# taz.de -- Die Kunst der Woche: Auf Streifzug | |
> Sarah Entwistle verarbeitet Eisenschrott, Madeleine Roger-Lacan schneidet | |
> Stücke aus der Leinwand und Klaus Ewering ist mit analoger Kamera | |
> unterwegs. | |
Bild: Blick in Sarah Entwistles Ausstellung bei Barbara Thumm | |
Die Arbeiten von Sarah Entwistle haben Titel, die gleich ganze Geschichten | |
versprechen: „So, you and I have come full circle. Do you accept the | |
unending?“ (2023) bezeichnet eine Installation aus einem an einer | |
Eisenschiene aufgehängten bedruckten Baumwolltuch und davor am Boden | |
platzierten Bronzeskulpturen von rätselhafter Form. Eigentlich handelt es | |
sich um objets trouvés. Es sind als überschüssig entsorgte | |
Bronzeguss-Armaturen aus Gießereien, die die Künstlerin bei ihren | |
Streifzügen über die Müllkippen genauso gefunden hat wie den Eisenschrott | |
aus Abbruchhäusern, den sie in ihren Arbeiten einsetzt. | |
„When we first met we had such a good time together. Why are you still so | |
afraid?“ (2023) zeigt wiederum ein bedrucktes Baumwolltuch an einer | |
Eisenschiene. Dieses Mal ist es gerafft, und daneben hat die Künstlerin ein | |
schlaffes, in sich geknicktes Schlauchstück über eine dünne Eisenstange | |
gehängt. Der Schlauch ist jedoch nicht, wie man erwarten könnte, aus Gummi | |
oder ein zerdrücktes Eisenrohr, sondern aus Keramik. Ein weiteres kurzes | |
Stück Schlauch liegt auf dem Boden über einem T-förmigen Eisen. Neben dem | |
Spiel mit den Titeln, die – ein bisschen versponnen, dabei gleichermaßen | |
ironisch wie poetisch – die Installationen auf anregende Weise sprachlich | |
widerspiegeln, fällt das Spiel mit den Materialien auf. | |
Sarah Entwistle beherrscht es mit so raffiniert, dass man oft kaum zu | |
entscheiden vermag, ob eine Form aus Bronze, Eisen oder Keramik ist, auch | |
und gerade weil die Form an andere Materialien denken lässt, sei es an | |
Holz, weil ein dünnes Bronzerohr zunächst als Ast gesehen wird, sei es an | |
Kautschuk, weil die schlaffe lange Hohlform eben an einen dicken | |
Gummischlauch erinnert. | |
Die Tücher als Wandarbeiten lassen an die Bilder der kameralosen Fotografie | |
denken, an Fotogramme von Man Ray oder Laszlo Moholy-Nagy. Tatsächlich | |
stammen die Muster von Entwistles Textil-Collagen teils von bereits | |
benutzten Transferbögen wie man sie in der Architektur verwendet. Die | |
Assoziation liegt nahe. | |
Sarah Entwistle stammt aus einer Künstlerfamilie seit mehreren | |
Generationen. Den Titel ihrer jetzt zweiten Ausstellung bei [1][Barbara | |
Thumm] „What was I aiming for? In my next life to be a great singer, and | |
the life after to be a writer, and so on and so on …“ fand sie in Briefen, | |
die ihre Urgroßmutter an ihren Sohn, also Sarah Entwistles Großvater, | |
schrieb. | |
Die Urgroßmutter Florence Vivienne Entwistle war tatsächlich ausgebildete | |
Sängerin, arbeitete aber nach ihrer Heirat mit dem Künstler Ernest | |
Entwistle als Miniaturmalerin und Fotografin. Ihr Sohn Clive arbeitete | |
schon mit 21 Jahren mit Le Corbusier zusammen, später ging er in die USA, | |
wo ein eigenes Architekturbüro unterhielt und an der University of | |
Pennsylvania unterrichtete. Sein Nachlass ging an Sarah Entwistle, die | |
selbst Architektur studierte und als Architektin arbeitete, bevor sie sich | |
als Künstlerin etablierte. | |
Entwistle nutzt das Archiv ihres Großvaters, dem sie nie begegnet ist, als | |
Ressource, dessen haptische, materielle Qualitäten sie als Referenz oder | |
als Rohmaterial ebenso verwendet wie seine immateriellen Intentionen, | |
Ideologien und geschlechtsspezifischen Narrative, mit denen sie sich | |
kritisch auseinandersetzt, wobei ihr Interesse – wie bei Barbara Thumm so | |
überzeugend zu sehen – konträr zur architektonischen Regelhaftigkeit und | |
Ordnung ganz offensichtlich Fragmentierung, Abstraktion, Farbe, | |
