Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Festival für neue Musik: Klänge im Entschwinden
> Seit 25 Jahren gibt es das Festival Ultraschall Berlin. Jüngere und
> jüngste Musik in der Jubiläumsausgabe reagierte auch auf aktuelle
> Konflikte.
Bild: Dirigentin Lin Liao und das DSO beim Eröffnungskonzert von Ultraschall B…
Berlin taz | „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein / Und das heißt:
Erika“. Diese Zeilen gehören nicht zum Standardprogramm des
Konzertbetriebs, sie stammen aus dem Marschlied „Erika“ des Komponisten
Herms Niel, der Text und Melodie in den dreißiger Jahren im Dienst der
NS-Propaganda schrieb. Zu hören war das Lied am Mittwoch im Haus des
Rundfunks beim Eröffnungskonzert von [1][Ultraschall Berlin]. Wenngleich
lediglich in fragmentierter Form und als Teil eines elektronischen Zuspiels
in der Komposition „Memory Code“ der russischen Komponistin Alexandra
Filonenko.
Filonenko, die in Berlin lebt, hatte für die deutsche Erstaufführung ihres
Orchesterwerks eine neue Fassung erstellt, die vom Deutschen
Symphonie-Orchester Berlin (DSO) unter Lin Liao am Mittwoch uraufgeführt
wurde. Über weite Strecken komponiert Filonenko dabei so heftig ineinander
verschlungene rhythmische Figuren der einzelnen Orchestergruppen, dass man
zum Teil kaum unterscheiden konnte, was gerade auf der Bühne gespielt wurde
und was als Konserve hinzukam.
Ausgenommen das Marschlied, mit dem Filonenko erkennen ließ, dass zu diesem
„Gedächtniscode“ auch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gehört, dessen
Spuren in Berlin noch gegenwärtig sind. Und selbst wenn man in dieses
Stimmendickicht ansonsten kaum hineinkam, sich horchend mehr darum
herumbewegen musste, gab es stets neue Brocken kompakten Klangs, die einen
bereitwillig diesem mahlenden Fluss folgen ließen.
25 Jahre schon gibt es das gemeinsam von den Sendern RBB Kultur und
Deutschlandfunk Kultur veranstaltete Musikfest, in dem die im engeren Sinn
„neue Musik“ einen festen Stammplatz hat. Und auch wenn die akademische
Musik in ihrer Klanglichkeit in der Regel so für sich steht, dass sie gern
„abstrakt“ genannt wird, verarbeitet sie oft sehr konkrete Ereignisse.
„Am Meer“ nennt die ebenfalls aus Russland stammende Olga Rayeva ihr für
Knopfakkordeon und Orchester geschriebenes Auftragswerk von Deutschlandfunk
Kultur, das am Donnerstag ebenfalls im Haus des Rundfunks vom
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski mit dem Solisten
Roman Yusipey uraufgeführt wurde. Eine persönliche Erinnerung an die Stadt
Mariupol, in der Rayeva als Kind, lange vor dem Krieg Russlands gegen die
Ukraine, viel Zeit verbrachte. Geisterhaft wehen isolierte Klangpartikel
vorüber, wie unbeweglich, einige Klänge scheinen zu ersterben, kaum dass
sie begonnen haben. Tönende Trauerarbeit.
Leise, nie wütend
An Trauer lassen auch die Gesten in dem am selben Abend dargebotenen
„Traces of a Burning Mass“ von [2][Farzia Fallah] denken. Die in Teheran
geborene Komponistin wählte die suchenden, vorwiegend leisen, nie wütenden
Klänge unter dem Eindruck der Proteste gegen den gewaltsamen Tod von Mahsa
Amini im Polizeigewahrsam im Herbst 2022.
Weniger direkt an politische Geschehnisse angelehnt ist die Musik des
französischen Komponisten Jean Barraqué. Er galt neben Pierre Boulez als
der wichtigste Vertreter der seriellen Musik, war einige Jahre mit dem
Philosophen Michel Foucault liiert, nach seinem frühen Tod 1973 hinterließ
er ein sehr überschaubares von ihm autorisiertes Werk. Erst 2009 wurde sein
Frühwerk entdeckt, aus dem am Sonnabend im Radialsystem vor allem Lieder zu
hören waren.
