# taz.de -- Essen beim Sommerfestival Kampnagel: Man ist, was man isst | |
> Es ist eine Performance wirklich für alle Geschmackssinne. Beim | |
> Kampnagel-Sommerfestival in Hamburg darf man mit einem Sternekoch indisch | |
> essen. | |
Bild: Influencer und Sternekoch: Suvir Saran | |
Es ist kurz vor 21 Uhr auf Kampnagel. Mit meinem 14-jährigen Sohn und | |
meinen Freund*innen S. und I. gehe ich zum Pop-up-Restaurant von Suvir | |
Saran. „5,7 Millionen Follower“, sagt der Teenager. „Sternekoch aus | |
Indien“, sagen wir Erwachsenen. „Performance/Essen“, sagt die | |
[1][Kampnagel-Websit]e. Was denn nun? Performance oder Essen? Vermutlich | |
schafft das nur das internationale Produktionshaus Kampnagel Hamburg, die | |
Verköstigung in einem Pop-up-Restaurant als Performance zu labeln. | |
Schließlich findet sie im Rahmen des diesjährigen Sommerfestivals statt. | |
Warum aber auch nicht? Immerhin strebt eine Performance – anders als eine | |
klassische Theateraufführung – eine Realerfahrung an (hier das indische | |
Essen), womöglich sogar die völlige Aufhebung der Grenzen von Kunst und | |
Wirklichkeit (bei einem Sternekoch wohl selbstverständlich). | |
Am Eingang eines kleinen Zirkuszelts begrüßt uns Suvir Saran. Sechs im | |
Halbkreis aufgestellte Tische sind eingedeckt. Leider mit Plastiktellern | |
und künstlichen Kerzen. Das gibt Minuspunkte in Sachen Ästhetik, die doch | |
in der Performancekunst ein wesentlicher Teil des Wirklichen ist. | |
Auf der Getränkekarte wird indisches Bier angeboten, Wasser, trockener | |
Weißwein und Champagner. Letzterem widmet der Chef de Cuisine des | |
kooperierenden indischen Restaurants Authentikka eine Hymne. Zu gut passe | |
dieser vollmundige Champagner zur indischen Küche und auch in die momentane | |
Zeit der Perseiden. Man „trinke Sterne“, schwärmt er, und man kommt sich | |
dann schon recht roh und niveaulos vor, wenn man zum Essen nur den Weißwein | |
bestellt. | |
Immerhin gibt es ein Glas Champagner aufs Haus – „in großen Schlucken | |
trinken“, rät meine Freundin I. | |
## Zuerst eine frittierte Brotkugel | |
Suvir Saran führt durch den Abend. Charmant stellt er die Musiker*innen | |
Marina Ahmad (Gesang) und Manao Doi (Gitarre) vor. Gibt einen kurzen | |
Einblick in das komplizierte Notensystem der klassischen indischen Musik | |
und in ihre für westeuropäische Ohren meditative Fremdheit, und dann geht | |
es los: „You are what you eat“, ruft er uns aufmunternd zu und kündigt den | |
ersten Gang als „flavour bomb“ an. | |
Es ist Aavo Pani Puri, eine kleine frittierte Brotkugel, gefüllt mit | |
Granatapfelkernen und Avocado. Hineingeben soll man etwas von der dazu | |
gereichten Vinaigrette, die mit Koriander, Basilikum, Limette, Chili und | |
Knoblauch alle, wirklich alle Geschmackssinne weckt. Sarans Regieanweisung: | |
die Brotkugel ganz in den Mund stecken, kauen und dabei sein Gegenüber im | |
Blick behalten. Denn bei diesem „fun ride“, verspricht er, „a lot of drama | |
will happen“ und „your eyes will turn“. Tatsächlich, der erste Akt. Eine | |
Geschmacksexplosion! Eine Gesichtsentgleisung! | |
„Be simple, be smart, love each other“, propagiert Saran und begleitet die | |
nachfolgenden Gänge mit Ausführungen zu seinen überwiegend | |
Street-Food-basierten Künsten. „You are what you eat“ und „Seduction“ … | |
zentrale Themen, und spätestens nach dem sehr köstlichen, gut scharfen | |
„Edamame Pao Bhaati“ ist allen ziemlich heiß. Beim Nachtisch erfahren wir, | |
dass „Rice Pudding“ (S. zuliebe nennen wir es nicht Milchreis, den hasst | |
er) üblicherweise die erste feste Nahrung ist, die ein indisches Kind zu | |
sich nimmt. Leider verklärt Saran abschließend noch Indiens Demokratie, | |
dabei steht der frisch gewählte Ministerpräsident [2][Narendra Modi] in der | |
Kritik, ebendiese auszuhöhlen und das Land zu einem hindunationalen Staat | |
umzubauen. Saran lebt schon lange in New York, wo er als erster indischer | |
Koch in den USA mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde. | |
„Statt Werke zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, | |
in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten involviert sind“, | |
schreibt die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte zur | |
Performativität in den Künsten. Wenn man will, ist auch ein | |
Pop-up-Restaurant eine Öffnung des Theaterraums, in dem Akteur*innen und | |
Zuschauer*innen gleichermaßen Teil des Geschehens, des Ereignisses | |
werden. Sinnlich, emotional und geistig – beziehungsweise kulinarisch. | |
21 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://kampnagel.de/reihen/internationales-sommerfestival-2024 | |
[2] /Parlamentswahl-in-Indien/!6011806 | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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