Transparenz, Undurchsichtigkeit und offenen Formen gilt. | |
## Nur keine Heiligkeit | |
Mit dem Material spielt auch Madeleine Roger-Lacan in ihrer ersten | |
Ausstellung bei [2][Eigen + Art]. Die 1993 geborene Künstlerin, | |
Meisterschülerin von Tim Eitel an der Ecole Nationale des Beaux Arts in | |
Paris, schneidet auch mal aus dem 150 mal 200 Zentimeter messenden „Pink | |
bedroom“ (2023) ein Rechteck heraus, so dass die metallene Halterung der | |
Leinwand sichtbar wird, um dahinter das Bild eines sich küssenden Paares zu | |
platzieren. | |
Ist ihr hier etwas missraten, das sie, anstatt es zu übermalen, einfach | |
ausgeschnitten hat? Oder wollte sie den Eindruck eines Fensters, einer Art | |
Bildschirm oder eines Plakats an der Wand erwecken? Vielleicht ist der | |
Ausschnitt auch nur ein Spiegel, in dem sich das Paar sieht? Denn das ist | |
der Blick in den Raum, den uns Madeleine Roger-Lacan zeigt: Im Bett liegend | |
schaut sie über den eigenen Körper, der unter der Bettdecke zu erahnen ist, | |
ihre Füße und eine Reihe von Stofftieren hinweg auf die Wand. Doch wo ist | |
der Körper des männlichen Parts? | |
Überhaupt liebt die Künstlerin nicht nur Bilder im Bild, sondern eben auch | |
echte oder auch nur gemalte Risse und Einschnitte, mit Blick auf die | |
darunter liegende Ebene. So etwa in „The horny studio“ (2023), wo sich die | |
Tapete runterwellt und dahinter ein Gesicht und eine Katze sichtbar werden. | |
Das große Gemälde an der Studiowand begegnet einem dann in echt, sobald man | |
die Treppe bei Eigen + Art heruntergeht, es hängt links an der Wand und | |
heißt dem Motiv entsprechend „Hand in mouth“ (2023). | |
Manchmal klebt Roger-Lacan auch Dinge auf die Leinwand wie bei „Girl and | |
death“ (2023) an der Stirnwand. Sie tut es eher zurückhaltend, aber mit der | |
deutlichen Absicht, die Leinwand nicht als sakrosankt zu verklären. Sie ist | |
Arbeitsfläche, auf der sich die Künstlerin ausprobiert und es sich erlaubt, | |
Stil und Duktus zu wechseln. Mal findet sie ihr Motiv nur mit Farbe und | |
Pinselstrich, dann arbeitet sie wieder mehr zeichnerisch, und man glaubt | |
ein wenig Matisse, vor allem aber Cocteau zu erkennen, in den griechischen | |
Profilen und den kreisrunden roten Wangen, die sie ihren Protagonisten | |
unter die Augen setzt. | |
Und weil die Leinwand nur Arbeitsfläche ist, kann Madeleine Roger-Lacan | |
auch einfach auf die Wand malen, die taugt genauso. Als Wandmalerei ist das | |
Bild „Lay down with me“ (2024, das der Ausstellung ihren Titel gibt, eine | |
weitere Referenz an die Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Als Szene ist es | |
freilich ganz im Hier und Jetzt angesiedelt, mit dem TGV, der durch das | |
Bild rast und der darunter geschriebenen Frage, „Where should we get | |
married? At church? Or at the synagoge?“ Die Antwort lautet „neither? Can I | |
be a polygamist?“. Ja, Madeleine Roger-Lacan sollte, was die Bildende Kunst | |
betrifft, noch eine Weile polygam leben, Stile, Medien und Materialien | |
ausproben und wechseln. Sie macht das schon sehr gut, es wird interessant | |
bleiben. | |
## Im analogen Blickwinkel | |
Die Fotos scheinen Klassiker zu sein. Man müsste sie eigentlich kennen, | |
diese Schwarz-Weiß-Aufnahmen, mit dem Blick von unten auf die | |
Eisenkonstruktion einer Brücke, mit der endlosen Reihe von Thonet-Stühlen, | |
die gestapelt an der Wand hängen, mit dem Muster der ineinander gelegten | |
Kehrbleche. Doch man kann sie nicht kennen. Klaus Ewering hat sie in den | |
Jahren 2021 und 2022 fotografiert. Offensichtlich kennt er die Fotografie | |
der Neuen Sachlichkeit und des Neues Sehens aus dem Effeff. Nicht nur | |
motivisch, sondern auch technisch. | |
„blende auf!“, seine Ausstellung bei [3][Streulicht], einer vor acht | |
Monaten neu eröffneten Fotogalerie in Schöneberg, legt im Untertitel Wert | |