Barraqué zeigt sich in diesen oft knappen Stücken stark expressiv und
dramatisch, ob in erweitert tonaler Innigkeit oder mit zerrissenen,
rhythmisch schroffen, dissonanten Attacken. Den Klavierpart übernahm
Michael Wendeberg, der eingesprungen war für den erkrankten Nicolas Hodges,
einen Fürsprecher Barraqués. Als Sängerinnen überzeugten die Sopranistin
Katrin Baerts und die Mezzosopranistin Nina Tarandek.
Die Dreckskerle der Welt
Ein wenig Politik brachte dann der Moderator Rainer Pöllmann von
Deutschlandfunk Kulturins Spiel, als er Barraqué mit dem Satz zitierte:
„Ich glaube, dass die Musik einen davor bewahrt, ein – um es kurz mit einem
sehr groben Wort zu sagen – Dreckskerl zu sein.“ Was Pöllmann nutzte, um
auf die „Dreckskerle“ zu verweisen, die heute in der Welt das Sagen haben.
Ein im unschuldigen Sinn schöner Abschluss folgte am Sonntag, zurück im
Haus des Rundfunks, und noch einmal, wie es bei Ultraschall Berlin für
Anfang und Ende Tradition ist, mit dem DSO, nun unter André de Ridder.
Präzise gestaltete Farbenpracht bot das Klarinettenkonzert von [3][Unsuk
Chin] mit der Solistin Boglárka Pecze. Zu Beginn des zweiten Satzes meinte
man, statt Bläsern eine Glasharmonika zu hören.
Wie man in Klänge und Geräusche von Klavier und Orchester introspektiv
hineinhorcht, ohne ausschließlich stille Momente zu gestalten,
demonstrierte der Komponist Mark Andre mit seinem theologisch fundierten
„Im Entschwinden“, einer Reflexion über die flüchtige Begegnung des
auferstandenen Jesus mit seinen Jüngern. Ein auf spröde Weise sinnliches
Ende ohne Theaterdonner. Hier sprach die Musik, nur für sich.
23 Jan 2024
## LINKS
[1] /Ultraschall-Festival-fuer-Neue-Musik/!5984092
[2] /Verband-der-iranischen-Komponistinnen/!5925910
[3] /Neue-Musik-aus-Berlin/!5976189
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Neue Musik
Kultur in Berlin
Musik
Festival
Musik
Schwerpunkt Stadtland
Wochenvorschau
taz Plan
taz Plan
Schwerpunkt Stadtland
Litauen
Portugal
## ARTIKEL ZUM THEMA
Starker Auftakt des Musikfestes Berlin: Reisen durch die Amerikas
Das São Paulo Symphony Orchestra wuchtete amerikanische Musik der Moderne
nach Berlin. Die São Paulo Big Band wurde ebenso enthuasistisch beklatscht.
Flashmob des Symphonie-Orchesters: Halleluja Unterhosen
Auch in der klassischen Musik will man dort hin, wo halt die Menschen sind:
Das Deutsche Symphonie-Orchester lud zum „Symphonic Mob“ in eine Mall.
Die Wochenvorschau für Berlin: Weite Felder, die bespielt werden
Es ist eine Woche der Jubiläen: Vor 10 Jahren entschied sich Berlin gegen
eine Bebauung des Tempelhofer Felds, das Grundgesetz wird 75. Und gekickt
wird auch.
Neue Musik aus Berlin: Musik für Unschlüssige
Auf „Under the Sun“ verdichtet Maya Shenfeld Oboe und Blockflöte mit
elektronischen Klängen. Und erweitert dabei ihre besondere Art der
Drone-Musik.
Konzerttipps für Berlin: Herzlichen Glückwunsch!
Erweiterte Vokaltechnik, der heutige Stand der Improvisation und ein (fast)
doppeltes Jubiläum in einem Konzert stehen diese Woche auf dem Programm.
Ultraschall-Festival für Neue Musik: Zerrissenes Stückwerk
Zeitgenössische Musik sollte sich auch der Zeitgeschichte stellen. Beim
Berliner Ultraschall-Festival für Neue Musik ist davon einiges zu hören.
Musikszene Litauens: Spirit der Community
Rumoren in den Nischen: Ein Streifzug durch die vielstimmige Musikszene der
litauischen Hauptstadt Vilnius.
Avantgarde-Festival auf Madeira: Wanderung in zerklüftetem Terrain
Das Festival „MadeiraDig“ hat die portugiesische Atlantikinsel zum großen
Labor für experimentelle Musik gemacht. Ein Augenschein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.