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# taz.de -- Flashmob des Symphonie-Orchesters: Halleluja Unterhosen
> Auch in der klassischen Musik will man dort hin, wo halt die Menschen
> sind: Das Deutsche Symphonie-Orchester lud zum „Symphonic Mob“ in eine
> Mall.
Bild: Einkaufszentrum als Konzerthaus: Symphonic Mob in der Mall
Man hängt gelangweilt rum auf dem Bahnhof und wartet auf den Anschlusszug,
und plötzlich packt einer eine Violine aus und fidelt darauf wie der
Teufelsgeiger Paganini persönlich. Ein Typ kommt hinzu, stimmt in das
Gegeige ein mit einem Bariton wie Dietrich Fischer-Dieskau, und man fragt
sich in diesem komplett überraschenden Moment, so wie alle sich das in dem
Bahnhof fragen: Was passiert hier eigentlich gerade? So ungefähr läuft das
bei Flashmobs mit Musikdarbietungen, die ziemlich oft im Bereich der
Klassik angesiedelt sind. Zig viral gegangene Handyaufnahmen zeugen davon.
Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin hat sich vor zehn Jahren [1][ein
vergleichbares Flashmob-Konzept] ausgedacht, das vergangenes Wochenende mal
wieder aufgeführt wurde. Eines im XXL-Format. Nicht nur ein
kammermusikalisches Trio sorgte hier bei Besuchern und Besucherinnen
[2][einer Mall am Potsdamer Platz] für Erstaunen, sondern gleich ein ganzes
Orchester. Besser gesagt: das größte Orchester Berlins, Profis gemeinsam
mit Laien, plus Chor und einer Harfe. Über 1.000 Menschen sollen es gewesen
sein, die hier gemeinsam Gassenhauer der Klassik wie das Trinklied aus
Verdis „La Traviata“ oder Händels „Halleluja“ vorgetragen haben.
In Japan wird einmal im Jahr die „Ode an die Freude“ aus Beethovens Neunter
von zehntausend Menschen in einem Stadion geschmettert, das ist noch einmal
eine ganz andere Gigantomanie. Aber tausend Bläser, Streicher und
Triangelspieler sind auch ganz ordentlich. Da kamen also so manche
Mall-Besucher direkt vom Unterhosenkauf im H&M und plötzlich schmetterte
ihnen aus zig Kehlen und einem gewaltigen Klangkörper voller Inbrunst
entgegen: „Halleluja“.
## Das Orchester von nebenan
„Symphonic Mob“ nennt das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin diese
Aufführungspraxis, bei der es sich nahbar, lässig und unprätentiös zeigt.
Also genau so, wie solche Orchester in der Vorstellung vieler, die es
sowieso nicht so mit Klassik haben, eigentlich überhaupt nicht sind. Raus
aus den steifen Konzertsälen, hin zu den Menschen in ihrem natürlichen
Habitat, der Shopping-Mall, das ist die Grundidee für die Symphonic Mobs,
die in Berlin erfunden wurden und längst auch anderswo durchgeführt werden.
Kulturpessimisten mit Hang zum Konservatismus würden vielleicht einwenden:
Mit einer derartigen Darreichungsform wird das hohe Gut [3][klassische
Musik] verramscht wie ein Paar Socken auf dem Wühltisch in einem der
Klamottenläden in der Mall. Doch der Klassikbetrieb, möchte er nicht
zunehmend erstarren, ist darauf angewiesen, ein Publikum zu erreichen, das
nicht nur aus ein paar honorigen Dauerkartenbesitzern im gesetzten Alter
besteht. Dafür geben selbst die renommiertesten Orchester ihre
Casual-Konzerte und dafür lassen auch altehrwürdige Klassikplattenfirmen
Vivaldis „Vier Jahrezeiten“ von einem DJ remixen.
Und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin gab wirklich alles, um das
lästige Image des Elitären abzustreifen. Selbst die beiden Solosänger, die
auftraten und eindeutig keine Laien waren, trugen Turnschuhe und überhaupt
das genaue Gegenteil einer typischen Garderobe für gehobene Anlässe.
## Irgendwie zufriedene Menschen
T-Shirts, die die Daten der bisherigen Symphonic-Mob-Auftritte auf dem
Rücken zeigen, so wie Rockband-T-Shirts Tourdaten, wurden verschenkt,
genauso wie Äpfel, auf die das Logo des Orchesters mit den drei Buchstaben
DSO geprägt wurde. Mehr Ranschmeiße war also kaum vorstellbar.
Trotzdem wirkte der Flashmob nicht so, als wären hier gestandene Profis mit
Allüren bloß von der nervigen PR-Abteilung dazu gezwungen worden, eine
Weile lang ihre eigene Würde zu verletzen, indem sie mit ein paar
Laien-Spielern vor dem Shopping-Pöbel auftreten mussten.
Man blickte vielmehr in irgendwie zufriedene Gesichter in dem Orchester,
und das Publikum mit den Einkaufstaschen in den Händen wirkte genauso
beglückt wie die DSO-Dirigentin Anna Skryleva, die den ganzen Spaß in der
Mall anleitete. Damit hat sich der Symphonic Mob ein „Halleluja“ wirklich
verdient.
2 Jun 2024
## LINKS
[1] https://www.dso-berlin.de/de/mitmachen/fuer-alle/symphonic-mob/
[2] /Konsumkultur-in-Slowenien/!5942074
[3] /Neue-Musik-aus-Berlin/!6006119
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
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Konzert
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