösung wurde verleumdet, unterminiert, und wurde viele Male für | |
tot erklärt. Es bleibt jedoch die einzige erreichbare, dauerhafte und | |
gerechte Lösung für Frieden in Israel, Palästina und der Region“. | |
Szenario 4: Ein Staat für alle | |
Das vierte Szenario ist die Einstaatslösung, also ein säkularer, | |
demokratischer Staat, in dem Israelis und Palästinenser, Juden, Muslime und | |
Christen gleichberechtigt zusammenleben. Beide Seiten müssten dafür ihre | |
nationalen Ambitionen mit jüdischer oder palästinensischer Identität | |
aufgeben. Es gäbe keinen palästinensischen Staat, aber gleichzeitig auch | |
keinen exklusiv jüdischen mehr. Das wäre auch das Ende der zionistischen | |
Idee in ihrer heutigen Umsetzung. | |
Präsentiert wird diese Idee auf beiden Seiten von einer absoluten | |
Minderheit, meist im akademischen Bereich. Einer ihrer israelischen | |
Vertreter ist der ehemalige Mitarbeiter des israelischen | |
Inlandgeheimdienstes Shin Bet und heutige [9][Philosophie-Professor Omri | |
Boehm]. Sei es besser den Zionismus aufzugeben oder sollte man an einer | |
durch die Vertreibung der Palästinenser befleckten Idee festhalten, fragt | |
er. Er plädierte vor drei Jahren in seiner Streitschrift „Israel. Eine | |
Utopie“ dafür, die Staatlichkeit Israels neu zu denken. Statt von einer | |
Zweistaatenlösung spricht er von einer „israelisch-palästinensischen | |
Föderation – einem Land für beide Völker“. | |
Auch der inzwischen verstorbene prominente palästinensische Intellektuelle | |
und Vordenker Edward Said sprach bereits vor 20 Jahren von der Möglichkeit | |
einer Einstaatslösung, die mit dem Prinzip eines Bürgers einhergehen müsse, | |
bei dem die Rechte und Pflichten geteilt sind. Wenn alle die gleichen | |
Rechte und Privilegien hätten, würden die Dogmen des religiösen | |
Chauvinismus und der nationalen Ideologien für immer verloren gehen, | |
schrieb er. | |
Bei der Einstaatslösung verändert sich einer der bisher grundsätzlichen | |
Wesenszüge des israelisch-palästinensischen Konflikts. Es geht nicht mehr | |
um einen Streit um Territorium, sondern um die grundsätzliche Frage der | |
Gleichberechtigung zweier Völker in einem Staat. | |
Blickt man auf alle vier Szenearien, ist klar, dass sich die ersten beiden, | |
also der Status Quo und die Vertreibung, letztendlich militärische Lösungen | |
sind. Sie stützen sich auf die militärische Überlegenheit Israels und auf | |
die immer mehr schwindende internationale Unterstützung Israels. | |
Die beiden anderen Optionen, die Einstaats- und die Zweistaatenlösung, sind | |
politischer Natur. Sie sind die einzigen Lösungen, die mehr Gerechtigkeit | |
schaffen. Denn eines hat der 7. Oktober mehr als deutlich gemacht: Ohne | |
dass den Palästinensern in irgendeiner Form politisch ihre Rechte | |
zugestanden werden, wird es für Israelis keine Sicherheit geben. | |
8 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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