darauf, dass es um „analoge Fotografie in s/w“ geht. Und damit um die Wahl | |
des Films mit seiner jeweils spezifischen Lichtempfindlichkeit. Deren | |
Einsatzmöglichkeiten muss man kennen, nicht jedes Motiv lässt sich mit | |
jedem Film adäquat fotografieren. Das gilt auch für die Kamera, auch sie | |
kann der Situation mal mehr mal weniger geeignet sein, je nachdem, ob sie | |
auf ein Stativ gestellt und eingestellt werden muss oder ob sie klein und | |
handlich für den genialen Schnappschuss taugt. | |
Wie der analoge Fotograf dann das Motiv fokussiert, wie sich die | |
unterschiedliche Entfernung, der unterschiedliche Blickwinkel und der | |
variierende Bildausschnitt dann auf die Aufnahme auswirken, das kann er | |
nicht auf dem Display sehen, das es nicht gibt, er muss es sich vorstellen. | |
Und dann sollte der Fotograf, der analog in s/w arbeitet auch das Handwerk | |
der Dunkelkammer beherrschen, die Entwicklung der Filme und die Herstellung | |
der Abzüge. | |
Das hat Klaus Ewering im zweiten Semester seines Kunststudiums gelernt wie | |
er im Text zur Ausstellung schreibt. Denn er selbst ist der Kurator seiner | |
Schau. Streulicht ist so etwas wie eine Anti-Galerie. Denn ihre Betreiber, | |
die freiberuflichen Fotografen Thilo Hertwig und Bodo Mertoglu, haben für | |
den kleinen Ausstellungsraum ein interessantes, aber auch etwas aufsässiges | |
und entsprechend riskantes Konzept: Sie vermieten den Raum und halten sich | |
ansonsten aus allem heraus. | |
Wer also meint, Arbeiten zu haben, die die Kosten einer Ausstellung wert | |
sind, kann sie hier präsentieren. Im Gegensatz zum üblichen Galeriekonzept | |
möchten Hertwig und Mertoglu mit Streulicht eben eine Galerie für jedermann | |
sein, oder fast für jedermann. Denn natürlich werden auch Anfragen | |
abgelehnt. Trotzdem, die Qualität der Ausstellungen variiert. Man muss | |
nicht, aber man kann Entdeckungen stoßen. Klaus Ewering macht mit seinen | |
Bildern unbedingt Freude, etwa mit der Aufnahme eines Stromabnehmers in der | |
Rue des Braves in Marseille, die an das Spätwerk von Graciela Iturbide | |
erinnert. | |
20 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://bthumm.de/ | |
[2] https://eigen-art.com/ausstellungen/aktuell/madeleine-roger-lacan-lay-down-… | |
[3] https://www.streulicht.berlin/ | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
## TAGS | |
Kunst Berlin | |
Berliner Galerien | |
zeitgenössische Fotografie | |
taz Plan | |
Zeitgenössische Malerei | |
Berlin Ausstellung | |
Kunst | |
Textile Kunst | |
Künste | |
Skulptur | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
Rauminstallation | |
Berliner Galerien | |
taz Plan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Kunst der Woche: Figur und Mythologie | |
Bad Boy Painting mit Zhao Gang. Kate Moss erscheint ganz anders im Bild. | |
Und Josephine Baker ist als Bühnenstar und politische Akteurin zu erleben. | |
Die Kunst der Woche: Bedeutend im Bild | |
Leanne Shapton malt Alltägliches und übersetzt es in neue Situationen. | |
Isabell Heimerdinger nähert sich postkolonialen Lücken und Fragmenten. | |
Die Kunst der Woche: Hagebuttentee und eingekochte Äpfel | |
Pegasus Product fühlen sich bei Georg Nothelfer in Vögel ein. Silke Schatz | |
spürt bei Meyer Riegger einem verschwindenden Dorf nach. | |
Die Kunst der Woche: Sich selbst im Bauch | |
Angespülte Fische, verschmolzene Architekturen und knallende Skulpturen: | |
die Installationskünstlerin Elisa Duca zieht Räume und Welten zusammen. | |
Die Kunst der Woche: Happy Winter Escape | |
Eigenwillig und begeistert macht sich die Karen Kilimnik bei Sprüth Magers | |
auf zum Strand. Im Haus des Papiers werden derweil Trinkhalme gereicht. | |
Die Kunst der Woche: Körper, Teile, Stoffe | |
Textiles am Rosa-Luxemburg-Platz: Bei BQ stülpt Leda Bourgogne ihr Inneres | |
nach außen. Bei Mountains zieht Sophia Domagała Raster aus Linien und | |
Fäden. |