| # taz.de -- Wahlhelfer bei der Europawahl: Die Zettel in einem wirbelnden Tanz | |
| > Die einen geben ihre Stimme ab, und die anderen zählen sie. So | |
| > funktioniert Demokratie. Es ist ein Freiwilligendienst, der auch zur | |
| > Demutsübung wird. | |
| Bild: Jetzt muss nur noch gezählt werden | |
| Manchmal [1][tut Demokratie weh]. Nicht körperlich, solange sich niemand am | |
| Stimmzettel schneidet. Aber einen viel tieferen Schmerz verursacht es, | |
| [2][als Wahlhelfer beim Sortieren live] zu erleben und sogar dazu | |
| beizutragen, dass der Haufen mit den gültigen rechtsradikalen Voten wächst, | |
| so, wie er es hier im Bremer Osten bei der Europawahl tut. Und er wächst. | |
| Und wächst. | |
| Das tut in der Seele weh. Es verdirbt an diesem Abend ganz offenkundig die | |
| Laune von sieben Achteln des Teams. Der Achte verbirgt seine klammheimliche | |
| Freude nur unzureichend. Für die anderen wird aus dem Freiwilligendienst am | |
| staatlichen System eine Demutsübung, die schwieriger zu ertragen ist als | |
| die Teilnahme an einer Bußprozession. | |
| Dabei ist die Tätigkeit als Wahlhelfer eine schöne Freizeitbeschäftigung. | |
| Es ist möglich, sich total gut zu fühlen. Es bedeutet, [3][der Demokratie | |
| einen ganzen Tag zu opfern]! Und zwar hast du dich um 7.15 Uhr einzufinden! | |
| Also vor 7 Uhr aufstehen! Am Sonntag! Das Amt spricht die Helfer*innen | |
| daher konsequent als Wahlheld*innen an. | |
| Die meisten sind anfangs auch noch etwas müde. Und alle sind rat- und | |
| planlos, was nun wie zu geschehen hat. Besonders der eigens geschulte | |
| Wahlraumvorsteher. In diesem Fall ist unser Wahlsuperheld männlich, eher | |
| Ende 40, ein bisschen spillerig und ausgesprochen redselig. Die Superkraft | |
| „Delegieren“ ist seine nicht. | |
| Jetzt müsste es darum gehen, den Klassenraum in ein Wahllokal zu | |
| verwandeln. Die Utensilien müssten ausgepackt, die Wahlkabinen | |
| zusammengebastelt werden. Wird die Urne nun versiegelt? Und wohin kommt am | |
| zweckmäßigsten die Stimmzettelausgabe? Ah, da ist die Braille-Schablone. | |
| Gut. Könnten wir den Zettel auch dorthin …? Und das mit der Urne, ob die | |
| jetzt versiegelt wird …? Warum fehlt eigentlich das Klebeband? Und: Wird | |
| die Urne nun versiegelt oder nicht? Während also der Zeiger der Uhr | |
| voranschreitet und die Unruhe wächst, ob der Wahlvorsteherstellvertreter | |
| noch erscheint – er schwänzt! –, fügt sich die Gesamtheit der Requisiten … | |
| einer tipptopp gesetzkonformen Ordnung. Die Wahlurne wird abgeschlossen, | |
| nicht versiegelt. | |
| Es ist immer alles wie beim ersten Mal. Und wahrscheinlich bewirkt diese | |
| Hektik am Anfang genau den Adrenalinschub, der nötig ist, um Punkt 8 Uhr | |
| richtig wach zu sein und den restlichen Wahltag im leichten Kreide- und | |
| Teenspirit-Mief gelassen zu durchdämmern. Denn es passiert ja fast nichts. | |
| Die Beteiligung hier liegt deutlich unter 50 Prozent. Oft ist außer dem | |
| Helfer*innenteam niemand da. Das Tafelbild verrät, dass hier Erdkunde | |
| unterrichtet wird, aber auch Spanisch. Unten im Regal stehen Bücher, 20-mal | |
| John Krakauers „In die Wildnis“. Vielleicht hätte man sich einen Pulli | |
| anziehen sollen. | |
| Jetzt was lesen wäre auch gut. Aber immer dann, wenn angesichts der Leere | |
| das E-Book wieder aufgerufen und der Satz gefunden ist, an dem die Lektüre | |
| – in diesem Fall Marcel Proust – unterbrochen wurde, weil jemand kam, kommt | |
| jemand: Guten Tag, ja dann zeigen Sie doch mal her, nein, einen Ausweis | |
| brauchen wir hier nicht, die Wahlbenachrichtigung reicht uns schon, die | |
| Nummer da, Strich null eins, ja, da sind Sie bei uns richtig, und hier ist | |
| schon Ihr Stimmzettel, suchen Sie sich eine Kabine aus, Sie haben die freie | |
| Wahl … | |
| Und dann kommt das Schönste. Nach der Lokalschließung um 18 Uhr fällt alle | |
| aufgestaute Trägheit ab. Wie aus einem magischen Schlaf erwacht, schieben | |
| die Helfer*innen in Windeseile Tische zusammen, damit die gefalteten | |
| Stimmzettel aus der Urne dort Platz finden und in Zehnerstapeln | |
| zusammengefasst werden können. Die dann wieder, jeder nimmt sich einen, | |
| aufgelöst und mit rascher Bewegung entfaltet werden, ratsch! 75 Zentimeter | |
| lang sind die Bögen! Nun sind sie zu prüfen und in einem wirbelnden Tanz | |
| durch den Raum dorthin zu tragen, wo die gleichartigen Voten liegen. Das | |
| ist, und du nimmst daran teil!, ein euphorischer Moment, in dem das Neue | |
| entsteht. | |
| Und dass es dann so scheiße ist, wie es ist: Das ist der Schmerz. | |
| 14 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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